24. Oktober 2023

Milliarden für den Aggressor

Von

Pascal Hansens || ""
Pascal Hansens
Sigrid Melchior || ""
Sigrid Melchior
Maxence Peigné || ""
Maxence Peigné
Harald Schumann || ""
Harald Schumann
Trotz des Ukrainekrieges und der Sanktionen gegen Russland verkaufen russische Bergbaukonzerne weiterhin unbeschränkt kritische Rohstoffe an die EU-Industrie, und das ist auch so gewollt – eine Analyse von Investigate Europe
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 haben die 27 EU-Staaten elf Sanktionspakete gegen den Aggressor verabschiedet. Öl, Kohle, Stahl, Holz und vieles andere darf seither nicht mehr mit Russland gehandelt werden. Aber eine große Lücke im Sanktionsregime blieb: Rohstoffe, die als „kritisch“ oder „strategisch“ eingestuft werden - 34 an der Zahl – kauft die EU-Industrie weiterhin im großen Still bei russischen Produzenten.

Während einige der westlichen Verbündeten der Ukraine Russlands Bergbausektor mit Sanktionen belegt haben – Großbritannien etwa hat kürzlich den Import von russischen Kupfer, Aluminium und Nickel verboten -, setzt die EU den Handel fort. Airbus und andere europäische Unternehmen kaufen mehr als ein Jahr nach der Invasion immer noch Titan, Nickel und andere Rohstoffe von Firmen, die dem Kreml nahestehen.

So importierte die EU vom März 2022 bis zum Juli 2023 Rohstoffe im Wert von 13,7 Milliarden Euro aus Russland (siehe Grafik). Das ergab eine Auswertung der Daten von Eurostat und der Gemeinsamen Forschungsstelle der EU. Demnach flossen auch in diesem Jahr bis Juli bereits 3,7 Milliarden Euro aus der EU in russische Kassen, ein Drittel davon allein für Nickel, das für den Korrosionsschutz für Stahl gebraucht wird.

Auf die Frage, warum nicht auch der Import dieser Rohstoffe aus Russland verboten wurde, antwortet David O'Sullivan, der EU-Sonderbeauftragte für Sanktionen lakonisch: „Eben weil sie kritisch sind.“ Unverzichtbar sind sie vor allem für Elektronik, Solarpaneele und Elektroautos, und damit für die Umsetzung der europäischen Klimaziele. Mindestens so wichtig sind sie auch für die Flugzeug- und Rüstungsindustrie, und damit letztlich auch die Waffenproduktion für die Ukraine.
Die Erlöse aus den Exporten in die EU kommen allerdings Kreml-nahen Oligarchen und Staatskonzernen zugute und finanzieren Russlands Kriegswirtschaft. Die USA und Großbritannien haben deshalb mehrere dieser Unternehmen direkt sanktioniert. Die EU dagegen setzte zwar deren Anteilseigner auf die Sanktionsliste, nicht aber die Bergbauunternehmen selbst.

Darum konnte etwa die Firma Vsmpo-Avisma, der weltweit größte Hersteller des Leichtmetalls Titan, nach Angaben des russischen Zolls zwischen Februar 2022 und Juli 2023 Titan im Wert von mindestens 308 Millionen Dollar in die EU verkaufen. Das Unternehmen befindet sich teilweise im Besitz des russischen Rüstungskonzerns Rostec, das vom selben Manager geführt wird: Sergej Tschemesow, einem engen Verbündeten Putins.

Sowohl Tschemesov als auch Rostec unterliegen den Sanktionen der EU. Die Tochter Vsmpo-Avisma dagegen darf frei handeln, obwohl sie „direkt an der Produktion von Titanprodukten für das russische Militär beteiligt“ ist, wie die US-Regierung schrieb.

