Gesetzgebung in der Blackbox: Wie demokratisch ist die EU?

15. Mai 2019

Von

Harald Schumann
Harald Schumann
Seit bald fünf Jahren ist Margrethe Vestager EU-Kommissarin für Wettbewerb und damit offiziell dafür zuständig, sich mit den Kartellbrüdern und Monopolisten aus aller Welt anzulegen. Und die Dänin macht wirklich einen guten Job: Seit ihrem Amtsantritt hat sie mehr als 15 Mrd. Euro an Kartellstrafen verhängt, fast doppelt so viel wie während der Amtszeit ihres Vorgängers, und damit Europas Verbrauchern einen guten Dienst erwiesen, der noch viel mehr wert ist, weil er die Preise drückt. Allein von Google kassierte Vestager vergangenes Jahr 4,4 Mrd. Euro.
Außerdem ist sie gegen die Regierungen in Irland und den Niederlanden vorgegangen, die für die Weltkonzerne die Steuerflucht organisieren. Darum musste das irische Finanzministerium bei Apple nachträglich 13 Mrd. Euro Steuern eintreiben. Und das war nur ein Fall von vielen.

Auch vor den Regierungen der großen Mitgliedstaaten Frankreich und Deutschland schreckt die streitbare Dänin nicht zurück. Gegen den Willen von Präsident Macron und Kanzlerin Merkel hat sie die geplante Fusion der Eisenbahnsparten von Alsthom und Siemens verboten, und das zu Recht. Denn sonst hätten Verbraucher und Steuerzahler das mit höheren Preisen für Züge und Signaltechnik bezahlen müssen.

Vestager verfügt also über genau das, was eine gute Europäerin im Amt auszeichnet: Sie kämpft für das europäische Gemeinwohl, ungeachtet einzelner nationaler Interessen. Darum ist sie eigentlich eine ideale Kandidatin für den Chefposten an der Spitze der EU-Kommission. Wenn die EU-Bürger die Wahl hätten, dann hätte sie gewiss gute Chancen auf die Nachfolge von Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsidentin.

Doch diese Wahl haben wir nicht. Wir werden zwar Ende Mai ein neues EU-Parlament wählen. Aber damit entscheiden wir, die Wahlbürger der Union, keineswegs, wer die EU-Kommission führen wird. Darüber bestimmen zuallererst die Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer. Das Parlament darf dann nur noch zustimmen oder ablehnen. Der dänische Premier Rasmussen hat aber schon gesagt, er werde Frau Vestager nicht erlauben, ihren bisherigen Job fortzuführen, geschweige denn, Präsidentin der Kommission zu werden. Europas Beste wird also aller Voraussicht nach ihr Amt verlieren. Und selbst wenn sie es am Ende doch wird, weil sie Merkel und Macron vielleicht als Kompromisskandidatin zupass kommt, dann nicht, weil wir, die Wähler es so wollten, sondern weil sie gerade in die Machtspiele der Regierungschefs passt.

Demokratie außer Kraft gesetzt

Schon dieses Beispiel zeigt: Die Demokratie führen die Lenker der Europäischen Union nur im Wort. In der Praxis setzen sie sie fortwährend außer Kraft und verstoßen im großen Stil gegen fundamentale demokratische Grundnormen. Mancher mag das für dick aufgetragen, ja sogar völlig übertrieben halten. Ich aber wäre froh, wenn es so wäre. Denn wer die Gesetzgebung in der EU verfolgt und insbesondere die Methoden, mit denen die Währungsunion gesteuert wird, der muss zu diesem Schluss kommen. Schuld daran sind jedoch keineswegs die „Bürokraten in Brüssel“, wie es immer heißt. Die EU-Verwaltung ist mit 15 000 Beamten und 27 Kommissaren vergleichsweise klein. Allein die Stadt Hamburg hat viermal so viele Beamte und zehnmal so viele Häuptlinge. Und die Vorgänge in der Kommission sind weitgehend transparent. Fast alle Treffen mit Lobbyisten jeder Art werden in einem öffentlichen Register eingetragen. Auch die meisten internen Dokumente sind auf Antrag zugänglich. Die Gesetzesvorschläge, die die Beamten entwickeln, bedienen zwar oft bestimmte Industrie-Interessen. Aber damit spiegeln sie nur, was auch auf nationaler Ebene üblich ist.

