25. September 2024

Blinde Flecken im europäischen Rechtsstaat – wie die EU-Kommission die nationalen Regierungen beim Bruch der Umweltgesetze schont

Von

Harald Schumann
Harald Schumann
Pascal Hansens
Pascal Hansens
Die EU-Kommission soll als "Hüterin der Verträge" die Einhaltung des europäischen Rechts in allen Mitgliedsstaaten sicherstellen. Aber damit nehmen es die Beamten unter Präsidentin von der Leyen nicht so genau. Besonders bei Umweltvergehen lassen sie nationale Regierungen ungestraft davon kommen, obwohl der europäischen Gerichtshof diese bereits als Rechtsbrecher verurteilt hat – und das in manchen Fällen schon vor mehr als zehn Jahren.
Dieser Artikel erschien leicht gekürzt auch bei unserem Medienpartner Süddeutsche Zeitung. 

Wenn es um die Verteidigung der europäischen Grundwerte geht, dann spart Ursula von der Leyen nicht an Pathos. "Der Rechtsstaat und der Kampf gegen die Korruption werden im Kern unserer Arbeit stehen", versprach sie bei ihrer Antrittsrede im Europäischen Parlament zur erneuten Kandidatur für die Präsidentschaft der EU-Kommission im Juli.  Ganz ähnlich lautete auch schon das Versprechen zu Beginn ihrer ersten Amtsperiode: "Bei der Achtung des Rechtsstaates" werde es "niemals Kompromisse" geben, deklarierte sie. "Justitia ist blind - sie verteidigt die Rechtsstaatlichkeit, wo immer sie angegriffen wird."

Das klingt gut. Doch in der Praxis halten sich von der Leyen und ihre Beamten längst nicht immer daran. Das belegen die Daten über die laufenden sogenannten Vertragsverletzungsverfahren, die Investigate Europe ausgewertet hat. Demnach verschont die Kommission in mehr als 40 Fällen die verantwortlichen Regierungen vor Bestrafung, obwohl die Richter am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg urteilten, dass die jeweiligen nationalen Regierungen das EU-Recht brechen. Vor allem beim Verstoß gegen die  EU-Umweltgesetze verzichten Präsidentin von der Leyen und ihre Beamten auf ihr schärfstes Instrument: Anstatt die Rechtsbrecher mit hohen Geldstrafen zu belangen, gewähren sie ihnen viele Jahre lang Aufschub.

"Die Kommission sollte sicherstellen, dass alle verabschiedeten EU-Gesetze in allen Mitgliedstaaten vollständig durchgesetzt werden, aber das tut sie nicht", beklagt der Grüne Europaabgeordnete Daniel Freund. So erfülle die Kommission "systematisch ihre Aufgabe als Hüterin des Vertrags nicht".

Verfahren wegen Vertragsverletzung, so schreibt es der EU-Vertrag vor, kann die Kommission eröffnen, wenn die Regierung eines Mitgliedsstaates sich weigert, EU-Gesetze durchzusetzen. Das beginnt stets mit ausführlich begründeten schriftlichen Mahnungen. Bleiben diese erfolglos, legen die Beamten in der Regel Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg ein. Das geschah im Jahr 2023 immerhin 82 mal. In den meisten Fällen geben die Richter den Kommissaren Recht und fordern die Regierungen auf, den Rechtsbruch zu beenden. Aber immer wieder kommt es vor, dass die nationalen Ministerien und Behörden dem höchstrichterlichen Urteil nicht folgen. Dann bleibt der EU-Zentralbehörde nur noch ein Mittel: Ihre Beamten können die jeweilige Regierung mittels eines weiteren Gerichtsurteils mit Geldstrafen von mehreren hundert Millionen Euro jährlich belegen und diese notfalls über die Kürzung von Fördergeldern eintreiben.

"Justitia ist blind - sie verteidigt die Rechtsstaatlichkeit, wo immer sie angegriffen wird."

