Patienten, die an schweren Krankheiten wie Krebs leiden, dürften nur selten ahnen, dass ihre Behandlungsoptionen auch davon abhängen, welche geheimen Preisabsprachen Gesundheitsbehörden und Pharma-Manager treffen. "Diese Verhandlungen sind völlig geheim. Alles läuft in versiegelten Umschlägen ab, die gegen Unterschriften den Besitzer wechseln", verrät ein Verhandlungsführer eines EU-Staates. "Wir erfassen das nicht mal in unseren elektronischen Systemen. Denn wir wollen nicht, dass der Auftragnehmer dazu Zugang hat, der unsere Systeme wartet."
Viele EU-Staaten glauben, dass sie mit diesen geheimen Absprachen viel Geld sparen können. Doch tatsächlich spielt die Industrie sie gegeneinander aus. Denn trotz der Rabatte, welche ihnen die Unternehmen auf die hohen Listenpreise gewähren, zahlen die Regierungen oft exorbitante Beträge für Medikamente, die Leben retten können – oder sie haben überhaupt keinen Zugang zu den Mitteln, zeigt eine monatelange Recherche von Investigate Europe.
Patienten leiden unnötig, weil Unternehmen ihre Medikamente zunächst in Ländern auf den Markt bringen, in denen sie mehr Profit einstreichen können. "Wenn es um den Zugang zu Arzneimitteln geht, haben wir eine erste, zweite und dritte Klasse europäischer Bürger – das ist ein Skandal", sagt der frühere Generaldirektor des österreichischen Gesundheitsministeriums, Clemens Auer.
Pharmafirmen erhalten durch geheime Medikamentengeschäfte mit Staaten Milliardenbeträge, die Experten als "zinslose Darlehen" bezeichnen.Shutterstock
Pharmaunternehmen fordern für ihre Medikamente jedes Jahr mehr Geld, sagt der Leiter der Abteilung Arzneimittel beim Schweizer Bundesamt für Gesundheit, Jörg Indermitte. "Das letzte Beispiel, das ich habe, sind 50.000 Franken [51.800 Euro] pro Monat für ein neues Krebsmedikament. Wir hatten noch nie einen so hohen Preis. Obwohl nur zehn bis 20 Patienten mit diesem neuen Medikament behandelt werden, ist es extrem teuer."
Reporter sprachen mit vielen Beamten, die an den vertraulichen Preisverhandlungen teilgenommen haben. Sie beschreiben ein "absurdes" System, das sie zwingt, Medikamentenpreise blind auszuhandeln. "Einige betrachten die Geheimhaltung rund um die Preise als einen zentralen Wert der Branche", sagt der niederländische Onkologe Wim van Harten, der jahrelang nach den wahren Kosten von Krebstherapien in Europa gesucht hat.
Reiche EU-Staaten zahlen für bestimmte Medikamente häufig weniger als mittel- und osteuropäische Länder. Das zeigt die Recherche von Investigate Europe. Zwischen den EU-Staaten gibt es demnach eine alarmierende Kluft beim Zugang zu innovativen Medikamenten. Währenddessen ziehen Pharmakonzerne große Gewinne aus den Gesundheitssystemen.
“Wenn es um den Zugang zu Arzneimitteln geht, haben wir eine erste, zweite und dritte Klasse europäischer Bürger – das ist ein Skandal”
— Clemens Auer, ehemaliger Generaldirektor des österreichischen Gesundheitsministeriums
Der offizielle Preis eines Medikaments – sein sogenannter Listenpreis – ist kein Geheimnis. Er kann unkompliziert online abgerufen werden. Pharmaunternehmen drucken ihn auch auf die Rückseite von Arzneimittelpackungen. Doch der genannte Betrag handelt es sich oft um einen künstlichen Preis. Die Industrie hat Interesse daran, dass dieser besonders hoch ist. Der Grund ist simpel: Viele EU-Staaten orientieren sich bei ihren Preisverhandlungen mit den Herstellern auch an öffentlich-bekannten Preisen aus anderen Ländern – sei es für Krebstherapien mit Listenpreisen im sechsstelligen Bereich oder für seltene Einzeldosis-Medikamente, die in Millionenhöhe vermarktet werden. Hohe Listenpreise sind das Tor der Industrie zu großen Gewinnen.
Tatsächlich existiert ein paralleles System.
Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) entscheidet zentral, welche Medikamente auf den europäischen Markt dürfen. Anschließend entscheiden die Unternehmen, ob und in welchen Ländern sie ein Medikament vermarkten wollen oder nicht. Dabei verhandeln die Firmen in der Regel mit jedem Land separat. Dabei legt der jeweilige Staat zunächst den Listenpreis fest, anschließend verhandelt er mit den Unternehmen über die geheimen Rabatte. Für Pharmakonzerne bedeutet dies Milliarden an zinslosen Darlehen. Denn die Staaten zahlen zunächst den höheren offiziellen Preis für die Medikamente. Im Laufe der Zeit erstatten sie den Unternehmen diskret die Differenz zwischen dem offiziellen Listenpreis und dem Geheimbetrag. Allein in Belgien überwies der Staat den Unternehmen im Jahr 2023 so 1,5 Milliarden Euro. Je größer die Märkte, umso größer sind die Rabatte. Und je größer die Rabatte, umso größer sind die Rückerstattungen, welche die Industrie erhält.
Die Industrie sei “fest entschlossen, die Ergebnisse dieser Verhandlungen geheim zu halten”, sagt die Anwältin Ellen ‘t Hoen, die sich für einen fairen Zugang zu Medikamenten einsetzt. “Alles im Verborgenen zu halten, gibt ihnen die enorme Macht, ein Spiel der Spaltung und Herrschaft zu veranstalten.”
Zolgensma, ein Medikament von Novartis, hat einen Listenpreis von mehr als 2 Millionen Euro. Shutterstock
Die Gesundheitsbehörden der Länder schließen die geheimen Verträge in der Hoffnung ab, die steigenden Kosten neuer Medikamente zu begrenzen. Doch die Preise für innovative Medikamente legen überall zu. In den vergangenen 15 Jahren kletterte in den Niederlanden der Anteil des nationalen Krankenhausbudgets von 0,6 Prozent auf 10 Prozent, der für die innovativen Medikamente aufgewendet wird, sagt der Onkologe Wim van Harten. Aus den Behörden in Norwegen heißt es, eine neue Datenbank hätte aufgesetzt werden müssen, um Platz zu schaffen für weitere Nullen bei den steigenden Millionenbeträgen. Den Rekord brach zuletzt das Pharmaunternehmen Novartis mit seinem Mittel Zolgensma, das für die Behandlung von spinaler Muskelatrophie eingesetzt wird. Für das Medikament verlangte Novartis in Norwegen einen Preis von 27 Millionen NOK, das entspricht 2,3 Millionen Euro. Ein "absolut unethischer Preis", sagt die Beraterin der norwegischen Arzneimittelagentur, Anja Schiel. Schließlich einigte sich der Konzern im Jahr 2021 mit dem norwegischen Staat auf einen vertraulichen Rabatt.
Die Preise, die Staaten für Medikamente zahlen, können sich dabei deutlich unterscheiden. Investigate Europe analysierte die Preise für neue Medikamente gegen Mukoviszidose in mehreren EU-Staaten. Für seine bahnbrechenden Mittel Kaftrio und Kalydeco kann das US-Biotech-Unternehmen Vertex Pharmaceuticals Dank eines Monopols mehr als 200.000 Euro pro Patient und Behandlung verlangen. Das sind laut britischer Forscher mehr als 40-mal der geschätzten Produktionskosten. Das Unternehmen bestreitet dies. Es sagt, dass die Preise nicht durch Produktionskosten bestimmt werden, sondern durch die Investitionen in deren Entwicklung, das dabei eingegangene Risiko sowie den Wert für die Gemeinschaft.
Vertex’ Medikamente helfen Patienten mit der seltenen Krankheit, die ihre Lungen zunehmend verstopfen lässt und zu einem frühen Tod führen kann. Im Jahr 2023 erzielte Vertex fast zehn Milliarden US-Dollar Umsatz. Dennoch verlangt es von ärmeren Staaten deutlich höhere Preise als von deren Nachbarn.
“Einige betrachten die Geheimhaltung rund um die Preise als einen zentralen Wert der Branche”
— Wim van Harten, niederländischer Onkologe
Investigate Europe analysierte Unternehmensberichte sowie Daten aus nationalen Behörden und konnte so erstmals einen Einblick erhalten, wie Staaten unterschiedliche Preise für lebensrettende Medikamente zahlen.
