27. April 2023

Europas löchrige Kreislaufwirtschaft

Von

Nico Schmidt || ""
Nico Schmidt
Wojciech Cieśla || ""
Wojciech Cieśla
Die EU will die Plastikproduktion massiv reduzieren und stattdessen mehr Altkunstoff recyceln. Doch auf dem Weg zur Kreislaufwirtschaft handelt sie zögerlich und setzt auf umstrittene Technologien.
Kleine Plastikfetzen kleben an seinen Schuhen, während Kenneth Bruvik durch den Sand stapft entlang der norwegischen Westküste. An diesem kalten Aprilmorgen erinnert er sich, wie er das erste Mal an den kleinen Strand außerhalb Bergens kam, um Kunststoff zu sammeln. „Ich habe geweint“, sagt Bruvik. Er habe damals die Plastikflaschen und Tragetaschen gesehen, die sich über den Strand gelegt und zwischen Felsspalten gesammelt hatten. Wo das Wasser sie zerreibt, bis nur noch die Fetzen bleiben.

In Norwegen funktioniert das Plastiksammelsystem gut. Doch was hilft das Bruvik, wenn anderswo Menschen ihren Abfall statt in Mülleimer auf Parkwege werfen. Den spülen die Wellen hier an – aus Portugal, Spanien, Großbritannien oder gar aus Nordamerika. Bruvik unterbricht seinen Strandspaziergang, starrt auf einen kleinen Berg Plastikflaschen und diktiert dann: „An alle, die diese Einwegflaschen produzieren, hört auf damit!“

Kenneth Bruvik sammelt Plastik entlang Bergens Küste.Amund Trellevik

Ein paar tausend Kilometer südöstlich in einer griechischen Abfallverwertungsanlage nahe Athens, öffnen wenige Tage später Arbeiter mehrere Container. Darin versteckt sich deutscher Müll am Ende einer langen Reise. Ein deutscher Zwischenhändler hatte den Abfall zu einem Recyclingunternehmen in die Türkei schicken wollen. Doch das hatte seine Lizenz verloren. Die Behörden des Lands ließen den Müll nach Vietnam weiterleiten. Der griechische Zoll stoppte schließlich die Lieferung.
Die Plastikballen wirken unverdächtig. Doch Proben ergaben, dass der Abfall in den 37 Containern zu verschmutzt sei, um weiterverarbeitet zu werden. „Dieser Müll kann überhaupt nicht recycelt werden“, sagt der Chef jener Arbeiter, die nun die Container ausräumen, Yannis Polychronopoulos. Nach geltendem Recht hätte Deutschland den Müll zurücknehmen müssen, doch die Bundesregierung weigerte sich beharrlich. Nun werden griechische Zementfabriken das Plastik bald verbrennen.

Von Norwegen bis Griechenland, von Portugal bis Polen. Europa hat ein massives Plastikproblem. Der Kontinent versinkt in Joghurtbechern, Milchtüten und Shampooflaschen. Monat für Monat hinterlässt jede Europäerin und jeder Europäer durchschnittlich drei Kilogramm Plastikmüll. Diese Menge könnte sich bis zum Jahr 2060 verdreifachen, prognostizieren bereits die Ökonomen der OECD.

Unterdessen vermeldet die EU „Recyclingrekorde“. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. In der EU werden nur lediglich 40 Prozent des Altplastiks recycelt. Der Rest wird entweder verbrannt oder landet im Wasser sowie in den Böden. Mikroplastik, entweder aus größeren Stücken zerkleinert oder bereits so etwa für Kosmetik hergestellt, ist mittlerweile fast überall zu finden: im Meer, auf Bergen, im arktischen Eis, im Trinkwasser.
Monatelang haben die Journalistinnen und Journalisten von Investigate Europe recherchiert, wie es um die europäischen Kunststoffstrategie steht. Sie besuchten Müllverbrennungsanlagen, Recyclinghöfe sowie Menschen, die auf neue Technologien setzen sowie jene, die an diesen zweifeln. Am Ende fanden sie heraus, dass:

  • Die EU und die europäischen Regierungen seit Jahren loben, dass sie sich auf dem Weg in eine Kreislaufwirtschaft befinden. Dabei hintergehen sie die Bürgerinnen und Bürger. Denn Plastikabfälle werden noch immer vor allem entsorgt und wenig wiederverwertet.
  • Europäische Staaten verbrennen mehr Altplastik als sie recyceln. Ungeachtet dessen bauen nun manche Regierungen ihre Müllverbrennungskapazitäten massiv aus – kofinanziert mit EU-Geldern.
  • Die für eine Kreislaufwirtschaft notwendige Technologie nicht existieren oder bisher kaum erprobt sind, wie das chemische Recycling. So lassen sich von der EU geplante Quoten kaum oder nicht erreichen.

