26. Oktober 2023

Wie Europa gegen die Abhängigkeit von Chinas Rohstofflieferungen kämpft

Von

Nico Schmidt || ""
Nico Schmidt
Die EU ist mehr auf kritische Rohstoffe aus China angewiesen als einst auf russisches Öl und Gas. Eine neue Initiative soll das ändern und könnte zur Rückkehr des Bergbaus in der EU führen.
In Nordschweden zieht in diesen Tagen eine Stadt um. Im Auftrag der staatlichen Bergbaugesellschaft LKAB siedeln 6.000 Menschen und mit ihnen die Stadt Kiruna um einige Kilometer weiter nach Osten. Denn nach Jahrzehnten des Bergbaus drohte die Stadt zu versinken. Auch, weil hier die Kumpel bald mit dem Abteufen neuer Schächte beginnen und die Rückkehr des europäischen Bergbaus einleiten sollen. Unter Kiruna wurde eines der größten Vorkommen an Seltenen Erden entdeckt, von denen die Zukunft ganz Europas abhängt.

Die Bagger könnten bald auch durch die nordportugiesische Region Barroso rollen. Dabei hatte die UN die Region noch 2018 als "weltweit bedeutendes System des landwirtschaftlichen Erbes" gelobt. In den seichten Hügeln nahe der Felder lebten noch "Tierarten, die für den Naturschutz äußerst wichtig sind". Das könnte sich bald ändern. Der britische Bergbaukonzern Savannah Resources hält eine Lizenz zum Abbau von Lithium in der Region. Der Konzern verspricht: Genug, um jährlich 500.000 Elektroautos zu betreiben.

Szenen wie in Kiruna und Barroso könnten sich bald an vielen Orten in Europa ereignen. Denn die EU steht unmittelbar vor der Rückkehr des Bergbaus. Ohne kritische Rohstoffe wie Seltene Erden oder Lithium können keine Windräder Strom erzeugen und keine Elektroautos über unsere Straße fahren. Ohne sie wird der Umbau der europäischen Wirtschaft scheitern. Doch die Lieferketten nahezu aller kritischen Rohstoffe werden von China kontrolliert. Das akzeptierten europäische Staats- und Regierungschefs lange ebenso wie europäische Unternehmer, die sich mehr um günstige Preise kümmerten als um eine sichere Versorgung. Nun wachen sie auf. Eine große Gesetzesoffensive soll die EU und ihre Wirtschaft absichern. Doch kann das gelingen? Das Journalistenteam Investigate Europe hat in den vergangenen Monaten europaweit zu den Ursachen und Folgen des geplanten Bergbaubooms recherchiert.

Ende März, kurz vor ihrer ersten China-Reise als EU-Kommissionspräsidentin, sprach Ursula von der Leyen ungewohnt deutlich über das Verhältnis der EU mit dem Xi-Regime. "Das Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle überlagert inzwischen die Logik freier Märkte und offenen Handels", sagte sie während einer Veranstaltung des Zentrums für Chinastudien Merics.

China verwandle sich langsam in einen autoritären Staat, der Diktatoren hofiere und den Freihandel den eigenen politischen Zielen unterordne. Eine Gefahr für Europa. "Wir leben in einer Zeit, in der wir von einem einzigen Lieferanten abhängig sind - China", warnte von der Leyen. "Für 98 Prozent unseres Bedarfs an Seltenen Erden, 93 Prozent des Magnesiums und 97 Prozent des Lithiums."
Die chinesische Koktokay-Mine liefert kritische Rohstoffe wie Beryllium und LithiumShutterstock

Jahrzehntelang hatte die chinesische Regierung daran gearbeitet, diese Abhängigkeiten aufzubauen. Schon 1987 verkündete der damalige Präsident, Deng Xiaoping: "Der Nahe Osten hat Öl. China hat Seltene Erden." Heute kontrolliert China die gesamte Lieferkette vieler kritischer Rohstoffe vom Abbau bis zur Verarbeitung.

