Über Tödliche PreiseGeheime Absprachen und für Millionen Menschen unerschwingliche Medikamente. Diese Recherche gibt Einblick in das geheime System der Arzneimittelpreise in Europa und enthüllt eine Welt undurchsichtiger Absprachen und ungleichen Zugangs.
Dieser Artikel erschien in leicht gekürzter Form auch bei unseren Medienpartnern Süddeutsche Zeitung und tagesschau.de
Die Spaten waren so rot wie die Parteibücher derjenigen, die im April 2024 in einen großen Sandhaufen in Rheinland-Pfalz stachen. Als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Malu Dreyer (SPD), die damalige Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, mit den Spaten symbolisch den Bau eines neuen Werks des US-Pharmakonzerns Eli Lilly im rheinhessischen Alzey begingen, war die Begeisterung groß. Während die Republik über Lieferengpässe für Arzneimittel und die Verlagerung der Medikamentenproduktion nach Fernost debattierte, konnte die Regierung einen nagelneuen Produktionsstandort eines Pharmaunternehmens feiern. Das war ein Coup, für den die Politprominenz gerne die Spaten schwang.
Doch schon damals kam der Verdacht auf, dass hinter der Entscheidung Eli Lillys für ein Werk in Alzey womöglich ein geheimes Gegengeschäft steckte. Denn kurz zuvor hatte Gesundheitsminister Lauterbach sein Medizinforschungsgesetz (MFG) auf den Weg gebracht. Dieses Gesetz erhielt den für ein Forschungsgesetz seltsamen Passus, dass Pharmaunternehmen künftig die Preise, die sie für ihre neuen Arzneimittel von den Krankenkassen erstattet bekommen, geheim halten könnten. War dieses Gesetz also eine „Lex Lilly“, mit dem die Regierung dem Konzern, der von einer solchen Regelung mehr als seine Konkurrenten profitieren würde, für seine Investition entgegenkam? Die Bundesregierung bestritt das vehement.
Konkret geht es um die deutsche Preisregulierung für die Pharmaindustrie, von der ganz Europa abhängig ist: Wenn in Deutschland ein neues Medikament auf den Markt kommt, dürfen Pharmakonzerne zunächst den Preis frei wählen. Erst nach einem Jahr bewertet ein Gremium aus Vertretern von Ärzten, Krankenkassen und Kliniken, der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) den Wert des neuen Medikaments. Kommen Sie zum Ergebnis, dass das neue Präparat keinen belegten Zusatznutzen gegenüber bisher verfügbaren Therapien hat, muss der Pharmakonzern einen Rabatt gewähren, der oft mehr als 50 Prozent beträgt. Dieser deutsche Rabattpreis ist bisher öffentlich einsehbar – und hat Auswirkungen weit über die Grenzen hinaus.
Denn viele andere europäische Länder wollen dann auch einen entsprechend hohen Rabatt von den Pharmafirmen. Wenn das nun künftig nicht mehr möglich ist, drohen vielen EU-Staaten steigende Pharmapreise.
Dass es entsprechende Forderungen von Eli Lilly und Zugeständnisse der Regierung aber tatsächlich gab,
bestätigen jetzt interne Dokumente, die Investigate Europe und seinen
Medienpartnern Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR vorliegen.
Das Rechercheteam hatte die Akten zum MFG nach dem Informationsfreiheitsgesetz bereitsim Dezember 2023 angefordert, aber erst im September vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) erhalten, nachdem Investigate Europe wegen Untätigkeit Klage eingelegt hatte. Darum wird der Inhalt der Akten erst jetzt bekannt, nach der Verabschiedung des Gesetzes in Bundestag und Bundesrat. Das verhinderte, dass die brisanten Aussagen daraus in der Debatte darüber zur Sprache kamen. In einem Dokument vom 13. September 2023 etwa hält das Referat 117 des BMG fest: Es „kann dem CEO von Eli Lilly Dave Ricks mitgeteilt werden, dass das BMG dem Wunsch von Eli Lilly nachkommt und im Rahmen des MFG plant, vertrauliche Rabatte für den Herstellerpreis zu ermöglichen.“ “Es kann dem CEO von Eli Lilly Dave Ricks mitgeteilt werden, dass das BMG dem Wunsch von Eli Lilly nachkommt und im Rahmen des MFG plant, vertrauliche Rabatte für den Herstellerpreis zu ermöglichen.”