Europa verbrennt immer mehr Plastik


Im Dezember 2015 präsentierte der damalige Kommissionsvize Frans Timmermans den Aktionsplan Kreislaufwirtschaft der EU. Der schwärmte damals, dass das Paket konkrete Schritte enthalte, um „den Kreis zu schließen“. Zu den mehr als 50 Aktionspunkten gehörten vage Absichtserklärungen wie „Halte die Meere sauber“. In den folgenden Jahren bewegten sich vor allem die Lobeshymnen im Kreis, welche die Kommission auf sich selbst und auf ihre Initiativen sang. Eine davon , die sogenannte “Circular Plastics Alliance”, präsentierte Timmermans im Jahr 2018. Damals rühmte er: „Europa führt“.

Doch heute, fünf Jahre später, bewegt sich das europäische Plastik statt im Kreis noch immer auf einer Linie. Die führt von der Produktion in ein Supermarktregal und über den Küchenkühlschrank in den Plastikmüll und von dort direkt in eine Verbrennungsanlage. Dort holte die „thermische Verwertung“ aus dem Plastik etwas Energie.

Bis zum Jahr 2018 exportierten die EU-Staaten ihren Müll vor allem nach Asien. Doch seit einem chinesischen Importstopp und härteren Regeln müssen sie neue Abnehmer finden. Das sind oft die Betreiber der Müllverbrennungsanlagen. Die verfeuerten in den vergangenen Jahren so immer häufiger selbst sauber getrennten Plastikmüll. Zwischen 2010 und 2020 verdoppelte sich der Anteil des vorsortierten Plastiks, der zu Brenngut wurde – auf 23,2 Prozent.
60 Prozent von Europas Verpackungsmüll aus Plastik wird nicht recycelt.Shutterstock

Allein in Deutschland verbrennen jeden Tag 100 Müllverbrennungsanlagen sowie Ersatzbrennstoffkraftwerke Tausende Tonnen Plastik. In Europa stehen insgesamt mehr als 500 dieser Anlagen. Deren Betreiber lassen sich das Geschäft mit der Müllverbrennung gut absichern. Denn Gemeinden müssen mit den Abfallunternehmen langfristige Verträge unterschreiben und sich darin verpflichten, pro Jahr eine festgelegte Menge Abfall zu liefern. Geschieht das nicht, drohen hohe Vertragsstrafen. „Das erzeugt einen Lock-in-Effekt, der verhindert, dass wir mehr dafür tun, Abfall zu vermeiden oder zu recyceln“, sagt der wissenschaftliche Koordinator der NGO Zero Waste Europe, Enzo Favoino. In Großbritannien wirbt die Nichtregierungsorganisation UKWin inzwischen dafür, dass Kommunen diese „schädigenden Abfallmangementverträge“ neu verhandeln sollen.

Wie Müllverbrennung das Recycling gefährdet


Wollen Gemeinden Geldstrafen vermeiden, müssen sie die Anlagen stetig mit Plastikmüll füttern. Für sie besteht somit kein Anreiz den Abfall zu sortieren. Darauf deutet auch eine Untersuchung des Umweltverbandes NABU hin. In kreisfreien Städten mit Müllverbrennungsanlagen betrage der Restmüll durchschnittlich 204 Kilogramm pro Kopf. Dort wo keine Anlage den Müll verbrennt, fällt pro Einwohnerin und Einwohner nur durchschnittlich 173 Kilogramm Restmüll an.

Die Müllverbrennung ist nicht nur ein Problem für die EU-Vision einer Kreislaufwirtschaft, sondern möglicherweise auch für die Menschen, die nahe den Anlagen wohnen. Denn es gibt Indizien dafür, dass dort deutlich bestimmte Schadstoffe in deutlich erhöhten Mengen auftreten. Viele Daten fehlen. Denn rund um Verbrennungsanlagen müssen Schadstoffe nur lückenhaft oder teilweise gar nicht gemessen werden. Auch weil die deutsche Regierung schärfere Standards blockierten.