In den vergangenen Monaten drohte China immer offener, diese Abhängigkeit auch politisch zu nutzen. Erst vergangene Woche kündigte die Regierung in Peking an, dass Graphitexporteure ab Anfang Dezember eine Genehmigung benötigen, wenn sie den Rohstoff ausführen wollen. Allein bei der Graphitverarbeitung hat China einen weltweiten Marktanteil von 90 Prozent. Ohne das Material könnten Autozulieferer keine Batterien mehr produzieren. Ohne Chinas Wohlwollen für der Umbau der europäischen Autoindustrie abrupt zum Stillstand kommen. Chinesische Behörden ließen mehrere Anfragen von Investigate Europe unbeantwortet.
Vom Abbau bis zur Produktion kontrolliert China die Lieferketten vieler Rohstoffe

Ohne den Guten Willen der Xi-Regierung wäre Europas Wirtschaft gefährdet

In ihrer Rede Ende März präsentierte Kommissionschefin nun ihre Strategie, wie Europa diese Gefahr entschärfen können - griffig zusammengefasst in einem Wort: De-Risking. Dahinter verbirgt sich der Plan, dass EU-Staaten neue Lieferketten erschließen, die künftig nicht mehr über China laufen.

Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hatten die EU-Staats- und Regierungschefs bereits ein Jahr zuvor die Kommissionspräsidentin dazu gedrängt, eine sichere Rohstoffversorgung aufzubauen. In einem internen Papier des Rats der EU heißt es: "Die russische Aggression gegen die Ukraine hat diese strategischen Abhängigkeiten noch deutlicher gemacht. Sie hat als Warnung vor noch größeren Schwachstellen beim Zugang zu wichtigen Ressourcen gedient, mit denen die EU in Zukunft konfrontiert sein könnte. Die Abhängigkeit von China ist bei mehreren kritischen Rohstoffen noch größer als bei russischem Gas und Öl."

Europa schlafwandelte in den vergangenen Jahrzehnten in die chinesische Abhängigkeit. Damit sollte nun Schluss sein. Kurz vor von der Leyens Rede veröffentlichte die EU-Kommission ihren Vorschlag für ein neues Gesetz, das Europa verändern könnte. Der sogenannte "Critical Raw Materials Act" sieht nicht weniger vor, als die Rückkehr des Bergbaus. Künftig sollen EU-Staaten zehn Prozent ihres Bedarfs an kritischen Rohstoffen selbst abbauen.

In den vergangenen Monaten passierte das Papier die Brüsseler Institutionen im Eiltempo. Der Rat der EU legte im Juni seine eigene Position vor. Im September stimmten in seltener Einigkeit alle Fraktionen des EU-Parlaments für eine gemeinsame Position. Üblicherweise vergehen in Brüssel meist etwa 18 Monate, bis aus einem Vorschlag ein Gesetz wird. Bleibt es bei dem ambitionierten Plan, dass sich Kommission, Rat und Parlament bis Ende des Jahres auf einen Kompromiss einigen, wäre es nur die Hälfte der Zeit.
Der bereits große Bedarf kritischen Rohstoffen wird in den kommenden Jahren laut Prognosen massiv zunehmen. Die Kommission verleiht dieses Label 34 Materialien "von großer wirtschaftlicher Bedeutung" mit einem "hohen Risiko von Versorgungsunterbrechungen". Darunter auch Graphit, Kobalt und Kupfer. Für das Erreichen ihrer Klimaziele benötigt die EU im Jahr 2050 bis zu 26-mal mehr Seltene Erden und bis zu 35-mal mehr Lithium als noch im Jahr 2020.

Auf das neue Bergbauzeitalter ist Europa unzureichend vorbereitet. In den vergangenen Jahrzehnten bauten EU-Staaten ihre Bergwerksexpertise ab. Das zeigt eine Analyse von Investigate Europe der Besitzstruktur der weltweit 200 größten Bergbaukonzerne. Demnach besitzen nicht-europäische Eigentümer 85 Prozent der Unternehmen. Vermutlich würden es somit australische, kanadische oder chinesische Kumpel sein, die künftig zwischen Polen und Portugal Lithium oder Seltene Erden fördern.