— Vermerk des Gesundheitsministeriums, 13. September 2023
Das war offenkundig das Ergebnis anhaltender Lobbyarbeit durch den Konzern. So hatte die Firma laut dem Dokument schon Wochen zuvor in einem Gespräch mit einem Abteilungsleiter im BMG „darüber informiert, dass die Investition einen niedrigen einstelligen Milliardenbetrag umfasse“. Den Notizen des Abteilungsleiters zufolge hat die Firma unmissverständlich klargestellt: „Eli Lilly knüpft seine Investitionsentscheidung an die Zusage der Bundesregierung vertrauliche Rabatte bei innovativen Arzneimitteln zu ermöglichen.“ Im November 2023 wird dem „Herrn Minister“ mit Vermerk „EILT SEHR!“ noch einmal ein Schriftstück vorgelegt: „Befürworter einer solchen Regelung ist insbesondere die Firma Lilly, die ihre Investitionsentscheidung in Alzey an einen in Aussicht gestellten vertraulichen Erstattungsbetrag geknüpft hatte.“
Mit den Zitaten aus den Akten konfrontiert, dementiert Eli Lilly, die Bundesregierung unter Druck gesetzt zu haben. „Unser Unternehmen hat zu keiner Zeit die Investitionsentscheidung in Rheinland-Pfalz an eine derartige Zusage von Seiten der Bundesregierung geknüpft“, teilt der Konzern mit. Eli Lilly und sein CEO seien lediglich „im Zuge des Bekanntwerdens“ der Eckpunkte des MFG „darauf aufmerksam gemacht“ worden, „dass das BMG die Einführung von vertraulichen Erstattungsbeträgen positiv geprüft“ habe.
Das Gesundheitsministerium selbst äußert sich auf Anfrage nicht konkret zu den Zitaten aus den Akten. Ein Sprecher teilt lediglich in Bezug auf den Gesundheitsminister selbst mit: „Minister Lauterbach sind keine Vermerke bekannt, in denen er sich Eli Lilly gegenüber zu diesem Thema geäußert hätte. Für ihn persönlich hat die Haltung von Eli Lilly keine Rolle bei der Entwicklung der Pharmastrategie gespielt.“
In die Vorbereitung der Pharma-Charme-Offensive war hingegen Bundeskanzler Olaf Scholz involviert. Immer wieder wird in den Dokumenten darauf verwiesen, dass es bereits früh Gespräche im Bundeskanzleramt gegeben habe. So hat der Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Jörg Kukies, Anfang 2023 insgesamt dreimal mit Eli Lillys CEO Ricks über ein Pharmagesetz und die Einführung geheimer Arzneimittelpreise gesprochen. Am 16. Februar telefonierte auch Kanzler Scholz selbst mit Ricks dazu. In Berlin erzählt man sich, dass es Scholz war, der Lauterbach die Geheimpreise aufgedrängt habe. Das Kanzleramt ließ die Anfragen des Rechercheteams dazu unbeantwortet.
“Das Gesundheitsministerium verzögerte die Herausgabe der Akten und lieferte erst 9 Monate später nach einer Klage vor Gericht. Das verhinderte, dass die brisanten Aussagen daraus vor der Verabschiedung des Gesetzes im Bundestag zur Sprache kamen. ”
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Shutterstock
Es war jedenfalls erstaunlich, dass Lauterbach sich im Jahr 2023 plötzlich für Geheimpreise einsetzte. Denn jahrelang hatte er ebensolche Forderungen der Pharmaindustrie vehement abgelehnt. Sein plötzliches Umdenken hatte er im Juni im Gespräch mit SZ, NDR, WDR und Investigate Europe noch damit erklärt, dass er früher immer die Hoffnung hatte, „dass auch andere Länder so wie wir den Preis öffentlich machen“. Diese Hoffnung sei enttäuscht worden. Er betonte, dass „die Fachabteilung meines Hauses den Vorschlag richtig gut findet“. Ein Hinweis auf solche Begeisterung ist in den Dokumenten allerdings nicht zu finden. Dafür warnen die Beamten den Minister, „dass die Ermöglichung eines vertraulichen Erstattungsbetrags zu erheblichen Problemen führen würde“ und voraussichtlich auch „zu Mehrkosten“. Die Haushaltsexpertin und Bundestagsabgeordnete der Grünen, Paula Piechotta, selbst Ärztin, kommentiert das so: „Die massiven Bedenken des Parlaments und quasi aller Akteure im Gesundheitswesen wurden – das sehen wir anhand der nun veröffentlichten Dokumente – auch von den Fachleuten im Ministerium geteilt.