So berieten Vertreter der EU-Staaten vier Jahren lang in Sevilla gemeinsam mit Industrie und Zivilgesellschaft über die „bestverfügbaren Technologien“. Dabei ging es auch darum, wie die Folgen der Verbrennung zu messen. Während der Gespräche forderte Frankreich unterstützt von weiteren Staaten, die bisher nur halbjährlichen Messungen der Dioxin- und Furan-Belastung rund um die Verbrennungsanlagen deutlich auszuweiten. So sollten die Anlagenbetreiber laut dem Vorschlag künftig die Schadstoffe kontinuierlich überwachen. Denn Giftstoffe entweichen nur selten dann aber massiv, etwa wenn eine Anlage nach einer Wartung oder einem Störfall wieder hochfährt. Das Argument der Franzosen: Die spärlichen Messungen können solche Zwischenfälle kaum erfassen. Doch die neuen Standards kamen nicht. Deutschland blockierte den Vorstoß. Das bestätigten mehrere Personen im Gespräch Investigate Europe, die an den Beratungen teilnahmen. Für Deutschland verhandelte unter anderem der Abfallexperte des Umweltbundesamtes, Markus Gleis. Er bestätigt Investigate Europe, dass er die französische Initiative nicht mitgetragen hat. „Für eine Entscheidung wurden uns die entsprechenden Daten zu spät zur Verfügung gestellt“, sagt Gleis. „Wir hatten keine Möglichkeit sie zu überprüfen.“ Fortwährende Messungen bleiben somit nur eine freiwillige Option und keine Pflicht.

Die Müllverbrennungsanlage in Brescia, ItalienLorenzo Buzzoni

Messungen finden nicht nur selten sondern teilweise gar nicht statt. So weigern sich Behörden oder Anlagenbetreiber bestimmte Messmethoden anzuwenden, mit denen die Menge potenziell krebserregenden Stoffe genauer nachgewiesen werden könnte. „Die Instrumente existieren aber bereits“, sagt der Leiter der niederländischen Stiftung Toxicowatch, Abel Arkenbout. „Aber bisher tauchen sie nicht in den EU-Regularien auf. Das sollte sich ändern.“ Dass genauere Messungen notwendig sind, belegt eine Studie, die Arkenbouts Organisation unlängst veröffentlichte. Ihr Inhalt ist spektakulär. Arkenbout untersuchte dafür Hühnereier, Moose sowie Piniennadeln nahe Verbrennungsanlagen in Spanien, Frankreich, Litauen und Tschechien. Er fand, dass die Dioxinwerte enthielten deutlich über den gesetzlichen Grenzwerten. Dioxine können potenziell Krebs erzeugen.

“Manchmal wissen die Betreiber, dass ihre Anlage nicht reibungslos funktionieren“, sagt Arkenbout. Momentan untersuche er eine Verbrennungsanlage nahe Paris. Die Daten würden zeigen, dass der Betrieb unregelmäßig laufe. „Im Betriebsablauf gibt es viele Gelegenheiten, bei denen Dioxine freigesetzt werden können.“

Andere Wissenschaftler weisen darauf hin, dass nicht alle Arbeiten Arkenbouts von Fachleuten begutachtet worden sind. Diese Kritik weist Arkenbout zurück: “Ich denke, wir sollten nicht die Einzigen sein, die diese Arbeit machen”, sagt er. “Es muss mehr Leute geben, mehr Regierungen, die sich mit der Verschmutzung durch Verbrennungsanlagen beschäftigen.” Konfrontiert mit den Studienergebnissen verweist der europäische Branchenverband CEWEP darauf, dass die Dioxinbelastungen nicht zwangsläufig durch die Verbrennungsanlagen verursacht sein müssen.

Giftige Rückstände auch im Straßenbau


Auch fern der Müllverbrennungsanlagen finden sich noch deren giftige Rückstände. Pro Tonne Abfall spucken die Anlagen etwa 300 Kilogramm Stäube und Schlacken aus. Die sind mitunter hochgiftig. Oft werden sie deshalb auf Müllhalden verklappt. Teilweise aber auch in den Tragschichten unter Landstraßen und Autobahnen wegasphaltiert. “Dort ist Müllverbrennungsasche nicht gut aufgehoben”, sagt der Umweltingenieur Peter Gebhardt. “Der Asphalt wird irgendwann porös, Wasser sickert ein und könnte die Giftstoffe weiterspülen.”