Ursula von der Leyen

Doch merkwürdig: Von diesem Recht macht die Kommission sehr willkürlich Gebrauch. 

Sehr schnell lief das etwa beim Verfahren gegen die frühere polnische Regierung, als deren Gesetze die Unabhängigkeit der Richter des Landes aufhoben. Dagegen legte die von-der-Leyen-Kommission im April 2021 Klage beim EuGH wegen Verletzung des EU-Vertrages ein. Im Juli des Jahres urteilten die Richter, die polnische Regierung müsse die umstrittene Justizreform aussetzen. Weil die Regierenden in Warschau dem Urteil nicht folgten, klagte die Kommission schon zwei Monate später auf Verhängung einer Geldstrafe. Daraufhin verurteilte das Gericht die polnische Regierung zu Strafzahlungen von einer Million Euro täglich.

Ganz anders dagegen geht die EU-Behörde vor, wenn die Regierungen die Gesetze zum Schutz der Umwelt im EU-Binnenmarkt brechen. 
Geradezu absurd ist etwa der Fall Nummer 2290 gegen Irland. Dessen Regierungen weigern sich seit mehr als 40 Jahren, die per EU-Gesetz vorgeschriebenen Schutzgebiete für bedrohte Vögel auszuweisen. Nach vielen Jahren vergeblicher Verhandlungen verklagte die Kommission dann im Jahr 2004 den Staat Irland und die Richter verurteilten das Land im Jahr 2007 umgehend "alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen", um den Schutz der bedrohten Vogelarten sicherzustellen.

Doch das ist bis heute nicht geschehen. Die irische Regierungen legt zwar immer wieder mal "Fortschrittsberichte" vor. Nach Angaben eines beteiligten Mitarbeiters hält die zuständige Abteilung diese aber bis heute für unzureichend. So gibt es etwa keinen wirksamen Plan zum Schutz der Kornweihe, einer bedrohten Raubvogelart, von der es nur noch 100 Brutpaare gibt, 60 Prozent weniger als 20 Jahre zuvor. Und das ist nur eine von vielen bedrohten Arten. Die Umweltorganisation "BirdWatch Ireland" berichtete, dass 63 Prozent aller Vogelarten Arten in Irland einen Rückgang ihrer Populationen verzeichnen, davon ein Viertel in gravierendem Ausmaß.

Eine Geldstrafe müssen die Iren gleichwohl nicht fürchten. Zwar hatten die Kommissionsbeamten im Jahr 2009 noch formal damit gedroht. Aber dabei blieb es. Über die Gründe für diesen Langmut verweigert die Behörde jedoch die Auskunft. Und das nicht nur in in diesem Fall. Generell gebe man über anhängige Verfahren keine Informationen, sagte ein Sprecher. Sogar dann, wenn der Rechtsbruch schon seit einem Vierteljahrhundert andauert. 

Die Kommission sollte sicherstellen, dass alle verabschiedeten EU-Gesetze in allen Mitgliedstaaten vollständig durchgesetzt werden, aber das tut sie nicht.

Daniel Freund, Grüne Europaabgeordnete

Sind Umweltgesetze zweitrangig?

 
Keines der übrigen Verfahren ist so alt das gegen Irland. Aber wie viele andere folgt es einem Muster: Beim Schutz der Umwelt und der Artenvielfalt nimmt es die Kommission unter Präsidentin von der Leyen mit dem Rechtsstaat nicht so genau. So gab es zum Stichtag 1. Juli 44 Verfahren gegen insgesamt 15 Mitgliedsstaaten, die keine Geldstrafen zahlen müssen, obwohl der EuGH sie bereits seit langem wegen Vertragsverletzung verurteilt hat. Und 33 davon betreffen EU-Gesetze gegen die Verschmutzung von Luft, Gewässern und Böden sowie den Arten- und Tierschutz. 
Mit gleich sieben Verurteilungen führt Griechenland die Rangliste der gerichtlich festgestellten Umweltsünder unter den EU-Staaten an, gefolgt von Italien und Spanien mit jeweils sechs und fünf EuGH-Urteilen wegen Verstoßes  gegen Umweltgesetze. Die Spanne ihrer Vergehen reicht von gefährlichen Giftmülldeponien über fehlende Kläranlagen für die kommunalen Abwässer bis  zum Versagen beim Naturschutz.