In Westeuropa verglichen die Reporter von Investigate Europe die Einnahmen von Vertex mit der offiziellen Zahl der Mukoviszidose-Patientinnen und -Patienten, die im Jahr 2022 die Medikamente des Unternehmens nahmen. Die Reporter schätzten, dass der Durchschnitt ohne Mehrwertsteuer für Frankreich 71.000 Euro betrug, für Italien 81.000 Euro, für Spanien 87.000 Euro und für die Niederlande 88.000 Euro.
Die Preise pro Patient in einigen mittel- und osteuropäischen Ländern könnten deutlich höher sein. So kamen die Reporter von Investigate Europe in ihrer Analyse darauf, dass die Behandlung in Tschechien im Jahr 2022 geschätzt 140.000 Euro kostet. Dieser Betrag basiert auf Daten des größten öffentlichen Versicherers des Landes VZP. Der kommentierte: "Dies sind die realen Kosten für diese Art von Behandlung." Zugleich ist unklar, ob in dem Betrag Steuern enthalten sind oder nicht.
In Litauen versuchte die staatliche Gesundheitsbehörde jahrelang mit Vertex zu verhandeln. Im April erklärte die Regierung, dass sie bereit sei, bis zu 8,4 Millionen Euro zu zahlen, um Kaftrio und Kalydeco für bis zu 48 Patienten bereitzustellen. Dies könnte 175.000 Euro pro Person entsprechen.
Das US-Biotech-Unternehmen Vertex Pharmaceuticals hat ein Monopol auf Mukoviszidose-Medikamente. Shutterstock
"Die umgekehrte Korrelation zwischen der Zahl der Patienten und der Höhe der Preise zeigt wahrscheinlich die Unterschiede in der Verhandlungskraft", sagt die OECD-Ökonomin Valérie Paris, die umfangreich zu Arzneimittelpreisen forschte. "Es scheint mir, dass Sie alle denkbaren Anstrengungen unternommen haben, um die tatsächlichen Nettopreise zu erhalten", sagte Paris zu den Berechnungen von Investigate Europe. Sie schränkte aber ein: "Nur das Unternehmen, welches das Produkt verkauft, oder die nationalen Behörden könnten diese Daten wirklich bestätigen."
Im Jahr 2020 sah sich Monika Luty, 27, gezwungen ihre Heimat, Polen, zu verlassen. Denn das Land übernahm die Kosten der Kaftrio-Behandlung nicht. Sie drehte ein Video und lud es ins Internet, in dem sie Vertex bat, ihr Zugang zu Kaftrio zu geben. “Ich fühlte eine riesige Enttäuschung”, sagt sie heute. "Ich lebte in der EU als Polin und ich wurde diskriminiert, weil ich keine Deutsche war, wo die Behandlung verfügbar war. Es sollte keine Diskriminierung in der EU geben."
Zunächst halfen Luty Freunde, die gemeinsam über 200.000 Euro sammelten. Ihr Vater verkaufte sein Auto. Mit dem Geld kaufte Luty die Medikamente selbst in Deutschland. Als sie merkte, wie sehr ihr Kaftrio half, entschied sie sich, die Grenze endgültig zu überschreiten und nach Deutschland zu ziehen. “Ich habe nichts bezahlt. Ich weinte, denn es war so einfach”, erinnert sich Luty heute. "Um das Medikament in Deutschland zu erhalten, musste ich nur dort leben, brauchte einen Job und eine Krankenversicherung."
Erst später schloss Polen einen Erstattungsvertrag mit Vertex ab. In ihrer Analyse schätzen die Reporter von Investigate Europe, dass der Preis pro Patient im Jahr 2023 bei 109.000 Euro lag – ohne Mehrwertsteuer. Das ist zwar deutlich günstiger als der Kaftrio-Listenpreis, aber noch immer deutlich teurer als der Preis in anderen EU-Staaten.
"Der Preis unserer Medikamente basiert auf ihrer Innovation und dem Wert, den sie der CF-Gemeinschaft, den Pflegekräften und den Gesundheitssystemen bringen", teilte ein Vertex-Sprecher auf Nachfrage mit. "Die in Ihrer Anfrage genannten Erstattungspreise sind ungenau." Das Unternehmen lehnte es ab, sich zu den Preisen in einzelnen Ländern zu äußern. Auch wollte Vertex nicht genauer auf die Ungenauigkeiten eingehen. Das Unternehmen fügte hinzu, dass es in den letzten zehn Jahren mehr als 70 Prozent seines Geschäftsbudgets für Forschung und Entwicklung ausgegeben habe.