Nein, der eigentliche Dauerskandal sind die antidemokratischen Praktiken im Rat der EU, auch Ministerrat genannt. Das sind nicht nur die Runden der Regierungschefs oder Minister, wie wir sie im Fernsehen sehen. Die eigentliche Arbeit findet in den rund 150 Arbeitsgruppen und dem Rat der Ständigen Vertreter statt. Dort treffen sich die Beamten aus den 28 (oder demnächst 27) nationalen Ministerien, um über die Gesetzesvorschläge zu beraten, die ihnen die EU-Kommission vorlegt. Diese Verhandlungen finden vollständig unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Es gibt keine öffentlich einsehbaren Protokolle, und die Presse hat kein Recht zu erfahren, wer dort eigentlich welche Position vertritt. Für die Bürger ist Europas mächtigster Gesetzgeber de facto eine Blackbox.

Das ist gefährlich. Denn das macht die Gesetzgebung höchst anfällig für den Einfluss gut organisierter wirtschaftlicher Interessen und ermöglicht krumme Deals, mit denen einzelne Regierungen ihre nationalen Belange auf Kosten des europäischen Gemeinwohls durchsetzen. Das habe ich beim jahrelangen Gezerre um das Gesetz zur Bekämpfung der Geldwäsche miterlebt. Wolfgang Schäuble, damals noch Finanzminister, reklamierte da großspurig, Europa müsse eine „Führungsrolle“ einnehmen, um Kriminelle und Schwarzgeldbesitzer daran zu hindern, ihre illegal erworbenen Vermögen mittels Tarnfirmen reinzuwaschen. Doch bei den Verhandlungen in der entsprechenden Arbeitsgruppe des Rates stellte sich dann ausgerechnet der Vertreter der Bundesregierung gegen den zentralen Reformvorschlag: Die europaweite Verpflichtung, die sogenannten beneficial owners, also die „wirtschaftlich Berechtigten“ von jeder Firma in einem öffentlichen Register zu benennen. Würde das tatsächlich EU-weit umgesetzt, wäre dies das Ende der Briefkastenfirmen und die Polizei käme den Kriminellen und Steuerhinterziehern auf die Spur und ans Geld.

Aber das Geschäft mit dem Schwarzgeld ist für die deutsche Bank- und Immobilienbranche so lukrativ, dass das Bundesfinanzministerium sich lieber auf deren Seite stellte als auf die Seite der eigenen Steuerfahnder und Kriminalpolizisten. Während Spanien, Frankreich, Italien und sogar Großbritannien dafür waren, stellte sich dann ausgerechnet die Bundesregierung jahrelang auf die Seite der Steuerfluchthelfer aus den Niederlanden, Luxemburg und Österreich. Die Rolle der Deutschen kam nur heraus, weil ein Beamter die geheimen Mitschriften aus dem Rat an einen Parlamentarier weiterreichte, der sie dann mir gab. Trotzdem verzögerte sich die Einführung des Registers um volle fünf Jahre, weil es mit den Deutschen im Rat lange eine Sperrminorität gab.