Einer der größten europäischen Kunden ist Airbus. Seit Kriegsbeginn hat der EU-Flugzeug- und Rüstungskonzern Titan im Wert von mindestens 22,8 Millionen Dollar aus Russland importiert, vier Mal soviel den 13 Monaten zuvor. „Zu den Details unserer Titanbeschaffungsmengen können wir uns nicht äußern“, erklärte dazu ein Airbus-Sprecher. Der Konzern sei aber dabei dabei, „seine Abhängigkeit von Russland zu verringern“, nur werde „das einige Zeit dauern“.

Nornickel, weltweit führender Hersteller von Palladium und Nickel, exportierte seit Kriegsbeginn bis Juli 2023 über Tochtergesellschaften in der Schweiz und Finnland Nickel und Kupfer im Wert von 7,6 Milliarden Dollar in die EU. Weitere drei Milliarden Dollar nahm das Unternehmen mit dem Verkauf von Palladium, Platin und Rhodium an EU-Kunden über den Flughafen Zürich ein. Im Jahr 2022 erzielte Nornickel so fast 50 Prozent des gesamten Umsatzes. Brüssel hat weder den Konzern noch seinen Vorsitzenden und größten Anteilseigner Wladimir Potanin, einen Oligarchen und ehemaligen stellvertretenden Premierminister, mit Sanktionen belegt, die von den USA und Großbritannien verhängt wurden.

Auch der Aluminiumriese Rusal nutzt Steuerfluchtzentren, um Mineralien nach Europa zu schleusen, wo er in Irland die größte Aluminiumoxidraffinerie der EU betreibt. Seine auf Jersey und in der Schweiz ansässigen Handelshäuser brachten in den 16 Monaten nach dem Einmarsch in der Ukraine Aluminium im Wert von mindestens 2,6 Mrd. Dollar in die EU. Im August 2023 erklärte Rusal, dass Europa immer noch ein Drittel seiner Einnahmen ausmache. Den Hauptaktionär von Rusal, der Oligarch Oleg Deripaska, belegte die EU mit Sanktionen, seine Firma nicht.

Zu den europäischen Käufern russischer Metalle gehören seit Kriegsbeginn auch das deutsche Unternehmen GGP Metallpulver (Kupfer im Wert von 66 Millionen Dollar), der französische Rüstungskonzern Safran (Titan im Wert von 25 Millionen Dollar) und die griechische Elval Halcor (Aluminium im Wert von 13 Millionen Dollar). Das niederländische Logistikunternehmen C. Steinweg handelte im Auftrag seiner Kunden ebenfalls mit verschiedenen kritischen Metallen im Wert von mindestens 100 Mio. Dollar.
Zwischen März 2022 und Juli dieses Jahres importierte Europa kritische und strategische Rohstoffe im Wert von 13,7 Milliarden Euro aus Russland.Alexia Barakou

Safran bestätigte, dass es weiterhin Titan von Vsmpo-Avismo bezieht, aber daran arbeitet, seine Einkäufe in Russland zu reduzieren. GGP Metal Powder sagte: „Es gibt keine echte Alternative zu unserem Lieferanten aus Russland“. C. Steinweg sagte, man halte sich an alle Regeln und Sanktionen. Elval Halcor, Vsmpo-Avisma, Rusal und Nornickel antworteten nicht auf Bitten um Stellungnahme.

All diese Firmen seien „Teil des Systems und heizen Putins Krieg an“, kritisiert Roland Papp, Senior Policy Officer von Transparency International. „Daher wäre es nur logisch, diese kritischen Rohstoffe aus Russland zu verbannen, wie wir es auch bei anderen Sektoren und Waren getan haben.“ Die lähmende Abhängigkeit hätte schon früher eingedämmt werden müssen, meint er. „Wir hatten genug Zeit, um zu reagieren. Die Annexion der Krim war im Jahr 2014. Aber wir haben unsere Abhängigkeit von Russland erhöht. Das war ein schwerer Fehler.“

