ECT-Datenanalyse: Ergebnisse und Methoden

Credit: Alexia Barakou

Der Energiecharta-Vertrag erlaubt es Energieunternehmen, Staaten vor internationalen Schiedsgerichten auf Milliarden-Entschädigungen zu verklagen, wenn sie sich nicht fair behandelt fühlen. In Gesprächen mit Investigate Europe warnten zahlreiche Juristen, Wissenschaftlerinnen, Aktivisten sowie Politikerinnen davor, dass Unternehmen den Energiecharta-Vertrag in den kommenden Jahren nutzen könnten, um gegen Staaten zu klagen, sollten diese notwendige Gesetze erlassen, um aus fossilen Energieträgern auszusteigen. Die Analyse von Investigate Europe zeigt nun erstmals wie hoch das Potenzial möglicher Investoren-Klagen ist.

Die Summe von 344,6 Milliarden ist immens. Sie entspricht mehr als 2 Jahren der gesamten Ausgaben der Europäischen Kommission, dazu gehören alle Covid-19-Hilfspakete, alle Agrarsubventionen sowie Strukturfonds.

Betroffen von dem enormen Potenzial möglicher Energiecharta-Klagen sind Staaten überall in Europa. Allein in Großbritannien befindet sich fossile Infrastruktur im Wert von mehr als 140 Milliarden Euro, deren Eigentümer gegen den Staat vor internationalen Schiedsgerichten klagen könnten. Deutschland folgt mit 56 Milliarden, danach Frankreich, Italien, Dänemark sowie die Niederlande mit je mehr als 15 Milliarden Euro.

Rechnet man den Wert der Infrastruktur auf die Einwohner der Staaten um, zeigt sich, dass auch kleine Staaten massiv von möglichen Energiecharta-Klagen betroffen sein könnten. Entschädigungszahlungen könnten hier einen noch größeren Einfluss auf den Staatshaushalt haben. So kommt in Dänemark auf jeden Einwohner ein Infrastruktur-Wert von 2.700 Euro. In Malta und Estland sind es knapp 1.000 Euro. In Deutschland sind es 671 Euro. In der Analyse liegt der Durchschnittswert bei 660 Euro je Einwohner.

Die Analyse zeigt auch, dass der Wert der fossilen Infrastruktur ungleich auf die unterschiedlichen Sektoren verteilt ist. So sind Pipelines mit einem Wert von 148 Milliarden Euro der größte Sektor, gefolgt von Öl- und Gasfeldern, die einen Wert von 126 Milliarden Euro haben. Beide Sektoren machen alleine fast 80 Prozent des Werts der fossilen Infrastruktur in der EU, Großbritannien und der Schweiz aus, die durch die Energiecharta geschützt werden.

Brisant ist das vor allem, weil momentan überall in Europa zusätzliche Pipelines verlegt werden, die bald obsolet sein könnten. Dazu gehört etwa die Transadriatische Pipeline oder die Nord Stream 2. Sollten Europas Regierungen in naher Zukunft entscheiden, dass sie aus Kohle, Öl und Gas aussteigen müssen, könnten die Pipeline-Betreiber auf Milliarden-Entschädigung klagen.

Eine komplette Übersicht über die Daten nach Staaten und Sektoren können Sie hier herunterladen.

Wie haben wir die Daten ausgewertet?

Der Vertragstext der Energiecharta lässt offen, wie die Höhe der Entschädigungszahlungen ermittelt werden müssen. Deshalb unterscheidet sich die Berechnungspraxis der Schiedsgerichte mitunter deutlich. Investigate Europe hat für diese Analyse einen Investitionskosten-Ansatz gewählt, um den heutigen Wert der Gas- und Kohlekraftwerke, Flüssiggas-Terminals, Gaspipelines sowie Öl- und Gasfelder zu berechnen.

Aufgrund des vagen Vertragstextes können Investoren nicht nur auf Investitionskosten sondern auch entgangene Gewinnerwartungen klagen. Diese werden ihnen von Schiedsgerichte mitunter zugesprochen. Die tatsächliche Summe möglicher Entschädigungsforderungen könnte daher sogar noch höher sein, als hier von uns ermittelt.

Als Grundlage der Berechnung nutzte Investigate Europe Daten, die von den Analysediensten „Global Energy Monitor“ und „Oil Change International“ gesammelt und bereitgestellt wurden.

Während wir zu Öl- und Gasfeldern, Kohlekraftwerken und zu Gaskraftwerken, Flüssiggas-Terminals und Pipelines hinreichend gute Daten hatten, konnten wir den Kohlebergbau aufgrund nicht ausreichend guter Daten nicht in die Berechnungen aufnehmen.

