Militärmacht Europa

Europa ist auf dem besten Weg eine Militärmacht zu werden. Doch bisher profitieren davon vor allem Waffenhersteller. Eine demokratische Kontrolle gibt es nicht.

März 2022

Military Power illustration
Nach Jahrzehnten des Friedens und des Fortschritts hat der russische Angriff auf die Ukraine den Krieg bis an die Grenzen der EU gebombt. Das wird die Europäische Union für immer verändern.

Als Friedensprojekt gegründet, erhielt die EU im Jahr 2012 sogar den Friedensnobelpreis. Doch jetzt, zehn Jahre später, ist sie gezwungen, eine Militärmacht zu werden. Wie wird sie mit diesem Widerspruch umgehen? Diese Recherche von Investigate Europe zeigt, dass EU-Mitgliedsstaaten schon länger mit gemeinsamen Rüstungsprogrammen und Militärmissionen experimentieren – die Ergebnisse sind fragwürdig.

Die EU und ihre Mitgliedsstaaten wollen in den kommenden Jahren Hunderte Milliarden Euro in das europäische Militär und die Verteidigung investieren. Wird dieses Geld die Union wirklich sicherer machen? Dienen die Milliarden nur den Rüstungskonzernen oder wappnet sich die EU wirklich gegen die neue Bedrohung? Was genau geschieht da in den Institutionen der EU-Staaten und Militärs?


Monatelang ist das Team von Investigate Europe diesen Fragen nachgegangen. Es hat Dokumente und Daten ausgewertet sowie mit Wirtschaftswissenschaftlerinnen gesprochen, Vermögensverwaltern, Militärexpertinnen, Diplomaten, Waffenherstellern, Geflüchteten und europäischen sowie nationalen Politikerinnen gesprochen.
Die Recherche dokumentiert, dass die europäische Militärpolitik vor allem dazu dient, den Ausbau der europäischen Militärindustrie zu finanzieren.   Mit neuen Mechanismen will die EU die Rüstungskooperation vorantreiben. Dafür hat sie den Europäischen Verteidigungsfonds gegründet. Die fünf größten Firmen, die das Gros der öffentlichen Gelder erhalten, heißen Airbus, Leonardo, Dassault, Thales und Indra Sistemas. Sie gehören wenigen europäischen Staaten: Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien. Diese Rüstungsgiganten sind eng verbunden mit den Staatsregierungen und sogar mit ihren Konkurrenten. Denn neben den Staaten halten auch US-amerikanische Fonds viele Anteile an den europäischen Waffenproduzenten. Und nicht nur das: Sie besitzen auch Anteile an den US-amerikanischen Konkurrenten. Laut Wirtschaftswissenschaftlern führt das zu weniger Wettbewerb.

Das größte und teuerste Projekte der europäischen Rüstungskooperation ist eine gemeinsame Kampfdrohne, die Eurodrohne. Derzeit befindet sich das Projekt noch in der „Forschungs- und Designphase“. Die ferngelenkte Angriffswaffe soll einmal pro System bestehend aus drei Drohnen und einer Bodenstation 355 Millionen Euro kosten, doppelt so viel das vergleichbare Produkt der US-Konkurrenz, die in der Serienproduktion viele Jahre Vorsprung hat. Aufzuholen wäre das nur, wenn die EU-Staaten an einem Strang ziehen. Doch das ist derzeit höchst ungewiss. Bisher haben nur die vier Herstellerländer den Kauf der Eurodrohne vertraglich zugesichert. Mindestens fünf Regierungen, darunter die Niederlande, Belgien und Irland haben sich bereits dagegen entschieden, ergab eine Anfrage von Investigate Europe. Weitere vier wollten sich noch nicht festlegen, darunter etwa Finnland und Dänemark. Alle übrigen ließen die Frage unbeantwortet.

Doch wer kontrolliert, was geschieht, wenn die nationalen Regierungen die EU zur Militärmacht umbauen? Das Europäische Parlament hat beim Einsatz der Rüstungsmilliarden nichts zu sagen. „Wir, das Europäische Parlament, werden ganz bewusst aus diesen Entscheidungen ausgeschlossen“, kritisiert die deutsche Abgeordnete der Grünen im EU-Parlament, Hannah Neumann. „Das meiste passiert im Geheimen hinter verschlossenen Türen.”

Im Umgang mit Russland demonstrieren die EU-Staaten Einigkeit. Doch einen anderen militärischen Konflikt an der EU-Grenze heizen die Mitgliedsstaaten sogar selbst an.

Seit Jahrzehnten streiten Griechenland und die Türkei um die Hoheit über die Gewässer der Ägäis. Vorletztes Jahr schrammten die beiden Staaten nur knapp an einem Seegefecht vorbei, als die Türkei vor der Küste der griechischen Insel Rhodos unter Schutz von Kriegsschiffen nach Erdgas suchen ließ und die Griechen ihrerseits ihre Marine entsandten. Das hindert die Rüstungsexporteure aus Deutschland und Frankreich jedoch nicht daran, die beiden Staaten nach Kräften gegeneinander aufzurüsten. So verkauften die Deutschen der türkischen Regierung allein seit 2004 Kriegsschiffe samt Ersatzteilen im Wert von 1,5 Milliarden Euro. Frankreich wiederum verkaufte den Griechen erst vergangenes Jahr wieder drei Fregatten im Wert von drei Milliarden

Auch außerhalb der EU handeln die Staaten mitunter unbeholfen. Für die Finanzierung von gemeinsamen Militärmissionen schuf die EU im vergangenen Jahr die Europäische Friedensfazilität. Aus dem Fonds zogen die EU-Staaten im Dezember dann mal eben 24 Millionen Euro, um Militärausbilder in dem afrikanischen Krisenstaat Mali zu entsenden. Grundlage der Entscheidung war eine Sicherheitsanalyse des Auswärtigen Dienstes der EU (EAD), der dafür offenkundig nicht qualifiziert war. Denn schon wenige Wochen später wandte sich die malische Militärjunta gegen ihre Gönner aus Brüssel. Erst entzog sie der Bundeswehr das Überflugrecht, dann verwiesen sie den französischen Botschafter des Landes und schließlich holten sie russische Söldner zum Kampf gegen die Aufständischen ins Land. „Wir versuchen da etwas aus dem Nichts aufzubauen, für das wir keine Kompetenz besitzen“, beklagt einer der beteiligten Diplomaten im Gespräch mit IE. „Wir müssten andere Akteure einbeziehen, die das können.“
Ein „Fernziel“ der deutschen Regierung ist eine europäische Armee. Seit 2007 existieren auf dem Papier die sogenannten EU-Battlegroups. Doch die 1500-Soldaten umfassende Truppe wurde noch nie eingesetzt. Grund dafür sind Konflikte über die Finanzierung sowie die Uneinigkeit der Mitgliedsstaaten, wie und wann die Battlegroup eingreifen soll. So bleibt die Truppe ein Gespenst. Als ein Reporter von Investigate Europe die Battlegroup in Italien besuchen wollte, teilte ein Militärvertreter mit, dass er erstmal in Erfahrung bringen müsse, was eine EU-Battlegroup sei.

Was die EU-Initiativen in den vergangenen Jahren nicht schafften, gelang Russlands Präsident Wladimir Putin binnen Tagen mit seinem Krieg gegen die Ukraine. Die EU-Staaten drängen auf eine noch engere Militärzusammenarbeit. Doch der Weg bis zu einer gemeinsam Militärpolitik ist weit. Noch länger könnte es dauern, transparente und demokratische Kontrollstrukturen zu schaffen für die neue Militärmacht Europa.

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