Entgleist

Die EU hat 2021 zum "Jahr der Schiene" erklärt. Aber die europäischen Eisenbahnen bilden nur einen Flickenteppich und haben kein gemeinsames Streckennetz. Die EU-Länder investieren immer noch deutlich mehr Geld in die Straße als in die Schiene, obwohl der Verkehr dringend klimaneutral werden muss.

November 2021

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Die EU-Kommission hat 2021 zum "Jahr der Schiene" ausgerufen. Mit einer Fahrt durch 100 Städte zwischen Portugal, Slowenien und Frankreich sollte ein „Europa Express“ für eine neue Ära im europäischen Bahnverkehr werben. Doch die PR-Tour wurde zu einem Desaster. Der Werbezug demonstrierte das Versagen der EU-Regierungen in der Bahnpolitik. Für die Reise durch 26 Staaten über 33 Grenzen hinweg bedurfte es nicht weniger als 55 Lokomotiven. Denn auf Europas Schienen passt nichts zusammen.

Dabei überbieten sich EU-Politiker, wenn es darum geht, die Bedeutung der Schiene zu betonen für das Erreichen der Klimaziele. Zum Start des Sonderzugs sagte EU-Verkehrskommissarin Adina Valean: “Die Bahn ist die Zukunft, unser Weg zur Eindämmung des Klimawandels und zum Aufbau eines kohlenstoffneutralen Verkehrssektors.” Der Klimachef der EU-Kommission, Frans Timmermans, warnt “Wir müssen Kurzstreckenflüge einschränken und Reisen unter 500 Kilometer klimaneutral stellen.” Das bedeute “mehr Züge”.
 
In den vergangenen Monaten hat Investigate Europe recherchiert, warum trotz jahrzehntelanger Pläne und Ankündigungen das europäische Bahnnetz nur “ein ineffektives Flickwerk” ist, wie der Europäische Rechnungshof jüngst urteilte. Den Verantwortlichen bescheinigten sie mangelhafte Kooperation.

Warum ist das so? Wieso können Passagiere in Europa nicht einfach online ein Ticket von Berlin nach Barcelona kaufen? Warum gibt es kaum noch Nachtzüge, mit denen sich Flüge ersetzen lassen? Wer profitiert von den jahrzehntelangen Vernachlässigungen des Schienennetzes? Und wie ernst ist es den Verantwortlichen mit dem Versprechen etwas zu ändern?


Die Ergebnisse sind ernüchternd:

  • Eine Datenanalyse ergibt, dass die EU-Staaten noch immer deutlich mehr Geld in die Straße investieren als in die Schiene.
  • In den vergangenen 20 Jahren wurden 6.000 Kilometer an Gleisen stillgelegt.
  • Mit mehreren Richtlinien versucht die EU seit 2001 einen gemeinsamen europäischen Eisenbahnmarkt zu schaffen mit einheitlicher Technik. Doch die EU-Staaten sabotieren den Bau eines einheitlichen Signalsystems. Nationale Bahnlinien schotten ihre Märkte voneinander ab statt grenzüberschreitende Verbindungen anzubieten.
  • Investigate Europe gelang es, mehrere Beispiele für sogenannte Nichtangriffsvereinbarungen zwischen nationalen Bahnkonzernen zu dokumentieren. Darin verständigen sich die Unternahmen auf eine friedliche Koexistenz und vermeiden so Wettbewerb, der zu mehr Angeboten für Kunden führen würde.
  • Europaweit bestellen Bahnkonzerne noch immer Züge, die ausschließlich auf ihren nationalen Netzen eingesetzt werden könnten. Grenzüberschreitender Verkehr ist mit diesen überhaupt nicht möglich.
  • Mit neuen Vorschriften versuchen EU-Staaten ihre Märkte zu schützen. In mehreren EU-Staaten müssen Lokführer die Landessprache auf fortgeschrittenem Niveau sprechen, um internationale Züge fahren zu dürfen. Eine einheitliche Sprachregelung wie im Flugverkehr gibt es nicht.
  • Deutschland und Frankreich haben im Rat der EU systematisch eine Gesetzesinitiative blockiert, die zu mehr Fahrgastrechten führen sollte. Das führt dazu, dass Passagiere bis heute auf keiner Website alle Fahrzeiten und Ticketoptionen für eine Reise durch Europa finden können.  
  • In den vergangenen Jahrzehnten strichen die Bahnkonzerne fast überall in Europa ihr Nachtzugangebot ersatzlos. Dabei werden diese dringend benötigt, um Flüge zu ersetzen.
  • Statt Projekte zu finanzieren, welche die Situation ein europäisches Bahnnetz ad hoc verbessern würden, investieren die EU-Staaten Milliarden in ineffiziente Großprojekte, urteilte der Europäische Rechnungshof. Im Gespräch mit Investigate Europe kritisierten Prüfer die „unkoordinierten Arbeiten“ scharf.
  • Insbesondere im Fernverkehr herrscht der Druck, dass Bahnunternehmen vor allem Profit erwirtschaften sollen. Das führt zu absurden Resultaten. Für die 600 Kilometer lange Verbindung zwischen Lissabon und Madrid müssen Passagiere dreimal umsteigen und rund elf Stunden in Zügen sitzen.

Lesen Sie unsere Recherche-Ergebnisse hier auf unserer Website und bei unseren Medienpartnern. Dies ist eine laufende Recherche, die regelmäßig aktualisiert wird.

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