"Kein Freifahrtschein für Spionage gegen Journalisten"

Věra Jourová, European Commissioner

Von

Harald Schumann
Harald Schumann
Sigrid Melchior
Sigrid Melchior
7. September 2023
Věra Jourová ist entschlossen, die Unabhängigkeit der Medien zu verteidigen. Die EU-Kommissarin, verantwortlich für den Schutz des Rechtsstaates, ist noch unter Herrschaft der Kommunisten aufgewachsen und weiß aus erster Hand, wie das Leben ohne eine freie Presse ist. Investigate Europe sprach mit der tschechischen Politikerin über ihre Pläne für das umstrittene EU-Gesetz zur Medienfreiheit und die wachsende Bedrohung für Journalisten in Europa.
Frau Jourová, bisher waren die meisten EU-Experten der Meinung, dass die Regulierung der Medien nicht in die Zuständigkeit der EU, sondern ausschließlich in die der Mitgliedstaaten fällt. Was hat Sie dazu bewogen, trotzdem ein EU-Gesetz zum Schutz der Medienfreiheit vorzuschlagen?

Wir befanden uns in einer verzweifelten Situation. Ich hatte keine Antwort für jene, die mich fragten, wie wir mit den Medien in Ungarn umgehen sollen. Wie werden Sie Klub Radio dort schützen? Wie wollen Sie TVN 24 in Polen schützen? Was werden Sie mit der slowenischen Nachrichtengentur tun, die gezwungen war, Crowdfunding zu organisieren, nachdem die Regierung aus politischen Gründen die Zahlungen für sie eingestellt hat? Und nach all meinen diplomatischen Antworten, warum ich nichts tun kann, wurde ich wütend. Und mir wurde klar, dass wir in der Demokratie viel von den Medien erwarten. Aber wir schützen sie nicht besser als jeden Schuhmacher. Also habe ich im Parlament gesagt, wir werden ein Gesetz vorlegen, um das zu ändern.

Sie haben also eine Art rechtlichen Coup gestartet?

Nein, nur eine notwendige Gesetzesinitiative. Sehen Sie sich die sichtbaren autokratischen Tendenzen an. Ich habe im Kommunismus gelebt, das war unkontrollierte Macht, unangefochtene Macht, und allmählich unanfechtbare Macht. Das darf in keinem Mitgliedsland der EU passieren. Und hier ist die Rolle der Medien klar, denn sie sind diejenigen, die die Politiker unter Kontrolle halten. Und ich höre immer häufiger, dass sich der Selbstzensur unterwerfen, dass sie von Politikern beschimpft und angegriffen werden. Wenn wir wollen, dass die Medien ihre wichtige Rolle in der Demokratie spielen können, müssen wir eine Art europäisches Sicherheitsnetz einführen.

Aber es gibt eigentlich keine Rechtsgrundlage dafür. Sie haben dann behauptet, dies sei eine als eine Frage des funktionierenden Binnenmarktes zu behandeln. Kritiker nennen das einen juristischen Trick, mit dem sich die EU-Kommission neue Kompetenzen aneignet. Haben sie nicht Recht?

Nein. Ich habe mich selbst davon überzeugt, dass viele Juristen, auch aus dem Rat, bestätigt haben, dass es richtig ist, das Gesetz auf diese Rechtsgrundlage zu stellen.

Aber das Gesetz muss in den Gerichtssälen überleben. Wenn die Medienfreiheit bedroht ist, geht es nicht um das Funktionieren des Marktes, sondern um politische Macht und demokratische Kontrolle. Könnte die gewählte Rechtsgrundlage also nach hinten losgehen, wenn die betroffenen Medienschaffenden ihre Rechte vor Gericht verteidigen wollen und sich dann auf das EU-Recht berufen und die Richter vielleicht sagen, dass dies nichts mit dem Markt zu tun hat?

Nach den EU-Verträgen sind die Mediendienstleister dem Binnenmarkt zuzurechnen. Wir haben also diese Möglichkeit - und es ist tatsächlich die einzige Wahl, die mit einem starken Gesetz einhergeht. Die Mütter und Väter des EU-Vertrages hatten nicht genug Phantasie, um sich vorzustellen, wie die Grundwerte der Demokratie gefährdet sein könnten. Das ist der Grund, warum ich einfach keine andere Rechtsgrundlage finden kann. Klingt das wie eine Beschwerde? Ja. Das ist es auch.

