Meinung: Der Ministerrat muss die EU-Gesetzgebung endlich transparent machen

22. Juni 2021

Von

Sigrid Melchior
Sigrid Melchior
In einer Woche, am 1. Juli, wird Deutschland den Vorsitz des EU-Ministerrats von Kroatien übernehmen. Dann wird die Bundesregierung ein halbes Jahr lang alle Treffen der EU-Minister planen und leiten. Eine wichtige Aufgabe, denn der Ministerrat ist eines der gesetzgebenden EU-Organe. Und was dort besprochen wird, kann der vorsitzende Staat maßgeblich beeinflussen.
Als vor einem Jahr die finnische Regierung den Ratsvorsitz übernahm, begann sie, eine Transparenzoffensive zu initiieren. Denn häufig war der Ministerrat zuvor dafür kritisiert worden, hinter verschlossenen Türen mit dem EU-Parlament über Gesetze zu verhandeln und die Inhalte der Gespräche nie zu veröffentlichen. Über diese Verhandlung begann die finnische Regierung nun zu twittern. Dazu lud sie interne Dokumente auf ein Transparenzportal und begann Treffen zwischen Lobbyisten und Politikern in der finnischen EU-Botschaft zu dokumentieren. Die kroatische Regierung setzte diesen Weg fort und auch die deutsche will dies nun in den kommenden Monaten ebenfalls tun.

Doch die Transparenzoffensive hat offenbar Grenzen. Vor zwei Jahren legte der Europäische Bürgerbeauftragte einen kritischen Bericht vor, in dem er „legislative Transparenz“ forderte. Seine Änderungsvorschläge wurden im Rat von mehreren Staaten blockiert – darunter Frankreich und Portugal, die bald den Ratsvorsitz übernehmen werden. Deshalb ist der deutsche Vorsitz bedeutend.

In ihrem neuen Bericht „Tainted Love – Corporate Lobbying and the Upcoming German EU Presidency“ schreiben die Transparenz-NGOs Corporate Europe Observatory und Lobbycontrol: “Die deutsche Regierung hat sich bisher in Bezug auf den legislativen Reformprozess und die Stärkung der demokratischen Kontrolle der Entscheidungsfindung im Rat in der Schwebe gehalten und ist weder ein starker Befürworter noch ein starker Gegner. Das ist nicht gut genug.”

Inzwischen beschweren sich nicht mehr nur Journalisten und Aktivisten über die Geheimniskrämerei des Rates. Auch nationale Parlamente – etwa jene in Dänemark oder den Niederland – fordern, dass der Rat transparenter werden müsse. Andernfalls wäre es schwer zu kontrollieren, was ihre Regierungen in Brüssel vorantreiben und aushandeln.

Angeregt durch den Bericht des Bürgerbeauftragten, fordern Finnland, die Niederlande, Belgien, Dänemark, Estland, Irland, Lettland, Luxemburg, Slowenien und Schweden mehr Transparenz im Rat. Das ist ein Anfang. Doch wirkliche Transparenz des Gesetzgebungsprozesses fordern auch diese Staaten nicht.

Eine transparente Gesetzgebung würde bedeuten, dass die EU-Bürger die Positionen ihrer jeweiligen Regierungen zu jedem Gesetzesvorhaben erfahren können, bevor darüber entschieden wird. Das würde es den Menschen ermöglichen, die Positionen ihrer politischen Vertreter zu beeinflussen oder ihre Entscheidungen zu kritisieren.

In der Europäischen Union gibt es zwei gesetzgebende Institutionen, das Europäische Parlament und den Ministerrat. Im Gegensatz zu den Vorgängen im Rat, ist für Bürger transparent, wie das Parlament entscheidet. Denn die Positionen und Änderungsvorschläge der Fraktionen können eingesehen werden, bevor über sie abgestimmt wird. Zudem können Bürger den Debatten und Abstimmungen per Livestream zu schauen.

Anders im Rat. Dort wird nur dokumentiert, was am Ende entschieden wurde. Alles was zuvor geschieht, findet hinter verschlossenen Türen statt. So ist es der Öffentlichkeit unmöglich herauszufinden, ob es die deutsche oder polnische Regierung war, die eine Passage aus einem EU-Gesetzesvorschlag gestrichen hat, ob es Belgien oder Bulgarien waren, die eine bestimmte Quote erhöhen konnten, oder was die italienische oder die französische Regierung als Gegenleistung dafür bekamen, dass sie einer Schlussabstimmung zustimmten.

In ihrem Bericht werfen Corporate Europe Observatory und Lobby Control den EU-Regierungen vor, hinter verschlossenen Türen bei unterschiedlichen Gesetzesvorlagen Kompromisse einzugehen. Ein Beispiel sei, dass Deutschland und Großbritannien einen Deal aushandelten, den Gesetzesvorschlägen der jeweils anderen Regierung zuzustimmen. So habe Großbritannien die deutsche Position unterstützt, die CO2-Ziele für Personenkraftwagen zu verwässern. Dafür habe die deutsche Regierung die britische Position zur Europäischen Bankenunion unterstützt.

Im Ministerrat herrscht keine Kultur der offenen Debatten und politischen Konflikte, wie es sie etwa in den Parlamenten vieler Mitgliedsstaaten gibt. Dabei ist der Rat wie sie ein gesetzgebendes Organ – und keine Dinnerparty für Diplomaten. EU-Gesetze können niemals wirklich legitim sein, wenn die Bürger Europas sie nicht verstehen und beeinflussen können. Echte demokratische Transparenz ist keine Reform, die nur halb vollendet werde.

Lesen Sie alle Recherchen unseres Projekts “Die Geheimnisse des Rates”.

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