Über EU im Fokus Unsere Recherchen im Projekt „EU im Fokus“ nehmen Sie mit an die Verhandlungstische, und decken auf, wer welche Interessen vertritt. Wir veröffentlichen Geschichten, welche die Entscheidungsfindung in der EU auf verständlich machen und erklären, was die getroffenen Vereinbarungen in Brüssel für die Bürger bedeuten.
Frau Jourová, bisher waren die meisten EU-Experten der Meinung, dass die Regulierung der Medien nicht in die Zuständigkeit der EU, sondern ausschließlich in die der Mitgliedstaaten fällt. Was hat Sie dazu bewogen, trotzdem ein
EU-Gesetz zum Schutz der Medienfreiheit vorzuschlagen?
Wir befanden uns in einer verzweifelten Situation. Ich hatte keine
Antwort für jene, die mich fragten, wie wir mit den Medien in Ungarn
umgehen sollen. Wie werden Sie Klub Radio dort schützen? Wie wollen
Sie TVN 24 in Polen schützen? Was werden Sie mit der slowenischen
Nachrichtengentur tun, die gezwungen war, Crowdfunding zu
organisieren, nachdem die Regierung aus politischen Gründen die
Zahlungen für sie eingestellt hat? Und nach all meinen
diplomatischen Antworten, warum ich nichts tun kann, wurde ich
wütend. Und mir wurde klar, dass wir in der Demokratie viel von den
Medien erwarten. Aber wir schützen sie nicht besser als jeden
Schuhmacher. Also habe ich im Parlament gesagt, wir werden ein Gesetz
vorlegen, um das zu ändern.
Sie haben also eine Art rechtlichen Coup gestartet?
Nein, nur eine notwendige Gesetzesinitiative. Sehen Sie sich die sichtbaren
autokratischen Tendenzen an. Ich habe im Kommunismus gelebt, das war
unkontrollierte Macht, unangefochtene Macht, und allmählich
unanfechtbare Macht. Das darf in keinem Mitgliedsland der EU
passieren. Und hier ist die Rolle der Medien klar, denn sie sind
diejenigen, die die Politiker unter Kontrolle halten. Und ich höre
immer häufiger, dass sich der Selbstzensur unterwerfen, dass sie von
Politikern beschimpft und angegriffen werden. Wenn
wir wollen, dass die Medien ihre wichtige Rolle in der Demokratie
spielen können, müssen wir eine Art europäisches Sicherheitsnetz
einführen.
Aber es gibt eigentlich keine Rechtsgrundlage dafür. Sie haben dann
behauptet, dies sei eine als eine Frage des funktionierenden
Binnenmarktes zu behandeln. Kritiker nennen das einen juristischen
Trick, mit dem sich die EU-Kommission neue Kompetenzen aneignet.
Haben sie nicht Recht?
Nein. Ich habe mich selbst davon überzeugt, dass viele Juristen, auch aus
dem Rat, bestätigt haben, dass es richtig ist, das Gesetz auf diese
Rechtsgrundlage zu stellen.
Aber das Gesetz muss in den Gerichtssälen überleben. Wenn die
Medienfreiheit bedroht ist, geht es nicht um das Funktionieren des
Marktes, sondern um politische Macht und demokratische Kontrolle.
Könnte die gewählte Rechtsgrundlage also nach hinten losgehen, wenn
die betroffenen Medienschaffenden ihre Rechte vor Gericht verteidigen
wollen und sich dann auf das EU-Recht berufen und die Richter
vielleicht sagen, dass dies nichts mit dem Markt zu tun hat?
Nach den EU-Verträgen sind die Mediendienstleister dem Binnenmarkt
zuzurechnen. Wir haben also diese Möglichkeit - und es
ist tatsächlich die einzige Wahl, die mit einem starken Gesetz
einhergeht. Die Mütter und Väter des EU-Vertrages hatten nicht genug Phantasie, um sich vorzustellen, wie
die Grundwerte der Demokratie gefährdet sein könnten. Das ist der
Grund, warum ich einfach keine andere Rechtsgrundlage finden kann.
Klingt das wie eine Beschwerde? Ja. Das ist es auch.
Kritiker sagen, das vorgeschlagene Gesetz sei zu schwach und nur ein Katalog
dafür, wie die Regierungen mit den Medien umgehen sollten, ohne die
Instrumente zu schaffen, die die Mitgliedsstaaten tatsächlich dazu
zwingen, die Medienfreiheit zu garantieren. Fehlen dem Gesetz die Zähne?