Kritiker sagen, das vorgeschlagene Gesetz sei zu schwach und nur ein Katalog dafür, wie die Regierungen mit den Medien umgehen sollten, ohne die Instrumente zu schaffen, die die Mitgliedsstaaten tatsächlich dazu zwingen, die Medienfreiheit zu garantieren. Fehlen dem Gesetz die Zähne?

Es ist nicht schwach. Wenn das Gesetz in Kraft tritt, wird es eine solide Grundlage für mögliche gerichtliche Auseinandersetzungen sein, bei denen man bisher in vielen Ländern absolut keine Chance hat.

Sie meinen, wenn ein Journalist über seinen Redakteur oder die staatlichen Behörden von den Regierungen unter Druck gesetzt wird, kritische Veröffentlichungen zu ändern oder zu stoppen, kann er dann vor einem nationalen Gericht klagen, dies verstoße gegen das europäische Medienfreiheitsgesetz?

Ja, gerade wegen dieser möglichen Fälle bestehen wir darauf, dass es sich um eine direkt anwendbare Regelung handeln muss. So kann sich der Journalist auf den Wortlaut des Gesetzes verlassen. Der Hauptzweck ist es, sie vor der Einmischung in ihre Arbeit zu schützen, vor irgendeiner Art von Belästigung von Seiten des Eigentümers oder des Staates. Deshalb haben wir Artikel 4 und Artikel 6.2, die besagen, dass Journalisten in der Lage sein müssen, frei zu arbeiten, ohne ungerechtfertigte Eingriffe in die redaktionelle Freiheit. Und natürlich gibt es auch den möglichen Druck der Eigentümer auf die Redakteure. Mit diesem Gesetz könnt ihr Journalisten eure Rechte viel besser verteidigen. Die Sache ist die, dass jedes Medienhaus geeignete Maßnahmen ergreifen sollte, um solche Situationen zu verhindern.

Wenn die betroffenen Journalisten dies ernst nehmen, könnte dies eine Welle von Klagen gegen Regierungen und Medienbesitzer auslösen, die sich in die redaktionelle Unabhängigkeit einmischen.

Die Idee des Gesetzes ist es, dass die Medienschaffenden frei von politischem Druck sind. Ich denke, das ist in einer Demokratie nicht zu viel verlangt. Wenn es keinen Druck gibt, gibt es auch keinen Grund für Klagen. Jeder kann sein Recht verteidigen und mutmaßliche Verstöße vor die nationalen Gerichte bringen. Und es ist Sache der Gerichte, zu entscheiden.

Das könnten die Regierungen aber durch eigene Gesetze durchkreuzen

Für den Fall, dass Regierungen beschließen, ein neues Gesetz zu erlassen, das die Freiheit und den Pluralismus der Medien beeinträchtigt, wird mit dem Gesetz ein unabhängiger Europäischer Medienrat eingeführt, der sich aus Vertretern der nationalen Medienaufsichtsbehörden zusammensetzt und Stellungnahmen abgibt. Diese können ein wichtiges Element bei der Entscheidung sein, ob ein Mitgliedstaat gegen das Gesetz verstoßen hat. Ich muss betonen, dass wir keine Gremien einrichten wollen, die eine allmächtige Macht über die Medien haben. Diese könnten leicht missbraucht werden. Deshalb wollen wir stattdessen das Netzwerk der unabhängigen Behörden schaffen, deren Mitglieder Vertreter in den neuen Medienrat entsenden.

Darunter werden auch Vertreter von Behörden sein, die keineswegs unabhängig sind, wie in Polen, Ungarn oder auch Griechenland und Slowenien.

Natürlich bin ich mir dieser Bedenken bewusst. Aus diesem Grund wird das Gesetz ihre Unabhängigkeit zwingend vorschreiben. Das Schöne an dieser Regelung ist, dass die Vertreter aus allen Mitgliedstaaten über dieselben Themen diskutieren werden, was den Schwächeren ermöglicht, stärker zu werden. Es funktioniert immer, dass gute Praktiken, geteilte Erfahrungen, in einigen Fällen sogar Solidarität und gemeinsame Anstrengungen es schaffen werden. Der Rat wird die Fälle aufgreifen, in denen zum Beispiel Journalisten gesetzeswidrig unter Druck gesetzt werden oder andere Maßnahmen die Freiheit der Medien einschränken. Ja, die Stellungnahmen des Gremiums werden nicht rechtsverbindlich sein. Aber ihre professionellen Kommentare werden auf europäischer Ebene diskutiert werden. Und vergessen Sie nicht die Rolle der Kommission. Wir sind die Hüter der Verträge. Wenn sich die Staaten nicht an das Gesetz halten, können wir Vertragsverletzungsverfahren einleiten, die wiederum zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs führen können.

