Explainer: Warum eine Reform der Energiecharta unwahrscheinlich ist

Credit: Alexia Barakou

Der Energiecharta-Vertrag ist ein bisher wenig bekannter Investitionsschutzvertrag. Unterschrieben haben ihn Anfang der 1990er Jahre alle EU-Staaten, auch Deutschland. Der Vertrag sollte einst Konzerne schützen, die in Staaten mit unsicherer Rechtslage investieren. Doch da der Vertragstext schwammig formuliert ist, können ihn heute Energie-Investoren nutzen, um Staaten auf Milliarden-Entschädigung zu verklagen, wenn diese notwendige Gesetze beschließen, um aus Kohle, Öl oder Gas aussteigen und so ihre Klimaziele zu erreichen.

Die britische Ölfirma Rockhopper verklagt Italien wegen eines Ölförderverbots vor einem internationalen Schiedsgericht auf eine Entschädigung in Höhe von rund 225 Millionen Euro. Der deutsche Energiekonzern RWE fordert von den Niederlanden 1,4 Milliarden Euro, weil der Staat ab 2030 die Kohleverbrennung verbietet. RWE muss dann ein Kohlekraftwerk abstellen. In den vergangenen Monaten sprach Investigate Europe mit vielen Juristen, Wissenschaftlerinnen, Aktivisten und Politikerinnen. Die warnten, dass diese Klagemöglichkeit der Energiecharta dazu führen könnte, dass Staaten ihre Klimamaßnahmen verschieben, abschwächen oder aufgeben.

Das hat auch die EU und die Mitgliedsstaaten erkannt. Seit Jahren versuchen sie die Energiecharta zu modernisieren. Doch dieses Verfahren könnte möglicherweise nie zu einem Abschluss kommen. Einige Staaten fordern deshalb bereits einen Austritt aus der Energiecharta zu erwägen. Doch eine Vertragsklausel verhindert, dass ein sofortiger vollständiger Austritt möglich ist.

Die Reform des Energiecharta-Vertrags beginnt im November 2018. Damals stimmen die 55 Vertragsparteien der Charta dafür, diese zu modernisieren. Gleich 25 Themen werden festgelegt, über die eine Modernisierungsgruppe sprechen soll. Für die Verhandlungen geben die EU-Staaten im Juli 2019 der Kommission das Mandat. Fast ein Jahr später, im Mai 2020, präsentiert die Kommission ihre Verhandlungsposition. Doch einen wichtigen Punkt lässt sie offen: Welche Wirtschaftssektoren sollen die reformierte Energiecharta noch schützen?

Die zerstrittene Union

Im Oktober vergangenes Jahres schickt die Kommission den Mitgliedsstaaten einen Vorschlag für die künftigen Wirtschaftssektoren. Der sieht vor, bestehende Kohle-, Öl- und Gas-Investitionen zehn weitere Jahre durch den Energiecharta-Vertrag abzusichern, neue Investitionen in bestimmte Gaskraftwerke könnten bis 2040 durch den Vertrag gedeckt werden. Einige Mitgliedsstaaten protestieren zunächst. Ein Dokument des Rats der EU, das Investigate Europe vorliegt, zeigt, dass Österreich und Luxemburg fordern, deutlich früher den Schutz fossile Infrastruktur zu beenden. Andere Staaten wie Spanien fordern, dass nur Gaskraftwerke mit sehr geringem CO2-Ausstoß weiter unter die Charta fallen sollen.

Doch es gibt auch Opposition. Die Regierungen von Malta, Zypern, Kroatien, der Slowakei, Tschechien, Ungarn, Griechenland, Rumänien, Litauen sowie Polens stellen sich im Rat der EU offen gegen eine ambitioniertere Position. Letztlich kommt es zu einem Kompromiss, der unterscheidet sich vom ursprünglichen Vorschlag der Kommission nur in Nuancen. Bestehende Kohlekraftwerke würden weitere zehn Jahre durch einen reformierten Energiecharta-Vertrag geschützt, neue Gaskraftwerke bis 2040.

Unmittelbar nach der Einigung jubelte der grüne Umweltminister Luxemburgs, Claude Turmes: „Nach monatelangen Anstrengungen freue ich mich, einen EU-Vorschlag für die Modernisierung der Energiecharta zu haben, der dem Abkommen von Paris entspricht“. Paul de Clerck, der für die NGO Friends of the Earth die Gespräche der Mitgliedsstaaten beobachtet kommt zu einer anderen Einschätzung. „Nichts an diesem Vorschlag ist kompatibel mit dem Abkommen von Paris oder dem Europäischen Green Deal“, sagt er. „Mit dieser Modernisierung werden Unternehmen die Energiecharta weiter nutzen können, um Klimamaßnahmen von Staaten anzufechten.“

Staaten blockieren Charta-Modernisierung

Doch selbst nun, da sich Europas Staaten auf eine gemeinsame Linie geeinigt haben, heißt das noch lange nicht, dass der Vertrag modernisiert werden kann. Seit einem Jahr tagt die Modernisierungsgruppe des Energiecharta-Vertrages. Im vergangenen Jahr kam die Runde vier Mal zusammen. Dabei ging es bisher um sehr grundsätzliche Fragen, etwa darum, wer künftig Anwalts- und Gerichtskosten tragen müsse. „Es ist unglaublich technisch“, sagt ein Diplomat, der an den Verhandlungen teilnimmt. „Wir haben 16 Tage sechs Stunden am Stück mit den Gesprächen verbracht.“ Mindestens zwei Jahre werde es seiner Schätzung nach dauern, bis es eine Einigung geben könnte. Anfang März ist die nächste Verhandlungsrunde.