Nationale Regierungen als Einfallstor für Lobbyismus

Diese Episode ist keine Ausnahme. Das hat die Initiative Corporate Europe Observatory – eine der besten NGOs in Brüssel überhaupt – im Februar dieses Jahres mit einem erschütternden Bericht noch einmal umfassend dokumentiert.[1] Demnach sind gerade die Brüsseler Vertretungen der nationalen Regierungen das Einfallstor schlechthin, um im Geheimen die Interessen von einzelnen Branchen und Firmen durchzusetzen, sei es durch die Verwässerung von Gesetzesvorschlägen oder auch die einfache Blockade mittels Sperrminorität. Ein herausragendes Opfer dieser Strategie ist die Finanztransaktionssteuer, also eine Umsatzsteuer auf alle Geschäfte mit Wertpapieren. Deren Zweck ist unmittelbar einsichtig: Nicht nur würde die Finanzbranche endlich an den Kosten beteiligt, die sie mit dem Crash von 2008 verursacht hat. Die Steuer von einem halben bis ein Prozent der Billionenumsätze an Börsen würde zudem Sand ins Getriebe der überbordenden Spekulation mit Zins- und Währungsderivaten streuen. Und nach dem Lehman-Crash waren bis auf die Briten ja auch alle dafür. Die EU-Kommission legte dazu sogar einen gut durchdachten Gesetzentwurf vor. Aber dann gelang es der Finanzbranche durch die gezielte Bearbeitung der Regierungen in Frankreich und mehrerer kleiner Länder, das ganze Vorhaben mit der Forderung nach immer neuen Einschränkungen immer weiter aufzuschieben. Nun, zehn Jahre nach den großen Reformversprechen von 2009, ist dieses eigentlich so wichtige, weil gerechte Projekt, de facto gestorben.

Nicht minder wichtig wäre auch die von der EU-Kommission vorgeschlagene Richtlinie zur E-Privacy. Diese soll regeln, dass Daten- und Medienkonzerne nicht länger ohne Zustimmung der Nutzer aufzeichnen, was diese im Internet suchen, lesen oder kaufen. Diese Datenabschöpfung ist die Basis für das Milliardengeschäft von Google, Facebook und Co. mit der auf den einzelnen Verbraucher individuell zugeschnittenen Werbung. Ein solches Verbot wäre schon allein deshalb notwendig, weil diese gezielten Anzeigen auch im großen Stil für die Manipulation der Wählerinnen und Wähler genutzt werden. Das hat meine Kollegin Carole Cadwalladr – eine echte Heldin unserer Zunft – mit ihren Berichten zum Skandal um die Facebook-Daten und die Firma Cambridge Analytica aufgedeckt.[2] Ohne die Intervention dieser Firma des rechtsradikalen US-Milliardärs Mercer wäre das Referendum zum Brexit wahrscheinlich ganz anders ausgegangen.

Aber die Verhandlungen über die E-Privacy-Richtlinie dauern jetzt schon zwei Jahre an.[3] Und dem Vernehmen nach ist es wieder mal die Bundesregierung, die sich unter dem Druck der Digitalindustrie gegen die Vorschrift stemmt, dass die Bürger um Erlaubnis gefragt werden sollen. Eine Recherche des Magazins Netzpolitik ergab, dass die zuständigen Wirtschaftsminister und Staatssekretäre sich nicht weniger als 32 Mal mit Vertretern von Google, Facebook, dem Axel-Springer-Verlag und den zugehörigen Verbänden getroffen haben, um Stimmung gegen die E-Privacy zu machen.[4] Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Die britische Regierung half der Finanzindustrie zu verhindern, dass Hedgefonds und Private-Equity-Fonds schärfer reguliert werden, die niederländische Regierung verhalf der Nahrungsmittelindustrie dazu, die Fischfangquoten gegen alle Vernunft auszuweiten und so weiter und so fort.

Es steht auch zu befürchten, dass es bei dem derzeit verhandelten „Company Law Package“[5] auch wieder so laufen wird. Wenn die Lobbyisten der Kapitalseite effektiv arbeiten, dann werden sie Mittel und Wege finden, um daraus doch ein Gesetz zur Umgehung der deutschen Mitbestimmung zu machen. Für solche Zwecke verfügen die Konzerne und ihre Verbände über eine einzigartige Lobbypower in Brüssel. Allein die Finanzindustrie beschäftigt an die 1700 Lobbyisten. Das sind vier für jeden EU-Beamten, der irgendwie mit diesen Themen beschäftigt ist. Das lässt sich die Finanzindustrie rund 120 Mio. Euro im Jahr kosten, rund dreißigmal so viel, wie allen Gewerkschaften, Verbraucher- und Umweltorganisationen zusammen für ihre Lobbyarbeit zu diesem Thema in Brüssel zur Verfügung steht.