In Ungarn oder Polen ist die Medienfreiheit schon fast abgeschafft. Kann es sein, dass für diese Länder das Gesetz zu spät kommt?

Ich denke, dass die Länder, in denen der Ausschuss den Verlust der Medienfreiheit feststellt, einen Verlust an internationalem Ansehen erleiden werden, worauf die meisten Regierungen sehr empfindlich reagieren. Vielleicht ist Ungarn jetzt ein wenig immun dagegen. Aber auch für sie wird es früher oder später politische Auswirkungen haben. Der stärkste Teil des Gesetzes ist die Bestimmung in Artikel 4, wonach sich der Staat nicht in redaktionelle Entscheidungen einmischen darf. Denn es könnte eine sofortige Reaktion von Seiten der Kommission auslösen, wenn ein Mitgliedsstaat sich nicht daran hält. Verstöße können vom Europäischen Gerichtshof mit sehr hohen Geldstrafen geahndet werden.

In Italien werden der Geschäftsführer und der Generaldirektor des öffentlichen Fernsehens direkt von der Regierung ernannt. Und auch der Verwaltungsrat wird von Parlamentariern derselben Parteien ernannt, die das Land regieren. Dies hat zur Folge, dass unabhängige Moderatoren und Reporter nach dem Regierungswechsel den Sender verlassen haben und nun die meisten politischen Nachrichten für Premierministerin Maloney und ihre Politik werben. Artikel 5 des EMFA verlangt, dass öffentlich-rechtliche Medienanbieter "dem Publikum unparteiisch eine Vielfalt von Informationen und Meinungen bieten". Würde damit also das derzeitige italienische System illegal?

Ich habe das Medienfreiheitsgesetz vorgeschlagen, um diese Probleme anzugehen und die Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien zu stärken. Die öffentlichen Medien dürfen nicht zu einer Propagandamaschine einer Partei werden. Was das italienische System betrifft, so sind die Bedenken eindeutig. Aber jeder Fall muss anhand des endgültigen Textes des Mediengesetzes beurteilt werden. Für eine rechtliche Analyse ist es daher noch zu früh. Wenn sich die derzeitige Regelung direkt aus dem italienischen Recht ergibt, würde dies im Prinzip bedeuten, dass ein Rechtskonflikt besteht. Auf der Grundlage des Vorrangs des EU-Rechts hat die Kommission das Recht, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten.

Bedeutet dies, dass jeder italienische Parlamentarier beim zuständigen Gericht Klage gegen das italienische System einriechen könnte, weil es nach dem neuen europäischen Gesetz nicht mehr rechtmäßig ist?

So könnte es funktionieren.

In Frankreich hat der Milliardär Vincent Bolloré ein ständig wachsendes Medienimperium angehäuft, und seine Manager zwingen die Redakteure und Reporter der übernommenen Medienunternehmen, rassistische Ideologie und die extreme Rechte zu unterstützen. Derzeit wiederholt sich dies beim Journal de Dimanche, einem der führenden französischen Nachrichtenblätter. Bietet die EMFA ein Instrument, um diese Art des Machtmissbrauchs durch einen Medieneigentümer zu verhindern?

Zunächst müssen die Auswirkungen der Medienkonzentration auf den Medienpluralismus und die redaktionelle Unabhängigkeit von den französischen Behörden bewertet werden. Zudem wird es eine Stellungnahme des europäischen Medienrats geben. Und wir haben die Verbindung mit Artikel 6, denn ein neuer Eigentümer sollte sich nicht auf diese Weise einmischen dürfen.

Was wiederum zeigt, dass die schrumpfende Medienfreiheit nicht nur ein Problem in Osteuropa ist.

Oh ja, in den Verhandlungen habe ich ziemlich arrogante Meinungen gehört, dass wir dieses Gesetz erlassen, um die Dinge in Mittel- und Osteuropa zu korrigieren und fantastisch funktionierende Systeme in Westeuropa zu beschädigen. Dem widerspreche ich energisch. Es gibt auch Probleme in Frankreich, in Italien und nur Gott weiß, was in Deutschland passieren kann, wenn die AfD an die Macht kommt.