Seit den Achtzigerjahren seien zudem kaum noch Explorationsarbeiten durchgeführt worden, sagt der Vorsitzende des Europäischen Verbandes der Bergbauindustrie, Euromines, Rolf Kuby. "Wir können nur ein Bergwerk eröffnen, das erkundet wurde." Der griechische Explorationsgeologe Alecos Demetriades fordert, dass die EU-Staaten systematisch ihre Vorkommen erkunden müssen, "damit wir in den nächsten zehn bis 15 Jahren finden, was wir brauchen." Doch dafür benötige es ausreichend Finanzmittel.

"Wir haben keine Kriegskasse wie die USA oder China"

Ranghoher Mitarbeiter der EU-Kommission

Schon im vergangenen Jahr forderte die EU-Ratspräsidentschaft "große Investitionen", um neue Lieferketten aufzubauen. Doch von der Leyens "Critical Raw Materials Act" hat kein eigenes Budget. Das trifft auf das Unverständnis der Bergbaukonzerne. Der Euromines-Vorsitzende Kuby fordert Unterstützung mindestens "hoch genug, um den chinesischen Subventionen gerecht zu werden oder mit dem Inflation Reduction Act vergleichbar zu sein." Mit dem Gesetzespaket stellt die US-Regierung fast 370 Milliarden Dollar bereit, um den Wandel des Energiesektor anzutreiben. Die Kommission wehrt solche Forderung ab. Ein ranghoher Mitarbeiter von der Leyens sagt: "Wir haben keine Kriegskasse wie China oder die USA."

Die Abwesenheit einer gemeinsamen Finanzierung führt nun dazu, dass einzelne EU-Staaten eigene Förderinitiativen starten. Im März kündigte in Frankreich die Macron-Regierung einen 500-Millionen-Euro-Fonds an, der "Paris' Aufstieg zum führenden europäischen Standort für nachhaltige Bergbaufinanzierung" ankurbeln soll. Unterdessen plant die Bundesregierung eine eigenen Rohstofffonds in Höhe von einer Milliarde Euro. Diesen Subventionswettlauf betrachten andere EU-Staaten mit Sorge. Sie fürchten, dass vermögende Regierungen die eigenen Unternehmen mit kritischen Rohstoffen versorgen, während andere Staaten nur zuschauen können. Portugals Energie-Staatssekretären Ana Fontoura warnt: "Die EU als Ganzes muss Anreize für die europäische Industrie schaffen. Sie darf keine internen Ungleichgewichte erzeugen."

Neben fehlenden Finanzmitteln fürchten Bergbaukonzerne ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu neuen Lieferketten. In Europa vergehen zwischen erster Erkundung und Bergwerkseröffnung bis zu 20 Jahre. Die EU-Kommission will dies nun ändern und den Zeitraum künftig auf zwei Jahre abkürzen. Mitgliedsstaaten müssten dann die Verfahren für ausgewählte "strategische Projekte" massiv beschleunigen.

Die Beschleunigung könnte auf Kosten der Umwelt gehen, warnt der Geograf am Turiner Polytechnikum, Alberto Valz Gris. "Wenn Staaten getrieben von der Not Gesetze lockern, bleiben Menschen sowie Ökosystem auf der Strecke", sagt Valz Gris. In den Augen der Behörden könnten kleine Gemeinschaften dann nur mehr "austauschbare Flächen" zu sein.
Unter Kiruna lagern riesiege Seltenerdvorkommen

Wehrt sich gegen den Verlust ihres Landes: Samen-Sprecherin Karin Niia

Im nordschwedischen Lappland ist Valz Gris' düstere Prognose bereits Wirklichkeit. Wegen neuer Bergbaupläne verlieren Samen dort Land rund um Kiruna, auf dem sie seit Jahrzehnten leben. "Sie haben unsere Seen trockengelegt, in denen wir gefischt haben. Sie haben uns das Land genommen, auf dem unsere Rentiere weideten", sagt eine Sprecherin der Samen, Karin Niia. "Wir mussten unsere Dörfer verlassen." Der Präsident des schwedischen Samen-Parlaments, Håkan Jonsson, warnt vor den Umweltfolgen mit drastischen Worten. Im Gespräch mit Investigate Europe sagte er: "Für uns wird der grüne Umbau zu einer schwarzen Transformation."