Die Logik hinter diesem teuren Personalaufwand ist ganz einfach, erklärte mir einer der Beteiligten einmal. Eine wirksame Begrenzung der Risiken in der Finanzbranche könne diese schnell mehrere hundert Millionen Euro jährlich an Erträgen kosten. Darum lohne es sich immer, die vielen Millionen für Anwälte, Berater und Agenturen auszugeben, die Sand ins Getriebe schütten. Denn die Verzögerung solcher Reformen, selbst wenn es nur vorübergehend gelänge, sei das allemal wert.

Blockade im EU-Ministerrat

Wie das praktisch läuft, hat mir ein Mitarbeiter einer der vielen Lobbyfirmen in Brüssel erzählt. Einer der wichtigsten Tricks ist es, im EU-Ministerrat eine Sperrminorität zu organisieren. Dafür genügt es, einen der Großen wie Frankreich, Deutschland oder Italien und Polen zu gewinnen und dazu ein paar kleinere Länder. In den ärmeren EU-Staaten sind Regierungen besonders anfällig. Da kann es schon reichen, ein paar Investitionen in Aussicht zu stellen, um einen Ratsvertreter zu gewinnen. Natürlich kann man da nie einen direkten Zusammenhang beweisen. Schriftlich gibt’s da nichts. Aber das Abstimmungsverhalten im Rat macht zuweilen höchst merkwürdige Sprünge. All diesen Vorgängen ist gemein, dass sie für die Bürger völlig intransparent sind. Ein demokratischer, europaweiter Diskurs findet oft gar nicht mehr statt. Mit den Regeln der Demokratie ist das nicht vereinbar.

Und das ist keineswegs nur meine persönliche Ansicht. Keine geringere als Emily O‘Reilly, die offizielle Bürgerbeauftragte der EU, im EU-Jargon Ombudsmann genannt, sieht das ganz genauso: „Die Arbeitsweise des Rates der EU untergräbt das Recht der Bürger, ihre Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen“, stellte sie in einem ihrer sorgfältig recherchierten Berichte vergangenes Jahr fest. Das finde seinen Ausdruck in der „unverhältnismäßigen Geheimhaltung“ der Vorgänge in den Ministerräten und ihren rund 150 Arbeitsgruppen. Das mache es „für die Bürger praktisch unmöglich, der Diskussion der nationalen Vertreter über die Gesetzgebung zu folgen“, sagte sie.[6]


So ist es quasi amtlich, dass Europas mächtigstes gesetzgebendes Organ gegen ein zentrales Prinzip der Demokratie verstößt: die Pflicht zur offenen, transparenten Gesetzgebung. Dahinter steht der Unwille der nationalen Regierungsbeamten, ihre jeweiligen Manöver und Positionen in den Ratsgremien für die Bürger offenzulegen. Das hat für die Regierenden ja auch einen sehr willkommenen Vorteil: Bei umstrittenen Vorhaben können sie immer sagen, „Brüssel ist schuld“, auch wenn sie selbst und ihre eigenen Beamten daran mitgewirkt haben. Eben das untergräbt aber fortwährend das Vertrauen der Bürger. O‘Reilly brachte das klar auf den Punkt: „Dieses Phänomen nährt die Zweifel an der demokratischen Legitimität der Union und fördert antieuropäische Ressentiments“, warnte sie. Noch vor der nächsten Wahl solle der Rat darum all seine Verhandlungsdokumente öffentlich zugänglich machen, um die Argumente der Rechtspopulisten zu entkräften und „die Entfremdung der Bürger zu mindern“. Doch die Kungler in den europäischen Rätezirkeln kümmert das einen Dreck, sie haben die Forderung einfach ignoriert.

Das Geschehen in den Räten folgt aber zumindest den Grundregeln des EU-Vertrags. Der Rechnungshof kontrolliert, was die Gesetze bringen. Die Bürger und Unternehmen können Klage einlegen bis hin zum Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Und das EU-Parlament bestimmt bei den Gesetzen zumindest mit, vorausgesetzt, der Rat kommt überhaupt zu einem Beschluss. Journalisten und interessierte Bürger können so die Gesetzgebung zumindest indirekt verfolgen.

