Europa steckt fest in einer toxischen Beziehung. Denn Landwirtinnen und Landwirte nutzen massiv Ackergifte, um Nahrungsmittel anzubauen und die Menschen in Europa zu ernähren. Der Pestizideinsatzes hat gefährlich Folgen und ist dennoch in großem Umfang erlaubt. Kann sich die EU von Pestiziden lösen, bevor es zu spät ist?
Mai 2022
Europa steckt fest in einer toxischen Beziehung. Denn Landwirtinnen und Landwirte nutzen massiv Ackergifte, um Nahrungsmittel anzubauen und die Menschen in Europa zu ernähren. Der Pestizideinsatzes hat gefährlich Folgen und ist dennoch in großem Umfang erlaubt. Kann sich die EU von Pestiziden lösen, bevor es zu spät ist?
“Wir befinden uns in einer Biodiversitätskrise. Arten sterben schneller aus als je zuvor in den 65 Millionen Jahren seit der Auslöschung der Dinosaurier durch einen Meteoriten. Und es geht immer schneller,” warnt der Biologieprofessor der Universität Sussex, Dave Goulson, der vor allem zu Insekten forscht. Die machen zwei Drittel aller bekannten Arten aus und seien auch entscheidend für den Bestand anderer Arten. Denn sie bestäuben Pflanzen.
Das immer mehr Arten verschwinden, hat auch damit zu tun, wie wir uns heute ernähren. Die heute produziert die industrielle Landwirtschaft unsere Nahrungsmittel – auch auf Kosten der Umwelt. Landwirte sprühen Pestizide und Düngemittel über riesige Landstriche, während Wälder für den Getreideanbau abgeholzt werden. Das zerstört Ökosysteme europaweit. Neben Ackergiften trägt auch der Klimawandel entscheidend zu der drohenden Katastrophe bei.
Monatelang haben die Reporterinnen und Reporter von Investigate Europe mit Forscherinnen, Landwirten, Politikerinnen und Industrievertretern gesprochen. Zusätzlich haben wir Lobbydokumente, Gesetzesunterlagen und wissenschaftliche Studien analysiert. Wir kamen zu einem eindeutigen Ergebnis: Der massive Einsatz von Ackergiften schadet Pflanzen, Tieren und sogar dem Menschen. Doch Europa verdrängt sein Pestizidproblem bislang. Die EU hat aktuell mehr als 400 verschiedene Ackergifte zugelassen. Der europäische Markt für Pestizide ist einer der größten der Welt. Im Jahr 2019 wurden Giftstoffe im Wert von zwölf Milliarden Euro gehandelt.
Dass dieses das Artensterben beschleunigt, wird bisher nur wenig erwähnt. Doch nun formiert sich Widerstand. Europäische Bürgerinnen und Bürger verlangen, dass sich etwas ändern muss. Die Initiative „Rettet Bienen und Bauern!“ unterschrieben mehr als eine Millionen Menschen. Sie fordert, den Einsatz chemischer Pestizide bis zum Jahr 2035 zu beenden. Unterdessen versuchen bereits erste Gemeinden in Europa, die Landwirtschaft ihrer Region neu auszurichten. Die Reporterinnen und Reporter von Investigate Europe besuchte Bauern von Portugal über Norwegen bis nach Polen und Griechenland. Sie klagten häufig, dass es noch an bezahlbaren Alternativen zu herkömmlichen Ackergiften mangele.
Nach langen Verschiebungen befasst sich nun auch die EU-Kommission mit dem Artensterben. Im Rahmen ihrer „Farm to Fork“-Strategie, auf deutsch „Vom Hof auf den Teller“, will sie den Pestizideinsatz innerhalb der EU bis 2030 halbieren. Mitte Juni legte Klimakommissar Frans Timmermans deshalb einen Vorschlag für eine Verordnung vor. Es wäre das erste EU-Gesetz, das Landwirte zu nachhaltigerem Wirtschaften verpflichtet. Doch ob es Wirklichkeit wird, ist nach Informationen von Investigate Europe höchst fraglich.
Denn in Brüssel haben Chemiekonzerne und Agrarlobby in den vergangenen Jahren eine Gegenbewegung formiert. Gemeinsam mit konservativen Politikerinnen und Politikern streiten sie dafür, dass Bauern in Europa weiter ungehemmt Ackergifte versprühen dürfen. Um dieses Ziel zu erreichen, argumentieren sie jüngst auch mit dem Krieg in der Ukraine. Ihre Logik: Die Abschaffung von Pestiziden würde geringere Ernteerträge riskieren und das in einer Zeit, in der die weltweite Nahrungssicherheit durch einen Krieg gefährdet sei.
Doch Wissenschaftler warnen, nun sei die Zeit, um weniger Pestizide einzusetzen und das Artensterben zu bremsen. Der Insektenforscher des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung, Josef Settele, prognostiziert, dass „die Nahrungssicherheit der gesamten Menschheit aufs Spiel gesetzt“ werde, wenn der Einsatz von Ackergiften nicht zeitnah deutlich reduziert werde.
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Lesen Sie die Ergebnisse unserer Recherche: Analysen, Reportagen, Interviews mit Wissenschaftlerinnen und Industrievertretern sowie Portraits von Landwirtinnen und Landwirten. Veröffentlicht werden unsere Berichte europaweit gemeinsam mit Medienpartnern sowie hier auf unserer Website.