EU-Mitgliedsstaaten haben auch nach dem Embargo von 2014 Waffen nach Russland exportiert

Family picture of EU leaders' meeting in Versailles, 10 March 2022
Die 27 Staatsoberhäupter vor dem Chateau de Versailles, Frankreich. © Europäische Union, 2022

“Unsere Schicksale sind miteinander verbunden. Die Ukraine gehört zur europäischen Familie. Vladimir Putins Angriff ist ein Angriff auf alle Prinzipien, die uns wichtig sind“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Das Gipfeltreffen in Versailles letzte Woche zeigte, wie die Europäische Union versucht, nach der russischen Invasion in der Ukraine an einem Strang zu ziehen.

Vor nur einem Jahr waren Vladimir Putin und seine Armee jedoch noch gute Kunden der europäischen Rüstungsindustrie. Ein Drittel  der EU-Mitgliedsstaaten exportierte Waffen in die Russische Föderation, wie Daten der Arbeitsgruppe zur Ausfuhr konventioneller Waffen (COARM) zeigen – auch Deutschland.

Diese Daten stammen aus den offiziellen Rüstungsexportregistern aller 27 EU-Staaten und zeigen, dass mindestens zehn Mitgliedsstaaten zwischen 2015 und 2020 Waffen im Wert von 346 Millionen Euro an Russland exportiert haben. Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich, Bulgarien, Tschechien, Kroatien, Finnland, die Slowakei und Spanien haben – in unterschiedlichem Ausmaß – „Rüstungsgüter“ and Russland verkauft. Unsere Recherche zeigt, dass der Begriff “Rüstungsgüter” sehr vieles beinhalten kann, von Geschossen, Bomben, Torpedos und Gewehren bis hin zu Raketen, Landfahrzeugen und Schiffen.

Ein Embargo voller Schlupflöcher

Eigentlich gibt es seit 2014 ein Embargo der EU, das Waffenlieferungen nach Russland verbietet:

Der unmittelbare oder mittelbare Verkauf, die unmittelbare oder mittelbare Lieferung, Verbringung oder Ausfuhr von Rüstungsgütern und zugehörigen Gütern aller Art, einschließlich Waffen und Munition, Militärfahrzeugen und -ausrüstung, paramilitärischer Ausrüstung und entsprechenden Ersatzteilen nach Russland durch Staatsangehörige der Mitgliedstaaten oder vom Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten aus oder durch Schiffe oder Flugzeuge unter ihrer Flagge, wird untersagt, unabhängig davon, ob diese Güter ihren Ursprung im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten haben oder nicht.

Beschluss 2014/512/CFSP des Rates vom 31. Juli 2014

Dieser Beschluss folgte auf Russlands Annexion der Krim und der Ausrufung der Seperatistenrepubliken im Donbass. Dennoch ging der Waffenhandel mit  EU-Staaten weiter, wie offizielle Daten zeigen.

Viele der EU-Staaten, die Rüstung an Russland exportierten, nutzten dafür ein juristisches Schlupfloch in den EU-Bestimmungen. Die Arbeitsgruppe COARM antwortete auf IE’s Fragen, dass „das EU-Waffenembargo folgende Ausnahme beinhaltet: Verträge, die vor dem 1. August 2014 geschlossen wurden, oder ergänzende Verträge, die notwendig sind, um diese einzuhalten. Die Zahlen, die Sie in der Datenbank finden, müssten unter diese Ausnahme fallen. Mitgliedsstaaten sind dafür verantwortlich sicherzustellen, dass sie sich an das Waffenembargo und den Gemeinsamen Standpunkt der EU halten.“ Aus diesem Grund, so COARM, „rüsten Mitgliedsstaaten Russland nicht aus.“

Ganz so einfach ist es aber nicht. Siemon Wezeman vom Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) unterscheidet zwischen regulärem, wirtschaftlichem Handel und Rüstungsexporten. „Waffen sind Teil unserer Außenpolitik, nicht der Wirtschaftspolitik. Politische Erwägungen stehen dabei im Mittelpunkt.“

Laut der COARM-Daten haben Mitgliedsstaaten nach 2014 mehr als tausend Waffendeals mit Russland genehmigt. Nicht einmal hundert wurden abgelehnt. Und ganz oben auf der Liste der europäischen Exporteure? Frankreich.