Die Euro-Gruppe – der heimliche Regent

Doch für einen zentralen, vielleicht sogar den wichtigsten Bereich der europäischen Politik gilt nicht einmal das: die Währungsunion und die Regulierung der Eurozone. Denn darüber entscheidet die sogenannte Euro-Gruppe, also die Finanzminister der 19 Euro-Staaten. Dabei handelt es sich um ein rein informelles Gremium, das keinerlei gesetzliche Grundlage hat. Es gibt keine Geschäftsordnung und keine Protokolle. Im Zuge der Staatsschuldenkrise in den südlichen Euro-Staaten und Irland wurde daraus ein antidemokratisches Monstrum.

Schuld daran ist die Fehlkonstruktion des Euro. Die Mitglieder teilen eine Währung, aber sie bewirtschaften ihre Staatshaushalte getrennt. Dafür steht der Artikel 125,1 des EU-Vertrages, auch als „Nichtbeistands“-Klausel bekannt. „Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen“, heißt es dort, und das Gleiche gilt auch für die Mitgliedstaaten untereinander. Damit wollten die Euro-Gründer, allen voran Deutschlands damaliger Kanzler Helmut Kohl, ihre Kritiker beruhigen, die genau das Gegenteil vorhersagten. Deshalb gibt es bis heute keinen gemeinsamen Haushalt und folglich auch keine gemeinsame, demokratisch gewählte Regierung der Eurozone. Aber weil Euro-Staaten am Kapitalmarkt einzeln operieren, können Banken und Fonds gezielt gegen die höher verschuldeten Euro-Länder spekulieren, indem sie die Zinsen für die Erneuerung der dortigen Staatsanleihen so hoch treiben, dass die Warnung vor der Staatspleite eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wird.

Genau das geschah im Frühjahr 2010 erst in Griechenland und kurz darauf auch in Irland, Portugal und Spanien. Ein Zahlungsausfall auch eines dieser Staaten hätte Europas Banken nur zwei Jahre nach dem Lehman-Crash erneut kollabieren lassen. Denn sie hatten dort mehrere hundert Mrd. Euro investiert.

In einer Mischung aus Panik und Dilettantismus erfanden die Regenten des Euro unter Führung der deutschen Kanzlerin Angela Merkel darum ein abenteuerliches Konzept: Sie beschlossen ein weiteres Mal, die Banken zu retten, nur sollten die Bürger das nicht merken. Dazu gründeten sie eine neue Staatsbank, die sie „Europäischer Stabilisierungsmechanismus“ oder kurz ESM nannten. Darüber garantierten sie den betroffenen Staaten 400 Mrd. Euro an Notkrediten, um die Gläubiger auszuzahlen. Aber Merkel und ihre Kollegen deklarierten den Freikauf der Gläubiger kurzerhand als „Solidarität“ und „Rettung“. Und obwohl alle Regierungen und Investoren aller Euro-Länder gemeinsam für die Misere verantwortlich waren, bürdeten sie allein den Krisenstaaten die gesamte Schuldenlast auf. Das war ein strategischer Fehler und der schlimmste Anschlag auf das europäische Projekt seit der Gründung der EWG.[7]

Im rechtlichen Niemandsland jenseits der Demokratie

Ohne jeden öffentlichen Diskurs und ohne das Europaparlament auch nur zu fragen, bekam Euroland auf diesem Weg doch eine Art Regierung: eben die „Euro-Gruppe“. Und die residiert im rechtlichen Niemandsland jenseits der Demokratie.[8] Weder die Staatsbank ESM noch die Euro-Finanzminister und ihre Troika aus Beamten der EZB, des IWF und der Kommission sind irgendeinem Parlament rechenschaftspflichtig. Es gibt keine öffentlichen Protokolle ihrer Sitzungen und selbst schreckliche Fehlentscheidungen wie die brutale Schrumpfung des griechischen Gesundheitsdienstes[9] bleiben ohne Folgen für die Verantwortlichen. Und sogar wenn es dabei zu krummen Deals kam, die förmlich nach Korruption rochen, konnte kein Staatsanwalt ermitteln. Die beteiligten Beamten genießen diplomatische Immunität.