In Deutschland wurde kürzlich aufgedeckt, dass der Vorstandsvorsitzende von Springer sein führendes Boulevardblatt instrumentalisiert hat, um den Wahlkampf für die Liberale Partei zu fördern. Wäre dies bei der EMFA noch legal?

Das müsste von Fall zu Fall geprüft werden. Aber grundsätzlich wollen wir natürlich nicht, dass die Reichen Medien kaufen, um die Politik zu beeinflussen.

Das Hauptinstrument könnte der Artikel 6 über die redaktionelle Unabhängigkeit sein. Doch der Rat will diesen abschwächen und den Medieneigentümern das Recht geben, autonom eine redaktionelle Linie zu definieren. Das Europäische Zentrum für Medienfreiheit hat davor gewarnt, dass dies den eigentlichen Zweck des Artikels in das Gegenteil verkehren würde. Stimmen Sie dem zu?

Das ist kompliziert. Wir regulieren nicht die Medien selbst, sondern das Umfeld für sie. Artikel sechs über die redaktionelle Unabhängigkeit ist der einzige Artikel, der da tiefer geht. Er legt das Prinzip fest. Aber wir sind nicht hier, um zu bestimmen,
wie die Redaktionen organisiert sein sollten. Und hier kommt mein Aufruf an die Journalisten und die Bürgerrechtsorganisationen. Sie sollten die Aktivitäten beschleunigen, die zu Maßnahmen zum Schutz der redaktionellen Unabhängigkeit führen.

In Griechenland untersteht die nationale Nachrichtenagentur, direkt vom Büro des Premierministers. Eine Reporterin berichtete uns,
dass sie nicht einmal Richter des Obersten Gerichtshofs Griechenlands zitieren durfte,
als diese sich kritisch zu einem Gesetzentwurf der griechischen Regierung äußerten. Der Artikel 5 der EMFA fordert, dass "öffentlich-rechtliche Medienanbieter in unparteiischer Weise eine Vielzahl von Informationen und Meinungen bereitstellen" müssen. Wird damit diese Art der direkten Kontrolle eines führenden staatlichen Mediums also illegal?

Wir beobachten, was in Griechenland passiert, und ja, Artikel 5 sollte hier angewendet werden. Ich werde mit den griechischen Behörden erneut über die Lage der Medien sprechen, denn der Ministerpräsident hat mir versprochen, dass sich die Lage verbessern wird, noch bevor das Gesetz über die Medienfreiheit verabschiedet ist.

Artikel 4 Ihres Entwurfs schützt Medienmitarbeiter vor jedem Versuch nationaler Behörden, ihre Kommunikation abzuhören oder sie zur Offenlegung ihrer Quellen zu zwingen. Aber der Rat hat beschlossen, bei Emittlungen zur Wahrung der "nationalen Sicherheit" dieses Verbot aufzuheben. Würde eine solche Ausnahmeregelung die Medienfreiheit nicht eher schwächen als stärken?

Ich werde bei den Verhandlungen mit dem Rat und dem Parlament den ursprünglichen Kommissionsvorschlag verteidigen. Wir müssen vermeiden, eine Art Blankoscheck für die nationale Sicherheit auszustellen, auch wenn sie in der alleinigen Verantwortung
der einzelnen Mitgliedstaaten liegt.

So darf es nicht funktionieren. Wir haben den Vorschlag sehr ausgewogen formuliert. Wir haben eine umfangreiche Rechtsprechung, nach der diese in die Privatsphäre eindringenden Techniken wie Spionageprogramme nur in sehr begründeten Fällen und nur in dem Umfang eingesetzt werden dürfen, der notwendig und verhältnismäßig ist. Eine Verschlechterung der Lage gegenüber der jetzigen Situation darf es nicht geben. Es gibt immer Raum für verbesserte Formulierungen, aber es darf keinen Freifahrtschein für Spionage geben.

Ist dies die rote Linie für die Kommission? Würden Sie das Gesetz zurückziehen, wenn es überschritten wird?
Das Mediengesetz ist dazu da, Journalisten zu schützen. Wir müssen mit gutem Willen in die Verhandlungen gehen, um eine endgültige Lösung zu finden. Aber der gute Wille hört dort auf, wo wir die Situation der Journalisten verschlechtern könnten.

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