Es ist nicht schwach. Wenn das Gesetz in Kraft tritt, wird es eine
solide Grundlage für mögliche gerichtliche Auseinandersetzungen
sein, bei denen man bisher in vielen Ländern absolut keine Chance
hat.
Sie meinen, wenn ein Journalist über seinen Redakteur oder die
staatlichen Behörden von den Regierungen unter Druck gesetzt wird,
kritische Veröffentlichungen zu ändern oder zu stoppen, kann er
dann vor einem nationalen Gericht klagen, dies verstoße gegen das
europäische Medienfreiheitsgesetz?
Ja, gerade wegen dieser möglichen Fälle bestehen wir darauf, dass es
sich um eine direkt anwendbare Regelung handeln muss. So kann sich
der Journalist auf den Wortlaut des Gesetzes verlassen.
Der Hauptzweck ist es, sie vor der Einmischung in ihre Arbeit zu
schützen, vor irgendeiner Art von Belästigung von Seiten des
Eigentümers oder des Staates. Deshalb haben wir Artikel 4 und
Artikel 6.2, die besagen, dass Journalisten in der Lage sein müssen,
frei zu arbeiten, ohne ungerechtfertigte Eingriffe in die
redaktionelle Freiheit. Und natürlich gibt es auch den möglichen
Druck der Eigentümer auf die Redakteure. Mit
diesem Gesetz könnt ihr Journalisten eure Rechte viel besser
verteidigen. Die Sache ist die, dass jedes Medienhaus geeignete
Maßnahmen ergreifen sollte, um solche Situationen zu verhindern.
Wenn die betroffenen Journalisten dies ernst nehmen, könnte dies eine Welle von
Klagen gegen Regierungen und Medienbesitzer auslösen, die sich in
die redaktionelle Unabhängigkeit einmischen.
Die Idee des Gesetzes ist es, dass die Medienschaffenden frei von
politischem Druck sind. Ich denke, das ist in einer Demokratie nicht
zu viel verlangt. Wenn es keinen Druck gibt, gibt es auch keinen
Grund für Klagen. Jeder kann sein Recht verteidigen und mutmaßliche Verstöße vor die nationalen Gerichte
bringen. Und es ist Sache der Gerichte, zu entscheiden.
Das könnten die Regierungen aber durch eigene Gesetze durchkreuzen
Für den Fall, dass Regierungen beschließen, ein neues Gesetz zu
erlassen, das die Freiheit und den Pluralismus der Medien
beeinträchtigt, wird mit dem Gesetz ein unabhängiger Europäischer
Medienrat eingeführt, der sich aus Vertretern der nationalen
Medienaufsichtsbehörden zusammensetzt und Stellungnahmen abgibt.
Diese können ein wichtiges Element bei der Entscheidung sein, ob ein
Mitgliedstaat gegen das Gesetz verstoßen hat. Ich muss betonen, dass
wir keine Gremien einrichten wollen, die
eine allmächtige Macht über die Medien haben. Diese könnten leicht
missbraucht werden. Deshalb wollen wir
stattdessen das Netzwerk der unabhängigen Behörden schaffen, deren
Mitglieder Vertreter in den neuen Medienrat entsenden.
Darunter werden auch Vertreter von Behörden sein, die keineswegs unabhängig
sind, wie in Polen, Ungarn oder auch Griechenland und Slowenien.
Natürlich bin ich mir dieser Bedenken bewusst. Aus diesem Grund wird das Gesetz
ihre Unabhängigkeit zwingend vorschreiben. Das Schöne an dieser
Regelung ist, dass die Vertreter aus allen Mitgliedstaaten über
dieselben Themen diskutieren werden, was den Schwächeren ermöglicht,
stärker zu werden. Es funktioniert immer, dass gute Praktiken,
geteilte Erfahrungen, in einigen Fällen sogar Solidarität und
gemeinsame Anstrengungen es schaffen werden. Der Rat wird die Fälle
aufgreifen, in denen zum Beispiel Journalisten gesetzeswidrig unter
Druck gesetzt werden oder andere Maßnahmen die Freiheit der Medien
einschränken. Ja, die Stellungnahmen des Gremiums werden nicht
rechtsverbindlich sein. Aber ihre professionellen Kommentare werden auf europäischer Ebene diskutiert
werden. Und vergessen Sie nicht die Rolle der Kommission. Wir sind
die Hüter der Verträge. Wenn sich die Staaten nicht an das Gesetz
halten, können wir Vertragsverletzungsverfahren einleiten, die
wiederum zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs führen
können.