Zwar mussten alle nationalen Parlamente die jeweiligen Kreditprogramme genehmigen. Aber sie konnten stets nur Ja oder Nein sagen. Die mit den Programmen verordnete Politik konnten sie nicht ändern. Der Philosoph und renommierte Vordenker der europäischen Einigung, Jürgen Habermas, nannte dieses Regime „postdemokratischen Exekutivföderalismus“.[10]
Da fällen Minister und EU-Funktionäre Entscheidungen über das Leben von Millionen, ohne dafür selbst bei den betroffenen Wählern um eine Mehrheit werben zu müssen. Und mit dem Recht der Stärkeren erhoben die Gläubiger, geführt von der Bundesregierung und dem damaligen Finanzminister Wolfgang Schäuble, allein den Ausgleich des Staatshaushalts zur obersten Maxime. Für die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Not fühlen sich die Euro-Gruppe und ihre Troikaner nicht zuständig.

Seitdem erzeugt das Euro-Regime das Gegenteil der ursprünglichen Absicht: Statt die „Völker Europas“ zu einer „immer engeren Union“ zusammenzuschließen, wie es der EU-Vertrag verheißt, hetzt es sie gegeneinander auf. In den Krisenländern sehen die Menschen sich gefangen in einem aufgezwungenen Teufelskreis aus Sparpolitik und Rezession. In den Gläubigerländern dagegen rebellieren die Bürger gegen den Einsatz ihrer Steuergelder für Staaten, deren wirtschaftliche Misere sie für selbst verschuldet halten.

Und keine glaubwürdige Instanz steht bereit, die erklärt, was doch offenkundig ist: Alle gemeinsam haben die Fehlentwicklung verursacht und nur gemeinsam können sie diese überwinden. Stattdessen exekutieren die Minister und die von ihnen ermächtigten Beamten im demokratiefreien Raum das Recht des Stärkeren, also der Gläubiger gegen die Schuldner und der Überschuss- gegen die Defizitländer.

Das geht einher mit der Festlegung der gesamten Währungsunion auf ein unhaltbares Wirtschaftsmodell: Alle Mitgliedsländer sollen dem deutschen Vorbild folgen, also Löhne drücken, Exporte steigern und staatliche Ausgaben zurückfahren. Das hat in Deutschlands Krisenjahren aber nur funktioniert, weil die anderen Euro-Staaten es nicht so machten und – gestützt auf Kredite aus Deutschland – mit ihren Importen die deutsche Konjunktur befeuerten. Angewandt auf die ganze Union führt das jedoch zu einem Wettlauf nach unten und zwingt die schwächeren Länder mangels Nachfrage in die Stagnation.

Italien – die politische Zeitbombe für den Euro

Das macht insbesondere Italien zur politischen Zeitbombe für den Euro. Seit zehn Jahren, unterbrochen nur durch die zwei Jahre nach dem Bankencrash, hielten sich die dortigen Regierungen eisern an die Defizitregel. Dafür fehlte es aber an Mitteln für dringend benötigte Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Technologie, ohne die das Land immer weiter zurückfällt – und die EU kann mangels ausreichenden Budgets auch keine wirksame Hilfe bieten. Kein Wunder also, dass die Bürger gegen das empfundene Diktat aus Berlin aufbegehren und die unberechenbaren Rebellen der Fünf-Sterne-Bewegung und die rechtsradikale Lega-Partei in die Regierung wählten.