Spektakulär ist in Spanien der Fall des weltbekannten Doñana National Parks in Andalusien, dem einst 50.000 Hektar großen Feuchtgebiet im Delta des Flusses Guadalquivir, der Millionen Zugvögeln und vielen seltenen Arten Schutz bot. Wegen der Wasserentnahme für Landwirtschaft und Tourismus trocknet das Gebiet jedoch zusehends aus. Schon im Juni 2021 verurteilte darum das EU-Gericht in Luxemburg die spanische Regierung, gegen die auch nach spanischem Recht viele hundert illegalen Brunnen der ansässigen Landwirte vorzugehen. Doch die Regierung blieb untätig. Die konservative andalusische Regionalregierung forderte sogar, die legal bewässerte Fläche auszudehnen und  Schuldigen eine Amnestie zu erteilen. Erst nach Protest der UNESCO will die Regierung nun das illegal bewässerte Land wieder renaturieren und den Tätern für den Verzicht auf auch ihren Raubbau am Weltnaturerbe 100 000 Euro pro Hektar zahlen. 

Die Wicklow Mountains in Irland.

In Irland gibt es nur noch etwa 100 Brutpaare der Kornweihe.

Noch schwerer wiegt die gesundheitsgefährdende Luftverschmutzung in vielen Städten. Seit 2020   verurteilte der Gerichtshof bereits elf Mitgliedsstaaten für die anhaltende Überschreitung der gesetzlichen Schadstoffgrenzwerte. Für keinen davon hat der fortgesetzte Rechtsbruch bisher Konsequenzen, die Kommission hält still. 

Dazu zählt auch die deutsche Bundesregierung.  Diese verurteilten die EU-Richter schon 2021 für die "systematische und anhaltende Überschreitung der Grenzwerte für Stickstoffdioxid in bestimmten Gebieten". Aber das Problem hält bis heute an. Im Juli bestätigte das Berliner Oberverwaltungsgericht auf Klage der Umweltorganisation "Deutsche Umwelthilfe" (DUH) erneut, dass die Maßnahmen der Bundesregierung nicht ausreichen, um die EU-Vorschriften einzuhalten.  Aber die Kommission hat trotzdem bisher nicht einmal mit Strafzahlungen gedroht und weigert sich, die Gründe dafür zu nennen. Nach Angaben der EU-Umweltagentur verursacht die hohe Stickoxid-Belastung in einigen deutschen Städten rund 28.000 vorzeitige Todesfälle im Jahr. "Da ist es doch verrückt, dass wir vor Gericht die Einhaltung der EU-Grenzwertvorgaben einklagen müssen, weil die Bundesregierung auf Druck der Dieselkonzerne untätig bleibt und die EU-Kommission sich weigert, diesen Rechtsverstoß abzustellen", empört sich DUH-Chef Jürgen Resch.

Paul Speight, Referatsleiter bei der Kommission für die Einhaltung von Umweltvorschriften, bestreitet gleichwohl, dass seine Institution "allgemeine Prioritäten für Verstöße nach Politikbereichen festgelegt" habe. Vielmehr würden die Verfahren beim EU-Umweltrecht eben länger dauern, weil sie komplex seien und nicht durch die Verabschiedung eines einfachen Gesetzestextes gelöst werden könnten. Daher müsse eine "angemessene Frist" eingeräumt werden. "Dies erforderte manchmal die Aussetzung bestimmter Fälle oder die Wiederholung eines Verfahrensschrittes, um ausreichende Beweise zu sammeln, wie in den Fällen zur Luftqualität", rechtfertigt Speight. Die Belege dafür bleibt seine Behörde aber schuldig. Den Antrag von Investigate Europe auf Einsicht in die entsprechenden Unterlagen lehnte die Kommission pauschal ab. 