Trotz seiner enormen Einnahmen ist Vertex kein Mitglied des größten Branchenverbands der Arzneimittelproduzenten in Europa, Efpia. Auf Nachfrage lehnte der europäische Verband es ab, sich zu vertraulichen Geschäftspraktiken sowie den geheimen Preisen zu äußern.
In einem allgemeinen Statement teilte Efpia-Generaldirektorin Nathalie Moll Investigate Europe schriftlich mit: "Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass die Preise die Zahlungsfähigkeit eines Landes für Medikamente widerspiegeln müssen. Efpia und seine Mitglieder schlagen ein System für Europa vor, in dem Länder, die weniger für Medikamente zahlen können, weniger zahlen."
Eine typische Strategie, um den Status quo der Geheimhaltung aufrechtzuerhalten, ist die Androhung, Märkte zu boykottieren. "Ich habe Hunderte dieser Verhandlungen geführt", sagt der Leiter des nationalen belgischen Gesundheitsinstituts, Francis Arickx. "Die Drohung, dass das Unternehmen nicht am Verhandlungstisch sitzen wird, hören wir ständig und überall."
Das staatlich-finanzierte belgische Institut KCE versuchte 2016 die geheimen Rabattverträge genauer zu untersuchen, die von nationalen Behörden unterzeichnet wurden. Ihre Ergebnisse wollten die Forscherinnen und Forscher präsentieren, ohne geschützte Daten über spezifische Geschäfte preiszugeben. Doch auf Druck des belgischen Pharma-Verbandes veröffentlichten sie schließlich nur eine abgeschwächte Studie, die ohne jegliche Analyse der Deals auskam. Die Studie zeigte jedoch, dass der Verband damit gedroht hatte, gegen eine Veröffentlichung zu klagen.
Pharmaunternehmen drohte mit Investitionsabzug
Als ein großes Schweizer Pharmaunternehmen in den Verhandlungen mit seiner Behörde in Österreich auf einen höheren Preis gedrängt habe, erzählt Clemens Auer heute, hätte ein Vertreter ihn daran erinnert, wie viel das Unternehmen bereits in dem Land investieren würde. Das hätte impliziert, dass diese Investitionen gefährdet wären, wenn kein günstiger Deal vereinbart würde. “Es ist immer dasselbe dumme, sehr primitive Spiel", sagt er.
Unternehmen bringen ihre Medikamente in der Regel zunächst in Dänemark und Deutschland auf den Markt. Denn dort können sie die offiziellen Listenpreise zunächst selbst festlegen. Dänemark setzt "freiwillige" Preislimits. Deutschland überprüft jedes Medikament ein Jahr nach Einführung und kann dann Preisänderungen verlangen.
Die anfänglich hohen Preise in beiden Staaten werden von anderen Gesundheitsbehörden als Referenz verwendet, wenn sie ihre eigenen offiziellen Preise festlegen. Was danach in den Ländern geschieht, ist geheim. Dänische Krankenhäuser beschaffen teure Medikamente mit vertraulichen Rabatten. In der gemeinsamen europäischen Preisdatenbank Euripid werden die Deals nicht erfasst, bestätigte ein dänischer Beamter.
In Deutschland ist die Situation noch undurchschaubarer. Der Staat legte sein Veto gegen eine Resolution der Weltgesundheitsorganisation zur Preistransparenz ein. Zudem ist er kein Teil der Preisdatenbank Euripid. "Wir fragen die Unternehmen immer‚ 'Sagen Sie uns bitte den realen Preis in Deutschland'. Sie sagen dann, sie wissen es nicht“, sagt ein europäischer Verhandler, der anonym bleiben möchte. "Ich kann einfach nicht glauben [dass es keine vertraulichen Rabatte gibt], weil sie einen wirklich mächtigen Markt haben, sie könnten die besten Preise in Europa bekommen. Vielleicht ist es möglich, aber ich kann es wirklich nicht glauben."
Bei dem Rennen, um den Zugang zu wichtigen Medikamenten, startet der Rest Europas mit einem Schritt Rücksprung. Ein Pharmazeut der ungarischen Tochtergesellschaft eines multinationalen Pharmakonzerns sagte im Gespräch mit Investigate Europet: "Für ein Unternehmen wie Novartis oder Pfizer ist der ungarische Markt ein Rundungsfehler."
Ungarn gehört zu einer Gruppe mehrerer Staaten, die praktisch keinen Zugang zu vielen wichtigen Medikamenten haben. Das ist das Ergebnis einer Analyse von Investigate Europe.