In Ungarn oder Polen ist die Medienfreiheit schon fast abgeschafft. Kann
es sein, dass für diese Länder das Gesetz zu spät kommt?
Ich denke, dass die Länder, in denen der Ausschuss den Verlust der
Medienfreiheit feststellt, einen Verlust an internationalem Ansehen
erleiden werden, worauf die meisten Regierungen sehr empfindlich
reagieren. Vielleicht ist Ungarn jetzt ein wenig immun dagegen. Aber
auch für sie wird es früher oder später politische Auswirkungen
haben. Der stärkste Teil des Gesetzes ist
die Bestimmung in Artikel 4, wonach sich der Staat nicht in
redaktionelle Entscheidungen einmischen darf. Denn es könnte eine
sofortige Reaktion von Seiten der Kommission auslösen, wenn ein
Mitgliedsstaat sich nicht daran hält. Verstöße können vom
Europäischen Gerichtshof mit sehr hohen Geldstrafen geahndet werden.
In Italien werden der Geschäftsführer und der Generaldirektor des
öffentlichen Fernsehens direkt von der Regierung ernannt. Und auch
der Verwaltungsrat wird von Parlamentariern derselben Parteien
ernannt, die das Land regieren. Dies hat zur Folge, dass unabhängige
Moderatoren und Reporter nach dem Regierungswechsel den Sender
verlassen haben und nun die meisten politischen Nachrichten für
Premierministerin Maloney und ihre Politik werben. Artikel 5 des EMFA
verlangt, dass öffentlich-rechtliche Medienanbieter "dem
Publikum unparteiisch eine Vielfalt von Informationen und Meinungen
bieten". Würde damit also das derzeitige italienische System
illegal?
Ich habe das Medienfreiheitsgesetz vorgeschlagen, um diese Probleme
anzugehen und die Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien
zu stärken. Die öffentlichen Medien dürfen nicht zu einer Propagandamaschine einer Partei werden. Was
das italienische System betrifft, so sind die Bedenken eindeutig.
Aber jeder Fall muss anhand des endgültigen Textes des
Mediengesetzes beurteilt werden. Für eine rechtliche Analyse ist es
daher noch zu früh. Wenn sich die derzeitige Regelung direkt aus dem italienischen Recht
ergibt, würde dies im Prinzip bedeuten,
dass ein Rechtskonflikt besteht. Auf der Grundlage des Vorrangs des
EU-Rechts hat die Kommission das Recht, ein
Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten.
Bedeutet dies, dass jeder italienische Parlamentarier beim zuständigen Gericht
Klage gegen das italienische System einriechen könnte, weil es nach dem neuen
europäischen Gesetz nicht mehr rechtmäßig ist?
So könnte es funktionieren.
In Frankreich hat der Milliardär Vincent Bolloré ein ständig
wachsendes Medienimperium angehäuft, und seine Manager zwingen die
Redakteure und Reporter der übernommenen Medienunternehmen,
rassistische Ideologie und die extreme Rechte zu unterstützen.
Derzeit wiederholt sich dies beim Journal de Dimanche, einem der
führenden französischen Nachrichtenblätter. Bietet die EMFA ein
Instrument, um diese Art des Machtmissbrauchs durch einen
Medieneigentümer zu verhindern?
Zunächst müssen die Auswirkungen der Medienkonzentration auf den
Medienpluralismus und die redaktionelle Unabhängigkeit von den
französischen Behörden bewertet werden. Zudem wird
es eine Stellungnahme des europäischen Medienrats geben. Und wir
haben die Verbindung mit Artikel 6, denn ein neuer Eigentümer sollte
sich nicht auf diese Weise einmischen dürfen.
Was wiederum zeigt, dass die schrumpfende Medienfreiheit nicht nur ein
Problem in Osteuropa ist.
Oh ja, in den Verhandlungen habe ich ziemlich arrogante Meinungen
gehört, dass wir dieses Gesetz erlassen, um die Dinge in Mittel- und
Osteuropa zu korrigieren und fantastisch funktionierende Systeme in
Westeuropa zu beschädigen. Dem widerspreche ich energisch. Es
gibt auch Probleme in Frankreich, in Italien und nur Gott weiß, was
in Deutschland passieren kann, wenn die AfD an die Macht kommt.