Die verzögerten Maßnahmen und die fehlende Transparenz der Kommission bei der Durchsetzung des EU-Rechts hält die EU-Bürgerbeauftragte Emily O'Reilly für besorgniserregend. Ihr Büro erhalte "regelmäßig Beschwerden über Verzögerungen bei der Bearbeitung von Vertragsverletzungsbeschwerden durch die Europäische Kommission und über die Art und Weise, wie sie mit den Beschwerdeführern kommuniziert, stellte O'Reilly im Juli fest und startete ein Ermittlungsverfahren. 

Die Entscheidungen über die Verfahren wegen Rechtsbruch und Vertragsverletzung fällen zumeist Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und ihren Rechtsberater.

Proteste in Krakau gegen die Entscheidung der früheren Regierung, dass die polnische Verfassung Vorrang vor dem EU-Recht hat.

Politische Arbitrage


Betreibt die Kommission also politische Willkür bei der Durchsetzung des EU-Rechts? Keiner der Verantwortlichen mag offen dazu Stellung nehmen. Aber im Gespräch mit Investigate Europe bestätigte ein hochrangiger Mitarbeiter aus dem Stab der Kommission, dass die Entscheidungen über die Verfahren zur Vertragsverletzung sehr stark "politisiert" seien. In Ländern etwa, wo nationale Parlamentswahlen anstehen, verzichte man tunlichst darauf, den Gerichtshof anzurufen oder ein Verfahren voranzutreiben. Da gebe es immer "ein gewisses Maß an politischer Opportunität". Und die Entscheidungen fallen zumeist im Kabinett von Ursula von der Leyen, bestätigen mehrere Quellen.

So trifft ein kleiner Zirkel von Beamten Entscheidungen von kardinaler Bedeutung jenseits demokratischer Kontrolle. "Wir haben ein Monster geschaffen, eine hochgradig politisierte Kommission mit extremer Ermessensbefugnis, ohne jegliche Kontrollmöglichkeiten für die Bürger", beschreibt Alberto Alemanno, einer der führenden Europarechtler und Professor an der Pariser Wirtschaftsuniversität HEC, diese Entwicklung. Gravierend sei vor allem, dass der EuGH der Kommission einen fast "bedingungslosen Ermessensspielraum" eingeräumt habe, ob und wann ein Mitgliedstaat wegen eines Verstoßes gegen das EU-Recht verfolgt werden soll. "Wenn man aber einer Institution uneingeschränktes Ermessen einräumt, ohne sie für ihr Handeln zur Rechenschaft zu ziehen, wirft dies ein großes Problem hinsichtlich der demokratischen Legitimität auf", erklärt der EU-Jurist. Die Folge sei "Selbstgefälligkeit", da die Mitgliedstaaten erkennen, dass ihnen, selbst wenn sie sich nicht an die Regeln halten, "in den meisten Fällen nicht viel passieren wird". 

Den Weg zur Lösung des Problem kann darum vermutlich nur das Europäische Parlament weisen. Die Chance dazu haben die Abgeordneten durchaus. Am 11. Juli 2024 forderte das Präsidium, also die Vizepräsidenten aus allen Fraktionen, das Rahmenabkommen über die Zusammenarbeit zwischen Kommission und Parlament aus dem Jahr 2010 grundlegend zu überarbeiten. Eines der Hauptziele soll es sein, die Kommission gegenüber dem Parlament verstärkt rechenschaftspflichtig zu machen.

Käme es dazu, könnten die Kommissare den notorische Rechtsbruch der nationalen Ministerien nicht länger schützen.

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