Energiecharta-Vertrag

Der kaum bekannte Energiecharta-Vertrag (ECT) erlaubt es Investoren EU-Staaten auf Milliardenentschädigungen zu verklagen, wenn diese notwendige Klimagesetze erlassen. Das könnte den Kampf gegen die Klimakrise entscheidend verzögern.

Februar 2021

Der kaum bekannte Energiecharta-Vertrag (ECT) könnte die EU-Staaten in den kommenden Jahren hunderte Milliarden Euro kosten und den Kampf gegen die Klimakrise entscheidend verzögern. Das ist das Ergebnis einer monatelangen "Investigate Europe"-Recherche. Unterschrieben haben den Energiecharta-Vertrag Anfang der Neunzigerjahre einst alle EU-Staaten, auch Deutschland. Einst sollte die Charta Investitionen in neuen Demokratien mit unsicherer Rechtslage schützen. Doch der Vertragstext ist vage formuliert. Deshalb können ihn heute auch Energieunternehmen nutzen, um EU-Staaten vor internationalen Schiedsgerichten auf Milliarden-Entschädigung zu verklagen, wenn Gesetzgeber neue Klimamaßnahmen beschließen. In den kommenden Jahren könnten Europas Staaten Milliarden an Entschädigung zahlen müssen oder aus Angst davor, geplante Klimagesetze aufweichen. Das ist kein fernes Zukunftsszenario. Es hat bereits begonnen.


Unsere Recherche zeigt, 
  • dass das Klagepotenzial unter der Energiecharta immens ist. Das berechnete “Investigate Europe” erstmals. Demnach beträgt der Wert der Öl- und Gas-Felder, der Kohlekraftwerke und Kohleminen sowie der Gaskraftwerke, Pipelines und Flüssiggas-Terminals in der EU, Großbritannien sowie der Schweiz, die durch den Energiecharta-Vertrag geschützt werden, 344,6 Milliarden Euro. Je Einwohner entspricht das mehr als 660 Euro.
  • dass vor allem der Wert der Ölfelder (126 Milliarden Euro) sowie der Pipelines (148 Milliarden Euro) zu dem hohen Wert fossiler Infrastruktur in Europa beiträgt. Das ist brisant, denn vielerorts in Europa werden momentan neue kostspielige Gas-Pipelines verlegt. Deren Investoren könnten künftig mit Hilfe der Energiecharta klagen, sollten Europas Staate aus dem Gas aussteigen und die Pipelines obsolet werden.
  • dass der Energiecharta-Vertrag einseitig ist. Nur Unternehmen können Klagen. Der schwammige Vertragstext legt zudem nicht fest, wie Entschädigungen berechnet werden sollen. Investoren können auch auf entgangene künftige Gewinne klagen. Das kann zu noch höheren Entschädigungsansprüchen führen. Hat ein Schiedsgericht einen Staat verurteilt, kann dieser kaum Einspruch einlegen.
  • dass allein die Möglichkeit einer Klage mittels der Energiecharta ausreicht, um von Staaten Entschädigung in Milliardenhöhe zu erhalten. Erst vor wenigen Wochen garantierte die Bundesregierung dem Kohle-Konzern Leag im Rahmen des Kohleausstiegs eine Entschädigung in Milliardenhöhe. Im Gegenzug gab Leag sein Recht auf mit Hilfe der Energiecharta zu klagen.
  • dass bereits eine Klagedrohung ausreicht, um die Klimapolitik von Staaten zu beeinflussen. Als die französische Regierung 2017 ein ambitioniertes Ölförderverbot vorbereitete, teilte der kanadische Ölkonzern Vermilion der Regierung mit, dass die Maßnahme gegen die Energiecharta verstoße. Das finale Gesetz enthielt dann deutlich schwächere Regelungen.
  • dass mittlerweile in zwei Dritteln der Energiecharta-Fälle Investoren aus der EU gegen EU-Staaten klagen, obwohl der Vertrag einst konstruiert wurde, um Investitionen in Staaten zu schützen mit unsicherer Rechtslage.
  • dass EU-Staaten im Umgang mit der Energiecharta uneins. Gemeinsam einigten sie sich zwar darauf, dass eine Vertragsreform notwendig sei und beschlossen Mitte Februar dieses Jahres eine Verhandlungsposition für die EU-Kommission, doch damit sind nicht alle Staaten zufrieden.
  • dass Frankreich und Spanien einen Austritt erwägen. Das zeigen Briefe, die Investigate Europe vorliegen.
  • dass selbst mit einer gemeinsamen EU-Linie unklar ist, ob eine Reform des Energiecharta-Vertrags gelingt. Denn der müssten alle Vertragsparteien zustimmen. Japan kündigte bereits an, jegliche Änderungen zu blockieren.
  • dass ein vollständiger sofortiger Austritt aus der Energiecharta unmöglich ist. Denn laut Vertragstext können Staaten nach Austritt 20 Jahre lang weiter weiter verklagt werden. Italien verließ den Vertrag 2016, wird aber seit 2017 von dem britischen Öl-Konzern Rockhopper verklagt. Die italienische Regierung hatte ein Verbot von küstennaher Ölförderung beschlossen.
  • dass an den Schiedsgerichten ein kleiner Zirkel von Anwälten tätig ist, die mitunter in den Verfahren mal als Schiedsrichter und mal als Anwalt fossiler Konzerne arbeiten. Im Gespräch mit “Investigate Europe” nennt ein Schiedsrichter dies unethisch. Die Gehälter der Schiedsrichter sind zudem nahezu unbegrenzt und werden auch aus Steuergeldern bezahlt.
  • dass selbst Juristen das System der Schiedsrichter und des Energiecharta-Vertrags längst kritisch sehen. In Gesprächen mit “Investigate Europe” bezeichneten sie dieses als “russisches Roulette” sowie als “historischen Fehler”.
  • dass Mitarbeiter in der Verwaltung des Energiecharta-Vertrages, dem sogenannten Sekretariat, enge Verbindungen zu fossilen Konzernen pflegen. Dabei sollen sie im Auftrag der Vertragsstaaten über die Energiecharta wachen, die Modernisierung betreuen sowie um neue Mitgliedsstaaten werben.
  • dass die Vertragsstaaten im Dezember 2019 zwar eine “vorübergehende Pause bei der Ausstellung von Einladungen zum Beitritt zum ECT” beschlossen haben, doch unklar ist, ob ein solcher Expansionsstopp tatsächlich erfolgt. Im Budget des Sekretariats für das Jahr 2021 wird weiterhin rund eine halbe Million Euro für Erweiterungspolitik veranschlagt. Momentan befinden sich 13 afrikanische Staaten im Beitrittsprozess. Kritiker warnen, dass sobald diese Staaten Vertragsmitglieder seien, eine “hohe Wahrscheinlichkeit” bestehe, dass sie ebenfalls verklagt werden.

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