Das deutsche Forschungsinstitut IQWiG erstellte eine Liste von 32 Medikamenten für Investigate Europe und seine deutschen Partner NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung. Drauf befinden sich jene Medikamente, denen die Forscher in den Jahren 2019 bis 2023 einen "erheblichen" oder "beträchtlichen" Zusatznutzen attestierten im Vergleich mit bestehenden Therapien. Unter den Mitteln sind Medikamente für die Behandlung von Brustkrebs, Leukämie oder Mukoviszidose.
Die europaweit erhobenen Daten zeigen, dass es in mehreren EU-Ländern keinen direkten Zugang zu einer Reihe wichtiger Arzneimittel gibt.Shutterstock
Die Reporter von Investigate Europe sowie deren Partner fragten in allen EU-Staaten ab, ob das nationale Gesundheitssystem die Behandlungskosten mit wie vielen der 32 Mittel über eine generelle Kostenerstattung übernimmt. Die anschließende Analyse zeigt, dass in sechs EU-Staaten mehr als eine der vier wichtigen Medikamente fehlten. Ohne Bezugsverträge zwischen Staaten und Unternehmen, welche die Grundlage für die Kostenerstattung bilden, müssen die Gesundheitsbehörden auf teurere Individuallösungen zurückgreifen – oder ganz auf Zugang zu den Medikamenten verzichten.
In Ungarn ist die Situation besonders dramatisch. Dort fehlen 25 der 32 Medikamente. In Malta und Zypern fehlen 19 bzw. 15 der wichtigen Mittel. Patienten in Zypern und Ungarn können einige Medikamente zwar durch individuelle Zugangs-Anträge erhalten – aber oft zu exorbitanten Kosten für den Staat. In den baltischen Staaten und in Rumänien sind ebenfalls viele der wichtigen Medikamente nicht verfügbar.
Selbst wenn Medikamente für kleinere Staaten verfügbar gemacht werden, können die Preise übermäßig hoch sein. Giorgos Pamboridis, Zyperns ehemaliger Gesundheitsminister, entdeckte gelegentlich, dass ihre Preise "doppelt, dreifach oder sogar fünfmal so hoch waren wie die von anderen Ländern" . Er ist entsetzt darüber, dass die EU der Industrie erlaubt, ihre Mitglieder so unterschiedlich zu behandeln. "Geheimhaltungsvereinbarungen sind Werkzeuge für den Missbrauch der dominanten Position, die die Industrie gegenüber ihren Kunden, den Staaten, hat. Ohne die geringste Rücksicht gibt die EU ihren einzigen Vorteil auf, ihre Größe."
“Für ein Unternehmen wie Novartis oder Pfizer ist der ungarische Markt ein Rundungsfehler.”
— Ein ungarischer Pharmazeut
Isolierte Verhandlungen verstärken die Ungleichheit, sagt ein ehemaliger irischer Gesundheitsbeamter: "Dass die 27 Mitgliedstaaten für sich selbst verhandeln, ist erstaunlich ineffizient und führt zu Ungleichheit für die europäischen Bürger."
Als zehn Länder, darunter Zypern, Griechenland, Italien, Malta, Portugal und Spanien, 2017 die Valletta-Erklärung unterzeichneten, um bei der Beschaffung von Medikamenten zusammenzuarbeiten, habe die Industrie kein Interesse gezeigt. Das bestätigten mehrere Teilnehmer im Gespräch mit Investigate Europe.
Weiter nördlich hat die Beneluxa-Kooperation – Österreich, Belgien, Irland, Luxemburg und die Niederlande – Preise für einige hochpreisige Medikamente ausgehandelt, meist mit kleinen Firmen. Zwei beteiligte Verhandlungsführer sagten, größere Unternehmen seien zurückhaltend, sich anzuschließen. "Die kleinen Unternehmen sagen: ‘Ja, mit einer Verhandlung kann ich mehr Märkte erreichen, also stimme ich zu’, während die großen Unternehmen scheinbar diese Art von Initiative boykottieren", sagt der Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Verona, Paolo Pertile.
Das einzige Mal, dass große Unternehmen EU-weit verhandelten, war für Covid-Impfstoffe. Shutterstock
Das einzige Mal, dass große Unternehmen EU-weit verhandelten, war für Covid-Impfstoffe. Es zeigte, dass die Industrie, wenn sie unter Druck steht, darauf verzichtet, ein Land gegen das andere auszuspielen. Doch die Preise waren wieder geheim. "Hätte die EU ihre vereinten Kräfte genutzt, um Vertraulichkeitsklauseln nicht zuzustimmen, hätte dies ein Wendepunkt sein können", sagte die Leiterin der Pharmakoökonomie am nationalen Gesundheitsinstitut Österreichs, Sabine Vogler.