Für unsere Analyse haben wir fünf verschiedene Kategorien fossiler Infrastruktur betrachtet:

Gas- Pipelines: 148,0 Mrd Euro, 42,9 % der Gesamtsumme, 283 Euro pro Kopf.

Pro Einwohner betrachtet, wird deutlich, dass auch kleinere Staaten wie Dänemark, Malte und Estland betroffen sind. In der Gesamtsumme fällt insbesondere Deutschland auf, wo die Pipelines das Gros des Werts der gesamten deutschen Energiecharta-Anlagen ausmacht.

LandMrd. €€ pro Kopf
Dänemark7.381267
Malta0.541046
Estland1.33998
Finnland4.06735
Österreich5.39605
Slowakei3.17580
Deutschland45.66549
Griechenland5.61523
Lettland0.86451
Schweden4.57442

Öl- und Gasfelder: 126,2 Mrd Euro, 36,6 % der Gesamtsumme, 242 Euro pro Kopf

Besonders auffällig sind hier die großen Werte für Großbritannien und Dänemark deren Öl- und Gas-Felder in der Nordsee zu Buche schlagen.

LandMrd. €€ pro Kopf
Großbritannien99.101479
Dänemark8.501459
Rumänien8.78454
Niederlande2.80161
Italien5.5793
Irland0.3162
Zypern0.0446
Slowenien0.0942
Deutschland0.8510
Tschechische Republik0.043

Gaskraftwerke: 33,5 Mrd Euro, 9,7 % der Gesamtsumme, 64 Euro pro Kopf.

Besonders auffällig sind hier die Niederlande mit den höchsten pro-Kopf-Wert von Gaskraftwerken.

LandMrd. €€ pro Kopf
Niederlande3.88223
Irland0.79158
Italien8.91149
Großbritannien9.45141
Belgien1.62141
Spanien4.6398
Ungarn0.8587
Griechenland0.6864
Slowakei0.3157
Rumänien0.5629

Kohlekraftwerke: 20,7 Mrd Euro, 6 % der Gesamtsumme, 40 Euro pro Kopf

LandMrd. €€ pro Kopf
Niederlande4.29246
Deutschland8.30100
Polen3.5794
Tschechische Republik0.6964
Kroatien0.1845
Bulgarien0.2434
Spanien0.9119
Großbritannien1.2619
Slowakei0.1017
Portugal0.1514

Flüssiggas Terminals: 16,3 Mrd Euro, 4,7 % der Gesamtsumme, 31 Euro pro Kopf.

LandMrd. €€ pro Kopf
Großbritannien9.18137
Zypern0.09100
Frankreich3.7756
Spanien2.5454
Finnland0.1833
Schweden0.088
Italien0.417

Methodik

Der ECT enthält keine expliziten Bestimmungen zur Berechnung von möglichem Schadensersatz. Mögliche Ansätze sind der jeweils aktuelle Wert einer Anlage oder die künftig zu erwartenden Gewinne. Wir haben uns hier entschieden dem ersten Ansatz zu folgen, da die zu erwartenden Gewinne eine deutlich unsichere Größe sind. Unser Ansatz führt zwangsläufig zu einem konservativen Ergebnis. Denn in Fällen, in denen der zu erwartende Gewinn höher ausfällt als die Investitionskosten, werden Investoren vor Schiedsgerichten die höhere Summe einfordern. Ansonsten würden sie bei dem Investitionskostenansatz bleiben.

Unsere Berechnungen haben wir ursprünglich in US-Dollar ausgeführt. Anschließend haben wir die Ergebnisse zu dem Satz 1 US-Dollar = 0.87 € umgerechnet (Quelle: Rechner der Europäischen Zentralbank, Durchschnitt vom 10.2.2020 – 8.2.2021). Für die Bevölkerungszahlen der Länder nutzten wir Daten von Eurostat, Stand 1.1.2020.

Betrachtete Länder und Anlagen

Unsere Untersuchung bezieht sich auf Anlagen in der EU, Großbritannien und der Schweiz. Als weiteres Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) und Unterzeichner der Energiecharta, hätten wir auch Norwegen in unsere Analyse mit aufgenommen, der Staat hat den Vertrag aber nie ratifiziert. Mit seinen vielen Öl- und Gasfeldern, an denen zahlreiche ausländische Investoren Anteile halten, wäre Norwegen stark von der Energiecharta betroffen.

Wir haben bei unserer Untersuchung auf Anlagen beschränkt, die zumindest einen Anteilseigner mit Sitz in einem anderen Energiecharta-Land haben. Anlagen, die also komplett in der Hand von inländischen Firmen, oder solchen mit Sitz außerhalb des ECT haben wurden nicht berücksichtigt. Dies ist eine konservative Annahme, da wir die Möglichkeit von Sitzverlagerung und Briefkastenfirmen nicht berücksichtigen. Mit solchen Maßnahmen ist es denkbar, dass eigentlich nicht vom ECT betroffene Anlagen dennoch unter den ECT fallen.