Es ist höchst fraglich, ob es in zwei Jahren dann einen neuen Vertrag geben wird, der das Klima schützt, statt es zu gefährden. Alle Vertragsparteien müssten der neuen Vertragsfassung zustimmen, doch die japanische Regierung teilte bereits 2019 mit, sie sei der Auffassung, „dass es nicht notwendig ist, die derzeitigen Bestimmungen des ECT zu ändern“.

Frankreich und Spanien erwägen Austritt

Entnervt von den zähen Verhandlungen griffen mehrere französische Minister zu einem ungewöhnlichen Mittel. In einem Brief an die Kommission, der Investigate Europe vorliegt, ließen sie den Streit um die Modernisierung eskalieren. In dem Schreiben heißt es, die Modernisierung werde „wahrscheinlich erst in einigen Jahren“ abgeschlossen sein. Auch seien die Ziele der EU „weit davon entfernt“, erreicht zu werden. Frankreich will deshalb einen „koordinierten Austritt“ aus der Energiecharta „öffentlich diskutieren“. 

Anfang Februar äußerte auch die spanische Regierung ihre Bedenken. Eine Einigung zu erreichen, die den Zielen des Pariser Abkommens entspreche, scheine “nicht möglich” zu sein, heißt es in einem Schreiben. Sollte es nicht gelingen, den Energiecharta-Vertrag in Einklang mit den europäischen Klimazielen zu bringen, sei ein Austritt die “einzige effektive langfristige Lösung”. 

Schon im vergangenen Herbst hatten knapp 100 EU-Parlamentarier in einem Brief an die Kommission, den Rat und die Mitgliedsstaaten gefordert, einen Austritt zu erwägen. Bei den Charta-Verhandlungen dürfen die Mitglieder des Parlaments nicht mitreden, ihnen bleibt nur die Öffentlichkeit zu suchen. In dem Brief heißt es, wenn der Vertrag nicht bis Ende 2020 modernisiert sei, müsse die EU die Energiecharta verlassen. Eine der Unterzeichnerinnen des Schreibens, die Grüne EU-Abgeordnete Anna Cavvazzini sagt: „Die Zeit läuft uns davon, wir müssen nach Wegen suchen, um eher früher als später auszusteigen.” Der Vorsitzende des mächtigen Handelsausschusses des EU-Parlaments Bernd Lange (SPD): “Die EU muss raus aus dem Energiecharta-Vertrag, denn ich sehe nicht, dass eine vernünftige inhaltliche Überarbeitung möglich ist.” Dann gibt es, so Lange, nur eine Konsequenz und zwar: “den Energiecharta-Vertrag kündigen”.

Längst hat die EU-Kommission eingesehen, dass die Reform scheitern könnte. In einer Antwort auf eine Frage aus dem EU-Parlament schreibt Handelskommissar Valdis Dombrovskis: „Wenn die Kernziele der EU, einschließlich der Angleichung an das Pariser Abkommen, nicht innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens erreicht werden, kann die Kommission erwägen, andere Optionen vorzuschlagen, einschließlich des Austritts aus dem ECT.“

Der lange Schatten eines Charta-Austritts

Doch ein sofortiger und vollständiger Austritt aus dem Vertrag ist gar nicht möglich. “Es wird für die EU-Staaten schwer sofort den Energiecharta-Vertrag zu verlassen“, sagt der Rechtswissenschaftler Markus Krajewski, der seit vielen Jahren zu Investitionsschutz forscht. Denn dafür haben die Konstrukteure des Energiecharta-Vertrags vorgesorgt. Artikel 47 des Abkommens sieht vor, dass wenn eine Vertragspartei die Charta verlässt, diese noch 20 weitere Jahre verklagt werden kann. Wissenschaftler sprechen vom Sonnenuntergangsartikel, Aktivistinnen von der Zombie-Klausel.

In den vergangenen Jahren verklagten in zwei Drittel aller Energiecharta-Verfahren EU-Investoren EU-Staaten. Nach Berechnungen von Investigate Europe gehören 90 Prozent der fossilen Infrastruktur in der EU einem ausländischen EU-Investor. Ein Abkommen zwischen den Mitgliedsstaaten würde also einen Großteil des Problems lösen. Doch dass es dazu kommt, ist höchst unwahrscheinlich. Seit Jahren schwelt ein Streit über die Vereinbarkeit des Vertrags mit EU-Recht, dabei stehen sich die EU-Staaten in zwei Fraktionen unversöhnlich gegenüber.

Im vergangenen Dezember bat die belgische Regierung nun den Europäischen Gerichtshof klarzustellen, ob die Energiecharta mit EU-Recht vereinbar sei. Ihr Urteil könnte zumindest die Anwendbarkeit des Energiecharta-Vertrags für Fälle zwischen Investoren aus der EU und EU-Staaten beenden. Die Energiecharta und das Schiedsgerichtssystem, das das Erreichen der Klimaziele bedroht, könnte also letztendlich zu Fall gebracht werden – von Richtern.