Ähnliches könnte bald Gemeinden an vielen Orten in Europa drohen. Für die NGO European Environmental Bureau verfolgt Diego Marin die EU-Pläne. Er rechnet mit aufwändigen Gerichtsverfahren, die geplante Projekte jahrelang verzögern können. "Mit ihrer Verkürzung der Genehmigungsverfahren wird die EU diese tatsächlich in die Länge ziehen", warnt er. Die demokratische Beteiligung lokaler Gemeinschaft sei unersetzlich und könne nicht übersprungen werden.

Ähnliches dürfte nicht nur in Europa Programm sein. Längst haben EU-Beamte auf der Suche nach den kritischen Rohstoffen begonnen, weltweit Abkommen mit anderen Staaten zu verhandeln oder zu unterzeichnen. Kein Land soll je wieder mehr als 65 Prozent eines Rohstoffs liefern, lautet das ehrgeizige Ziel von Kommissionspräsidentin von der Leyen.
Auch chilenische Minen wie diese sollen die EU-Wirtschaft künftig mit kritischen Rohstoffen versorgenShutterstock

Das große Aufwachen hat inzwischen auch bei jenen Konzernen begonnen, welche die Rohstoffnachfrage treiben. Jahrelang hatte Automobilkonzerne die Sicherheit ihrer Lieferketten wenig gekümmert. Noch im Jahr 2018 sagte der damalige VW-Chef Matthias Müller zu Batteriefertigung in Deutschland, "so einen Blödsinn machen wir sicher nicht". Inzwischen baut VW Batteriefabriken in Wolfsburg und Valencia.

Laut einer Prognose Forscher der KU Leuven werden Autokonzerne künftig mehr als die Hälfte der Rohstoffnachfrage verantworten. Vor allem Lithium ist gefragt, um daraus Batterien für E-Autos zu werkeln. Das soll nun auch in Europa geschehen, um nicht länger vom guten Willen Chinas abhängig zu sein. Nach Recherchen von Investigate Europe sind in Europa momentan mindestens 46 Batteriefabriken in Planung oder in Betrieb. Doch nicht alle dienen der erhofften Unabhängigkeit. Ein Drittel gehört nicht-europäischen Eignern, auch aus China.

Dass mit der Automobilwirtschaft einer der größten Nachfragetreiber überhaupt so massiv von China abhängig ist, hat auch mit der eingesetzten Technik zu tun. Längst gibt es Alternativen zur etablierten Lithium-Ionen-Technologie. So könnten europäische Automobilhersteller bei ihrem Versuch, die chinesische Übermacht zu brechen, plötzlich Hilfe von unerwarteter Seite erhalten: China.

So einen Blödsinn machen wir sicher nicht

VW-Vorstand Matthias Müller 2016 über Batterieproduktion in Deutschland

Im März dieses Jahres stellte der chinesische Batteriehersteller Hina das erste Auto mit Natrium-Ionen-Batterien vor. Diese Batterien verwenden Salz anstelle von Lithium. Das Auto von Hina hat eine Reichweite von 250 Kilometern - genug für den Stadtverkehr.

"Damit haben in Deutschland nur wenige gerechnet", sagt Maximilian Fichtner, Batterieexperte an der Universität Ulm. "Die Forschungsförderer hatten einfach nicht den Weitblick." So sind es nun chinesische Unternehmen, die die nächste Generation von Batterien vorantreiben. Der Batterieriese CATL will Ende des Jahres Natrium-Ionen-Batterien liefern, die eines Tages europäische Autos antreiben könnten.

Lithium aus europäischen Minen wie jener im portugiesischen UN-Schutzgebiet Barroso wäre dafür nicht mehr nötig.

Diese Recherche wurde unterstützt durch das Recherchestipendium für Umweltjournalismus des Journalismfund Europe

Grenzüberschreitende Recherchen aus einem Europa im Wandel, in Ihrem Postfach.