Warum das bis heute weiter läuft, dazu wahren die Verantwortlichen bei EU-Kommission und  -Regierungen peinliches Schweigen. Ein EU-Beamter, der aber nicht genannt werden will, erklärte das gegenüber IE so: „Die Sanktionen sind sorgfältig darauf ausgelegt, ihre Ziele zu erreichen und gleichzeitig die Interessen der EU zu wahren.“

Ein polnischer Diplomat sagte, gleichfalls nur anonym, seine Regierung habe sehr wohl die EU gedrängt, sich „vollständig von Russland abzukoppeln, aber im Interesse der Einheit und der Effizienz bei der Verabschiedung neuer Sanktionspakete haben wir uns darauf geeinigt, bestimmte Maßnahmen bis zur weiteren Diskussion zu verschieben.“ Diskussionen hat es also durchaus gegeben, aber nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Tatsächlich wäre der Ausstieg aus der Rohstoffbeschaffung in Russland schwierig. Zu Beginn des Krieges war Europa für 30 Prozent seines Nickelverbrauchs, 35 Prozent des Bedarfs an Tonerde und 15 Prozent der Aluminiumimporte auf russische Produzenten angewiesen, wie aus einem internen Vermerk der Handelsorganisation Eurometaux hervorgeht, der von IE eingesehen wurde. Auf Russland entfielen zudem 41 prozent der weltweiten Produktion von Palladium und bis zu 25 Prozent der von Vanadium. Ein zu schneller Abbruch der Beziehungen könnte zu einem weltweiten Preisanstieg führen, der den europäischen Abnehmern zwar schaden aber dem Regime in Moskau sogar nutzen würde.

Darauf deuten auch die jüngsten UN-Handelsdaten hin. Demnach ging zwar das Volumen der EU-Einfuhren von russischem Nickel und Aluminium in den letzten zwei Jahren zurück, weil einige Unternehmen freiwillig zu anderen Lieferanten wechselten. Doch die Einnahmen für die russischen Exporteure blieben stabil. Ihre Nickelverkäufe in die EU hatten in der ersten Hälfte des Jahres 2021 einen Wert von einer Milliarde Dolar, zwei Jahre später waren es immer noch 1,1 Milliarden Dollar.
Da für EU-Sanktionen Einstimmigkeit zwischen allen Mitgliedstaaten erforderlich ist, führen einzelne nationale Wirtschaftsinteressen zusätzlich zur Verwässerung der Sanktionsmaßnahmen. Als das neunte Sanktionspaket im Dezember 2022 Investitionen in den russischen Bergbausektor verbot, geriet auf diesem Weg eine weitere erstaunliche Ausnahmeregelung für einige wichtige Rohstoffe hinein. Infolgedessen können europäische Unternehmen weiterhin Geld in russische Minen investieren, um Nickel, Titan und andere wichtige Metalle zu fördern – und so die Abhängigkeit gar noch vergrößern.

Die Europäische Union versucht allerdings, das Dilemma grundsätzlich anzugehen. Dafür legte die Europäische Kommission im März einen Entwurf den Entwurf für eine „Verordnung über kritische Rohstoffe“  vor (Critical Raw Materials Act, CRMA), der die Abhängigkeit von einzelnen Lieferstaaten mittels Förderung des Bergbaus in Europa und Diversifizierung der Handelspartner verringern soll. Die EU-Abgeordnete Hildegard Bentel (CDU), Berichterstatterin für das Gesetz für die konservative Fraktion, ist fest entschlossen, dies auch gegen die Abhängigkeit von Russland  einzuestzen. „Krieg in Europa ist ein Risiko, das es in den letzten Jahrzehnten nicht gab, und Russland war als zuverlässiger Lieferant bekannt“, sagt sie. Aber jetzt müsse die EU „unverzüglich Maßnahmen ergreifen, um europäische Unternehmen dabei zu unterstützen, ihre Lieferungen kritischer Rohstoffe aus Russland so schnell wie möglich zu reduzieren und zu ersetzen.“

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