Frankreich, Top-Rüstungsexporteur nach Russland

Wie das französische Medium Disclose zuerst berichtete, hat Frankreich Rüstungsgüter im Wert von 152 Millionen Euro nach Russland exportiert. Investigate Europe‘s Analysen bestätigen diese Zahl und zeigen, dass Frankreich weit vor seinen Nachbarn liegt. 44 Prozent der europäischen Waffen, die nach Russland exportiert wurden, kamen von dort.

Unsere Recherche hat gezeigt, dass Frankreich seit 2015 Exporte von Rüstungsgütern der Kategorie „Bomben, Raketen, Torpedos, Geschosse, Sprengsätze“ autorisiert hat – tödliche Waffen – aber auch „bildgebende Geräte, Flugzeuge mit Komponenten und ‚Leichter-als-Luft-Flugapparate‘“.

Laut Disclose beinhalteten die französischen Exporte auch „Wärmebildkameras für mehr als 1000 russische Panzer, ebenso wie Navigationssysteme und Infrarot-Detektoren für Kampfflugzeuge und -Hubschrauber.“ Der Kreml kaufte diese von Safran und Thales, deren Hauptanteile dem französischen Staat gehören. Diese Ausrüstung befindet sich nun auch an Bord der Fahrzeuge, Flugzeuge und Hubschrauber an der ukrainischen Front.

Die Zahl der Genehmigungen in Frankreich stieg 2015, unmittelbar nach dem Embargo, rapide an (siehe Schaubild). 2014 autorisierten die französischen Behörden noch Lieferungen von “Chemiewaffen”, “Biowaffen”, “Reizstoffen“ sowie „radioaktiven Materialien, Zubehör, Bestandteile und Material“.

Auf Nachfrage von IE am 4. März antwortete das französische Verteidigungsministerium erst nach elf Tagen, dass Frankreich sich „sehr streng“ an das Embargo von 2014 halte. Die Geschosse, Raketen, Torpedos und Bomben, die in den letzten fünf Jahren an Russland verkauft wurden, seien „in einem Wort, ein Restwasserabfluss, basierend auf vergangenen Verträgen (…), der nach und nach versickert ist“, versichert die französische Regierung.

Deutschland: 122 Millionen Euro für Gewehre und Schiffe

Laut IE-Informationen hat Deutschland Rüstungsgüter im Wert von 121,8 Millionen Euro nach Russland exportiert. Das sind 35 Prozent aller EU-Waffenexporte nach Russland und Platz zwei hinter Frankreich. Hauptsächlich handelte es sich dabei um Eisbrecher, aber es waren auch Gewehre und „Sonderschutzfahrzeuge“ darunter. Die deutsche Regierung hat auf Investigate Europes Fragen zu den Lieferungen und ihrem möglichen Einsatz in der Ukraine nicht geantwortet.

Die deutschen Exporte sind als „dual use“ gekennzeichnet – das bedeutet, sie sind sowohl für den zivilen als auch für den militärischen Zweck verwendbar. Darum sagen selbst militärkritische deutsche Politiker,  sowie pazifistische NGOs, die Investigate Europe kontaktiert hat, dass diese Exporte keinen formellen Bruch des Embargos darstellen..

Hannah Neumann, Mitglied des Europäischen Parlaments und der deutschen Grünen sowie des Ausschusses für Sicherheits- und Verteidigungspolitik, bedauert diese Situation. „Jedes Land exportiert nach eigenem Gutdünken. Wir brauchen eine gemeinsame Rüstungsexportpolitik, die gesetzmäßig und transparent ist, unter Einbeziehung des Europäischen Parlaments (…),“ sagte sie uns. „Ich bin es leid, dass unter der Hand Deals geschlossen werden, die nur der Rüstungsindustrie nützen, aber der gemeinsamen EU-Außenpolitik und dem Frieden schaden.“