In Deutschland wurde kürzlich aufgedeckt, dass der Vorstandsvorsitzende
von Springer sein führendes Boulevardblatt instrumentalisiert hat,
um den Wahlkampf für die Liberale Partei zu fördern. Wäre dies bei
der EMFA noch legal?
Das müsste von Fall zu Fall geprüft werden. Aber
grundsätzlich wollen wir natürlich nicht, dass die Reichen Medien
kaufen, um die Politik zu beeinflussen.
Das Hauptinstrument könnte der Artikel 6 über die redaktionelle
Unabhängigkeit sein. Doch der Rat will diesen abschwächen und den
Medieneigentümern das Recht geben, autonom eine redaktionelle Linie
zu definieren. Das Europäische Zentrum für Medienfreiheit hat davor
gewarnt, dass dies den eigentlichen Zweck des Artikels in das
Gegenteil verkehren würde. Stimmen Sie dem zu?
Das ist kompliziert. Wir regulieren nicht die Medien selbst, sondern das
Umfeld für sie. Artikel sechs über die redaktionelle
Unabhängigkeit ist der einzige Artikel, der da tiefer geht. Er
legt das Prinzip fest. Aber wir sind nicht hier, um zu bestimmen,
wie die Redaktionen organisiert sein sollten.
Und hier kommt mein Aufruf an die Journalisten und die
Bürgerrechtsorganisationen. Sie sollten die Aktivitäten
beschleunigen, die zu Maßnahmen zum Schutz der redaktionellen
Unabhängigkeit führen.
In Griechenland untersteht die nationale Nachrichtenagentur,
direkt vom Büro des Premierministers. Eine Reporterin berichtete uns,
dass sie nicht einmal Richter des Obersten Gerichtshofs Griechenlands zitieren durfte,
als diese sich kritisch zu einem Gesetzentwurf der griechischen Regierung äußerten.
Der Artikel 5 der EMFA fordert, dass "öffentlich-rechtliche
Medienanbieter in unparteiischer Weise eine Vielzahl von
Informationen und Meinungen bereitstellen" müssen. Wird damit diese Art der
direkten Kontrolle eines führenden staatlichen Mediums also illegal?
Wir beobachten, was in Griechenland passiert, und ja,
Artikel 5 sollte hier angewendet werden. Ich werde mit den
griechischen Behörden erneut über die Lage der Medien sprechen,
denn der Ministerpräsident hat mir versprochen, dass sich die Lage
verbessern wird, noch bevor das Gesetz über die Medienfreiheit
verabschiedet ist.
Artikel 4 Ihres Entwurfs schützt Medienmitarbeiter vor jedem Versuch
nationaler Behörden, ihre Kommunikation abzuhören oder sie zur
Offenlegung ihrer Quellen zu zwingen. Aber der Rat hat beschlossen,
bei Emittlungen zur Wahrung der "nationalen Sicherheit" dieses Verbot aufzuheben.
Würde eine solche Ausnahmeregelung die Medienfreiheit nicht
eher schwächen als stärken?
Ich werde bei den Verhandlungen mit dem Rat und dem Parlament den
ursprünglichen Kommissionsvorschlag verteidigen. Wir
müssen vermeiden, eine Art Blankoscheck für die nationale
Sicherheit auszustellen, auch wenn sie in der alleinigen Verantwortung
der einzelnen Mitgliedstaaten liegt.
So darf es nicht funktionieren. Wir haben den Vorschlag sehr ausgewogen
formuliert. Wir haben eine umfangreiche Rechtsprechung, nach der
diese in die Privatsphäre eindringenden Techniken wie
Spionageprogramme nur in sehr begründeten Fällen und nur in dem
Umfang eingesetzt werden dürfen, der notwendig und verhältnismäßig
ist. Eine Verschlechterung der Lage gegenüber der jetzigen Situation darf es nicht geben. Es gibt immer Raum für verbesserte Formulierungen, aber es darf keinen Freifahrtschein für Spionage geben.
Ist dies die rote Linie für die Kommission? Würden Sie das Gesetz
zurückziehen, wenn es überschritten wird?
Das Mediengesetz ist dazu da, Journalisten zu schützen. Wir müssen mit
gutem Willen in die Verhandlungen gehen, um eine endgültige Lösung
zu finden. Aber der gute Wille hört dort auf, wo wir die Situation
der Journalisten verschlechtern könnten.