Das alles scheint die Regierungen mehrerer EU-Staaten wenig zu kümmern. Sie treiben den Bau zahlreicher Abfallverbrennungsanlagen im Eiltempo voran. Alleine in Polen sollen in den kommenden Jahren 39 neue Anlagen entstehen. Entgegen ihrer Versprechungen einer Kreislaufwirtschaft, mischt hier auch die EU mit. Sie kofinanziert den Bau der Anlagen mit Geldern der Europäischen Investitionsbank, die knapp 1,3 Milliarden Euro zur Verfügung stellt. Auch in Tschechien sollen fünf neue Anlagen entstehen. Deren Kapazität übersteige laut lokalen Aktivisten deutlich die Abfallmenge, die das Land verbrennen dürfe, wenn es die EU-Recyclingquoten erreichen wolle.

In den Abfallverbrennungsanlagen von Schweden bis Spanien landet der Abfall auch deshalb, weil die Möglichkeiten der Abfallsortierung begrenzt sind. Die Maschinen scheitern daran, das Material im Kreis zu halten. Es entwischt und landet schließlich in den Verbrennungsanlagen.

Michael Stechert vor Plastikballen auf dem Hof seiner RecyclinganlageNico Schmidt

Davon kann auch Michael Stechert erzählen. Der leitet ein Recyclingwerk am südlichen Rand des Naturparks Westhavelland. Ende März deutet er auf einen mannshohen Ballen vor der Sortierhalle. Darin verpresst sind Scampi-Dosen, Schweppes-Flaschen und Bonbon-Papier. Stecherts Unternehmen importiert den Müll aus Frankreich, den Niederlanden oder, wie diesen Ballen, aus Norwegen. Von dem Plastik können seine Maschinen nur ein knapp Drittel zweifelsfrei sortieren und dann später recyceln. Die Anlage sortiert die restlichen zwei Drittel aus. Weil es sogenannte “Fehlwürfe” sind, also gar kein Plastik ist, oder weil es Plastik ist, das nicht recycelt werden kann.

Seit Jahren nimmt die Menge der sogenannten Multilayer-Verpackungen zu. Bei diesen Produkten zum Beispiel Ketchupflaschen oder Käseschalen, sind mehrere Plastikschichten miteinander verklebt. Die haben unterschiedliche Schmelzpunkte. Stecherts Maschinen können sie nur schwer bis kaum recyceln. “Wir arbeiten innerhalb der Grenzen, die uns die Physik vorgibt”, sagt er. “Unser Ziel ist, den Anteil der Gemische so gering zu halten wie möglich.” Alles, was die Maschinen aussortieren, wird verbrannt.

Eine neue Technologie und viele Hoffnungen


So entsteht eine riesige Lücke im Plastikkreislauf. Die wollen andere schließen und haben mit einem neuen Verfahren ein vermeintlichen Geschäftsmodell aufgetan. Einer von ihnen ist Markus Klatte. Mit einer neuartigen Recyclingtechnologie will er den Markt revolutionieren. An einem sonnigen Aprilmittag blickt er vom Dach seiner Anlage hinab auf den Industriepark im Westen Frankfurts, in dem einst die Höchst AG die deutsche Plastikproduktion antrieb. Heute will Klatte mit seinem Unternehmen auch deren Erbe bewältigen. Die Unmengen Plastik, die in Verbrennungsanlagen verfeuert werden.

Klattes Firma, Arcus Greencycling, betreibt seit wenigen Monaten eine der ersten Pyrolyse-Anlagen in Deutschland im Industriemaßstab. Bei dem chemischen Recyclingverfahren wandelt die Anlage Altplastik zu Öl. Das könne anschließend von Chemiekonzernen genutzt werden, um neues Plastik herzustellen. “Wir können da helfen, wo das klassische Recycling nicht weiterkommt”, schwärmt Klatte, während er an Beuteln mit verschmutztem Plastik vorbeischreitet. Die Anlagen herkömmlicher Recyclingbetriebe würden daran scheitern, das zu verwerten. “Die Recyclingquoten in Europa sind schlecht”, sagt Klatte. “Wir wollen dabei helfen. Wir brauchen das chemische Recycling.”

Darauf setzt auch die Großindustrie. Zwar läuft Klattes Anlage momentan noch im Probebetrieb. Doch BASF hat mit ihm bereits einen Vertrag geschlossen mit der Option bis zu 100.000 Liter Pyrolyseöl abzunehmen.

Ein Kampf der Chemielobby


In Brüssel wirbt die Chemielobby bei der EU aggressiv für das Verfahren. „Wir können den Kreis schließen“, wirbt der Branchenverband bereits im Jahr 2019 während eines Treffens mit der Kommission. Das zeigen Unterlagen, die Investigate Europe vorliegen. Während eines weiteren Treffens wirbt der Verband mit massiven Investitionen. Bis 2030 sollen 7,2 Milliarden Euro in neue Anlagen fließen. Die sollen ein Drittel des recycelten Plastiks in Europa. Die Botschaft der Lobby: Weniger Verbrennung, weniger Öl-Importe, weniger CO-2-Emissionen.