Pharmaunternehmen können Regierungen "erpressen", sagt Luca Li Bassi, ehemaliger Leiter der italienischen Arzneimittelagentur, der sich für mehr Preistransparenz einsetzt. "Wenn Transparenz gefordert wird, drohen die Pharmaunternehmen, das Medikament nicht zu liefern."
Der Verdacht, dass ein Unternehmen versucht möglichst viel Geld von Staaten zu fordern, wenn es Vertraulichkeitsvereinbarung gibt, bestätigte sich zuletzt, als die Preise des Covid-Impfstoffs von AstraZeneca bekannt wurden. Das Unternehmen hatte in Südafrika doppelt so viel für sein Mittel verlangt wie in der EU.
"Jede Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten (...) sollte die Vertraulichkeit von Preis- und Erstattungsvereinbarungen gewährleisten", teilte Efpia-Chefin Nathalie Moll in einer Antwort auf Fragen von Investigate Europe schriftlich mit. "Die Teilnahme der Industrie an jeder Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zu Preis-, Erstattungs- und Zugangsfragen sollte freiwillig sein."
“Wenn Transparenz gefordert wird, drohen die Pharmaunternehmen, das Medikament nicht zu liefern.”
— Luca Li Bassi, früherer Chef der italienischen Arzneimittelagentur
Die Vorstellung, dass die Industrie der einzige wirkliche Gewinner dieser Geheimhaltung ist, ist weit verbreitet unter Verhandlungsführern wie Francis Arickx, der sagt, dass Belgien versucht hat und gescheitert ist, vertrauliche Klauseln zu begrenzen. „Das Gegenteil passiert tatsächlich, wir sehen einen sehr klaren Industriepush, um Verträge bis zur Ankunft von Generika oder Biosimilars aufrechtzuerhalten.“
EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides ist sich der zahlreichen Probleme bewusst. “Wo Sie leben, sollte nicht darüber entscheiden, ob Sie leben oder sterben”, sagte sie bei der Vorstellung eines neuen Gesetzespakets im letzten Jahr. Aber ihr neues Gesetzesvorhaben, das sogenannte Pharmapaket stieß auf Widerstand. So gelang es der Industrielobby sowie den Mitgliedstaaten einen Versuch einkürzen, der die Marktexklusivität der Pharmaunternehmen beschränken sollte. Zu Medikamentenpreisen findet sich erst gar nichts in dem Entwurf.
“Medikamentenpreise sind ein Bereich der nationalen Kompetenz und mit nationalen Gesundheitsbudgets verbunden“, teilte ein Sprecher der Europäischen Kommission auf Nachfrage von Investigate Europe schriftlich mit. “Allerdings könnte mehr Transparenz bei Preisinformationen den Mitgliedstaaten helfen, bessere Entscheidungen über Preise und Erstattungen zu treffen, wie in der Pharmastrategie für Europa anerkannt.” Der Sprecher schrieb weiter, dass die Kommission die Arbeit der europäischen Preisdatenbank Euripid unterstützt. Auf Nachfrage weigerte sich Euripid, Daten über die steigende Zahl vertraulicher Vereinbarungen zwischen Staaten und Pharmaunternehmen bereitzustellen.
Künftig könnte die Mauer der Geheimhaltung noch höher werden. Denn der Bundestag diskutiert momentan ein neues Gesetz für Medizinische Forschung. Damit würden die Preisanpassungen geheim bleiben, welche die deutschen Behörden nach einem Jahr vornehmen können. Die hohen offiziellen Listenpreise wären dann alles, was die Öffentlichkeit erfahren könnte. “Die Industrie wird begeistert sein, wenn es dazu kommt”, sagte der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Josef Hecken. Das Gremium entscheidet über die Bewertung neuer Medikamente in Deutschland. “Medikamente, die hier starke Rabatte erhalten, werden anderswo als Gold verkauft”, sagt er. “Es werden dann in vielen Konzernbüros die Champagnerkorken knallen.”
Mitarbeit: Ingeborg Eliassen, Harald Schumann, Nico Schmidt, Attila Kalman, Pascal Hansens, Maria Maggiore, Markus Grill, Christina Berndt, Achim Pollmeier, Leonard Scharfenberg, Palina Milling
Redaktion: Chris Matthews