“ Auffällig ist, dass andere Pharmakonzerne sich weniger für Geheimpreise interessierten. Von den Mitgliedern im Verband forschender Arzneimittelhersteller habe außer Eli Lilly eigentlich niemand größeres Interesse daran gehabt, erfuhr das Rechercheteam aus Industriekreisen. Auch in einem Dokument des Ministeriums vom November heißt es, dass „ein Großteil der pharmazeutischen Industrie“ dies „nicht als zentrale Maßnahme“ betrachte. Für Eli Lilly aber dürfte der Deal Gold wert sein. Denn das Unternehmen hat Ende 2023 eine Abnehmspritze auf den Markt gebracht. Mit einem ähnlichen Medikament ist sein Konkurrent Novo Nordisk soeben zum wertvollsten Unternehmen Europas geworden. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen den Firmen: Von Novo Nordisk gibt es zwei Medikamente mit demselben Wirkstoff (Semaglutid), der beim Abnehmen hilft. Eines der Mittel (Ozempic) ist zur Behandlung von Diabetes zugelassen, das andere, höher dosierte (Wegovy) zur Behandlung von Adipositas, also krankhaftem Übergewicht. Eli Lilly vertreibt hingegen nur ein Medikament für beide Indikationen: Mounjaro (Wirkstoff Tirzepatid) ist in verschiedenen Dosierungen erhältlich. Die Krankenkassen erstatten aber nur Medikamente gegen Diabetes, „Lifestyle-Medikamente“ fürs Abnehmen müssen Patienten selbst zahlen. Das macht Geheimpreise für Eli Lilly besonders attraktiv. In Kürze steht die Kostenentscheidung über Mounjaro an – und Eli Lilly wird wohl einen hohen Rabatt gewähren müssen, da der G-BA Mounjaro in den meisten Fällen keinen Zusatznutzen bescheinigt hat. Experten rechnen damit, dass Eli Lilly bei diesem Präparat nun das erste Mal von dem neuen Recht auf einen Geheimpreis Gebrauch machen wird. Die Firma selbst will das nicht kommentieren. Der Vorteil wäre aber klar: Die Abnehmwilligen zahlten für ihre Spritze einen hohen Preis – und erfahren nicht, wie groß der Rabatt ist, den Krankenkassen auf das Präparat bekommen. Und Ärzte blieben im Unklaren, wie teuer Mounjaro im Vergleich zu ähnlichen Präparaten ist. „In den meisten Staaten der EU werden getroffene Rabattverhandlungen vertraulich behandelt“, rechtfertigt Lilly auf Anfrage seine Forderung nach Geheimpreisen. „Das sollte auch für Deutschland gelten.“ Zum Thema Mounjaro passt auch ein Aktenvermerk aus den internen BMG-Dokumenten. Dort heißt es im November 2023, dass wegen des öffentlichen Widerstands gegen die Gesetzespläne die Möglichkeit für Geheimpreise eingeschränkt werden soll. Bestehen bleiben sollte sie aber ausgerechnet für „Arzneimittel, die aufgrund von Lifestyle-Indikationen nur teilweise erstattungsfähig sind“. Damit „wäre sichergestellt, dass die Zusage gegenüber Lilly eingehalten würde, da Mounjaro darunter fallen würde“. So könnte der vermeintliche 2,3-Milliarden-Segen, für den die roten Spaten in den rheinland-pfälzischen Sand stachen, die Menschen in Deutschland noch teuer zu stehen kommen. Denn vor allem Krankenkassen fürchten drastische Preissteigerungen: Selbst wenn nur für zehn Prozent aller neuen Medikamente der Preis geheim bliebe, „wären bereits im ersten Jahr Mehrkosten von bis zu 840 Millionen Euro denkbar“, hat der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) ausgerechnet. Weil jedes Jahr neue Medikamente dazukommen, könnten sich innerhalb einer Dekade „acht Milliarden Euro an zusätzlichen Jahreskosten aufbauen“, sagt GVK-Arzneimittelvorstand Stefanie Stoff-Ahnis: „Jeder Geheimpreis belastet die Finanzsituation der gesetzlichen Krankenkassen zusätzlich, ohne die Versorgungssituation für Patientinnen und Patienten zu verbessern.“ Aus Lauterbachs Ministerium heißt es dazu nur: „Die von der GKV-Seite befürchteten massiven Mehrkosten durch die Regelung basiert auf unsicheren Annahmen.“
Die zitierten Dokumente aus dem Bundesgesundheitsministerium finden hier.
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