In unserer Analyse gehen wir von folgenden Mitgliedern des ECT aus:

Afghanistan, Albanien, Armenien, Aserbaidschan, Belgien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Georgien, Griechenland, Großbritannien, Großbritannien, Irland, Island, Japan, Jemen, Jordanien, Kasachstan, Kirgisistan, Kroatien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Mazedonien, Mongolei, Montenegro, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Republik Moldau, Rumänien, Schweden, Schweiz, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tadschikistan, Tschechische Republik, Türkei, Turkmenistan, Ukraine, Ungarn, Usbekistan, Weißrussland, Zypern

Obwohl Italien aus der Energiecharta ausgestiegen ist, haben aufgrund der 20-jährigen Übergangsfrist italienische Firmen weiter Klagerecht nach der Energiecharta. Auch fallen in Italien liegende Anlagen weiter unter die Energiecharta. Daher wird Italien in unserer Analyse genauso betrachtet wie andere ECT-Mitglieder.

Öl- und Gasfelder

Bei der Betrachtung der Öl- und Gasfelder beziehen wir uns auf eine Untersuchtung des Analysedienstes „Oil Change International“. Diese haben die Investitionskosten der letzten 20 Jahre als Maß für den aktuellen Wert des Feldes angenommen.

Gas Pipelines

Die Datengrundlage dieser Anlagen stammt vom Global Energy Monitor. Betrachtet werden Anlagen im Betrieb oder im Bau. Nicht berücksichtigt sind lokale Verteilungsnetze, für die nicht genug Daten vorliegen.

Bei multinationalen Pipelines wird die Länge der Pipelines auf verschiedene Länder verteilt. Hierbei wurde die jeweilige Länge aus dem Verlauf der Pipeline abgeschätzt

Der Wert einer Pipeline wird mit 5,04 Mio. US-Dollar pro Kilometer Länge abgeschätzt. Der Wert von Pipelines unterliegt keinem signifikanten Wertverlust.

Flüssiggas-Terminals (LNG)

Die Datengrundlage dieser Anlagen stammt vom Global Energy Monitor. Betrachtet werden Anlagen im Betrieb oder im Bau.

Der Wert wird abgeschätzt nach dem Typ des Terminals und der Kapazität in Millionen Tonnen pro Jahr (mtpa). Der Wert von LNG Terminals unterliegt keinem signifikanten Wertverlust.

Für Export-Terminals auf neuem Gelände („greenfield“) 1501 Mio US-Dollar pro mtpa. Für Export-Terminals auf bestehendem Geländer („Brownfield“): 458 Mio. US-Dollar pro mtpa. Für Terminals bei denen keine Informationen vorliegen, ob ein LNG-Terminal auf neuem oder alten Gelände gebaut wurde bzw. schwimmt: 458 Mio. US-Dollar. Für schwimmende Import-Terminals: 170 Mio. US-Dollar pro mtpa. Für land-basierte Import-Terminals: 247 Mio. US-Dollar pro mtpa.

Kohlekraftwerke

Die Datengrundlage dieser Anlagen stammt vom Global Energy Monitor. Betrachtet werden Anlagen im Betrieb oder im Bau.

Die Investitionskosten für ein Kohlekraftwerk werden mit 2 Mio US-Dollar pro MW installierte Leistung approximiert.

Die Lebenszeit eines Kohlekraftwerk wird mit 40 Jahren angenommen. Der Wert wird linear mit der Betriebszeit abgeschrieben. D.h. nach 20 Jahren noch 50% des Wertes. Der minimale Wert eines im betrieblichen Kohlekraftwerks wird mit 12.5% (5/40) angenommen, falls das Kraftwerk schon älter als 35 Jahre ist.

Gaskraftwerke

Die Datengrundlage dieser Anlagen stammt vom Global Energy Monitor. Betrachtet werden Anlagen im Betrieb oder im Bau.

Die Investitionskosten für ein Gaskraftwerk werden abgeschätzt mit 1,0 Mio. US-Dollar pro MW installierte Leistung bei Gas-und-Dampf-Kombikraftwerken (engl. Combined Cycle). Andere Gaskraftwerk-Technologien werden mit 0,5 Mio. US-Dollar pro MW abgeschätzt.

Die Lebenszeit eines Kohlekraftwerk wird mit 30 Jahren angenommen. Der Wert wird linear mit der Betriebszeit abgeschrieben. D.h. nach 15 Jahren noch 50% des Wertes. Der minimale Wert eines im betrieblichen Kohlekraftwerks wird mit 17% (5/30) angenommen, falls das Kraftwerk schon älter als 25 Jahre ist.