Italien: Landfahrzeuge an der ukrainischen Front

Auf dem dritten Platz der Exporteure steht laut COARM-Daten Italien, das zwischen 2015 und 2020 Rüstungsgüter im Wert von 22,5 Millionen Euro an Russland verkauft hat. Unsere Recherchen zeigen, dass der erste große Vertrag mit Russland 2015 unterzeichnet wurde, als Matteo Renzis Regierung der italienischen Firma Iveco erlaubte, Fahrzeuge im Wert von 25 Millionen Euro an Russland zu verkaufen. Investigate Europe liegt die „finale Genehmigung“ des Außenministeriums vor (Minister war zu dieser Zeit Paolo Gentiloni, der heute EU-Kommissionsmitglied ist). Schließlich wurde nur Rüstung im Wert von 22,5 Millionen Euro an Russland geliefert. Aber ein Journalist des Fernsehsenders La 7 hat die Kriegsfahrzeuge – das Lynce-Modell von Iveco – eindeutig Anfang März an der ukrainischen Front entdeckt. Diese Fahrzeuge wurden in einer der drei Fabriken zusammengebaut, die Iveco in Russland betreibt. Die Bauteile kamen aber aus Italien.

Kriegsfahrzeug der italienischen Firma Iveco, in Russland produziert, entdeckt vom Fernsehsender La 7 an der ukrainischen Front im März 2022.

Giorgio Beretta, Analyst der Ständigen Beobachtungsstelle für Leichte Waffen (OPAL) sagte IE:

„Wenn es um Rüstungsexporte geht, ist es meist eine politische Entscheidung. Die italienische Regierung hätte sich weigern und einen Rechtsstreit mit der Rüstungsfirma anfangen können. Ein Richter hätte die politischen Umstände und die Pflicht sich an eine europäische Vereinbarung zu halten berücksichtigt.“

Ab 2015 wurden immer weniger Waffen und Munition von Italien nach Russland geliefert. 2021 wurden es dann wieder mehr. Laut Exportdaten der italienischen Behörde für Statistik, Istat, lieferte Italien zwischen Januar und November 2021 ‚Rüstung und Munition‘ im Wert von 21,9 Millionen Euro nach Russland. Darunter befanden sich ‘gewöhnliche Waffen’ wie Gewehre, Pistolen, Munition und Zubehör.

Wie kann es sein, dass die italienische Regierung, sechs Jahre nach Inkrafttreten des Embargos, immer noch so viele Waffenlieferungen genehmigen konnte? Diese Waffen – halbautomatische Gewehre und Munition – wurden an den zivilen Markt verkauft. Dazu gehören private Sicherheitsfirmen, paramilitärische Gruppen und besondere Staatsorgane.

Kleine Händler, große Waffen

Auch andere Mitgliedsstaaten hatten während dieses Zeitraums einen ständigen Exportfluss nach Russland, wenn auch in deutlich geringerem Maße als die großen Zulieferer. Tschechien exportierte von 2015 bis 2019 jedes Jahr „Flugzeuge, Leichter-als-Luft-Flugapparate, unbemannte Flugkörper, Flugzeugtriebwerke und Flugzeugzubehör“.

Auch Österreich exportierte weiterhin jedes Jahr Rüstungsgüter nach Russland, „Waffen mit glattem Lauf mit weniger als 20mm-Kalibern, andere Waffen und automatische Waffen mit 12,7mm-Kaliber“ sowie „Munition und Zünderstellvorrichtungen und speziell entwickelte Bestandteile“.

Bulgarien vereinbarte 2016 und 2018 jeweils den Export von „Kriegsschiffen (Über- und Unterwasser), spezielle Marineausrüstung, Zubehör, Bestandteile und andere Überwasserschiffe“ sowie „Technologie“ für die „Entwicklung“, „Produktion“ und „Nutzung“ von Artikeln, die der Kontrolle der Gemeinsamen Militärgüterliste der EU unterliegen. Der Gesamtwert lag bei 16,5 Millionen Euro. Finnland, Spanien, die Slowakei und Kroatien genehmigten in den vergangenen Jahren je einen, viel kleineren Export nach Russland.

Doch die EU-Staaten sind nicht die Einzigen, die eine widersprüchliche Exportpolitik betrieben. SIPRI-Daten zu Waffenexporten offenbaren einen weiteren obskuren Fakt: nicht nur die EU verkaufte nach der Annexion der Krim Waffen nach Russland. Russland blieb auch der zweitgrößte Markt für Waffenexporte aus der Ukraine.

Redigiert von Paulo Pena und Juliet Ferguson. Übersetzung ins Deutsche von Hannah El-Hitami.