Doch das Verfahren ist umstritten. “Bislang ist vollkommen unklar, wie nachhaltig die Pyrolyse ist”, sagt der Experte für Chemisches Recycling bei der Brüsseler NGO Zero Waste Europe, Janek Vähk. “Die Klima- und Umweltbilanzen sind bislang vollkommen unbekannt”. Auch Julia Vogel, die für das Umweltbundesamt (UBA) zu chemischem Recycling arbeitet ist skeptisch. “Es gibt noch viele unbeantwortete Fragen”, sagt sie. “Eine Konkurrenz zu bestehenden Recyclingtechnologien sollte vermieden werden.” Denn für sie ist längst nicht erwiesen, dass Pyrolyse-Anlagen tatsächlich stark verschmutztes Plastik verarbeiten können.

Das UBA startete deshalb im Jahr 2020 ein Forschungsprojekt zu der neuen Technologie. Das soll 2024 abgeschlossen sein. In einem ersten Bericht heißt es: “Aufgrund der prekären Datenlage ist eine Bewertung der Verfahren des chemischen Recyclings aktuell aber noch schwierig.”

Ungeachtet all dieser Ungewissheiten setzt die EU-Kommission fest auf die Technologie. Laut ihrem Vorschlag für eine neue Verpackungsverordnung sollen neue Lebensmittelverpackungen ab 2030 mindestens zu zehn Prozent aus Altplastik bestehen. Doch dabei gibt es ein Problem. Wenn altes Plastik in neuen Käse- oder Wurstverpackungen enthalten sein soll, muss das Verfahren dafür von der EU-Kommission genehmigt werden. Für diese Entscheidungen beruft sich die Kommission auf Empfehlungen der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA). Doch nach Informationen von Investigate Europe hat die EFSA bisher keine herkömmliche Recycling-Technologie empfohlen für den Einsatz von Altplastik in Lebensmittelverpackungen. Entsprechende Anträge liegen auch nicht vor. Die strengen Regeln gelten allerdings nicht für Plastik aus dem chemischen Recyceln. Das könnte dazu führen, dass Verpackungsproduzenten ab 2030 auf Plastik aus Anlagen wie jener von Markus Klatte angewiesen sind – trotz vieler offener Fragen.

Eine Ende des Wachstums


Mangelhafte Recyclingquoten und zweifelhaften Verfahren beschäftigten Helmut Maurer viele Jahre von Dienstbeginn bis Dienstende und häufig darüber hinaus. In der EU-Kommission arbeitete er fast zwei Jahrzehnte lang in den zuständigen Abteilungen mit. Im vergangenen Juli ging er in den Ruhestand. Doch das Thema blieb. Heute hinterfragt er nicht nur der einzelnen Entscheidungen der Kommission, er zweifelt an der Annahme, auf diese alle getroffen werden: Dem europäischen Green Deal.

“Der Green Deal verspricht, dass die europäische Wirtschaft immer weiter wachsen und die Menschen immer weiter konsumieren können – nur nachhaltig”, sagt Maurer im Gespräch mit Investigate Europe. “Aber es gibt kein System mit endlosem Wachstum.” Die EU halte an unrealistischen Recycling-Zielen fest. Damit blockiere sie die Müllvermeidung. Zu oft setze sie am Anfang des Kreises an, sagt Maurer. Vielmehr müssten die Verpackungspreise wiedergeben, welche Folge der Plastikrausch für das Klima und die Umwelt habe. Nur so könne man sicherstellen, dass in der EU so wenig Plastik wie möglich produziert werde. “Die eigentliche Antwort muss sein Plastikmüll zu vermeiden.”

Das könnte der Beginn sein eines Weges hin zu einer kleineren Kreislaufwirtschaft. In der weniger Plastik produziert wird, weniger Plastik auf dem Hof des Havelländer Recyclingunternehmens landet oder schließlich in Verbrennungsanlagen überall in Europa verschwendet. Dann müssten griechische Hafenarbeiter nicht mehr illegale Ladungen aus Deutschland entsorgen, und Kenneth Bruvik könnte entlang an der norwegischen Küste spazieren, ohne Plastikmüll an seinen Füßen.

Diese Recherche wurde unterstützt durch das Earth Investigations Program des Journalismfunds.

Grenzüberschreitende Recherchen aus einem Europa im Wandel, in Ihrem Postfach.