Jürgen Habermas erkennt darin das Muster für ganz Europa: „Die handfeste Enttäuschung darüber, dass der EU in ihrem gegenwärtigen Zustand die Handlungsfähigkeit fehlt, um einer wachsenden sozialen Ungleichheit innerhalb der Mitgliedstaaten und zwischen ihnen entgegenzuwirken, ist die tiefer liegende Ursache der politischen Regression“, schrieb er. „Der Rechtspopulismus verdankt sich in erster Linie der verbreiteten Wahrnehmung, dass der EU der politische Wille fehlt, handlungsfähig zu werden.“[11]


Und weiter: Eine „handlungsfähige Eurounion wäre die einzige denkbare Kraft gegen eine weitere Zerstörung unseres viel beschworenen Sozialmodells“, mahnt er. Dazu müsse sie „mit Kompetenzen und Haushaltsmitteln für Eingriffe gegen das weitere Auseinanderdriften der Mitgliedstaaten ausgerüstet werden“, forderte er.[12] Nur so könnten „die ökonomisch und politisch stärksten Mitglieder das gebrochene Versprechen der gemeinsamen Währung auf konvergente wirtschaftliche Entwicklungen einlösen“.

Das klingt scheinbar utopisch. Doch für ein paar Monate sah es 2017 ja so aus, als könne diese Vision wahr werden. Denn mit Emmanuel Macron war da in Frankreich ein Präsident auf die europäische Bühne getreten, wie es ihn noch nie gab. Er ist der erste EU-Spitzenpolitiker, der offen einräumt, dass der Mangel an Demokratie und das Fehlen einer aktionsfähigen zentralen Instanz das europäische Projekt bedrohen. Um das zu erklären, reiste er da sogar eigens nach Athen, um am Ort der Erfindung der Demokratie eine revolutionäre Rede zu halten.

Ich muss zugeben, ich war begeistert. Viele Bürger hätten sich abgewandt von der europäischen Einigung, „weil sie nicht gehört wurden“, sagte er dort. „Darum müssen wir Europäer den Mut haben, den Pfad der Demokratie wiederzufinden“, und das „nicht mit Technokraten“, die „heimlich im Hinterzimmer“ Verträge aushandeln. Stattdessen forderte er – wie Habermas – ein Budget für die Eurozone von „mehreren Prozent der Wirtschaftsleistung“, also ein Vielfaches des derzeitigen EU-Haushalts, damit sie künftigen Wirtschaftskrisen aus eigener Kraft entgegensteuern kann. Dazu müssten ein europäischer Finanzminister und ein Parlament der Eurozone gewählt werden, „um demokratische Verantwortlichkeit herzustellen“, forderte er. Kein Geringerer als der französische Staatspräsident bestätigt also den antidemokratischen Charakter des bisherigen Euro-Regimes.

Aber so mitreißend Macron für „die Neugründung“ Europas warb, genauso borniert wiesen Kanzlerin Merkel und ihre sozialdemokratischen Mitregenten all seine Pläne zurück. Lediglich ein zusätzliches Budget für Investitionen von symbolischer Größe wollen sie unterstützen. Schlimmer noch, Merkel und ihre Unterstützer setzten sogar durch, dass das Krisenmanagement der Eurozone auch künftig den ungewählten Technokraten des Euro-Kreditfonds ESM obliegen soll, die keinem Parlament rechenschaftspflichtig sind. An der Verfassung des Euro soll sich nichts ändern.

Aber haben wir nicht ein europäisches Parlament? Wäre es nicht die vornehmste Aufgabe der gewählten Parlamentarier, die demokratischen Grundrechte ihrer Wähler zu verteidigen? Könnten sie die Regierungen nicht einfach zwingen, sich auch in Europa an die Regeln zu halten, die zu Hause völlig selbstverständlich sind?

Doch, das könnten sie. Die formale Macht dazu haben sie allemal. Schließlich könnten sie das Budget blockieren. Aber sie wollen das gar nicht, jedenfalls die Mehrheit nicht – und das offenbart die ganze traurige Wahrheit über dieses Parlament. Denn das ist gar nicht wirklich europäisch. Vielmehr handelt es sich um eine Versammlung von den Abgesandten der nationalen Parteien, die auch nur national gewählt werden. Und als solche agiert die Mehrheit letztlich doch nur als verlängerter Arm der regierenden Parteien ihrer Heimatländer. Und das sogar dann, wenn sie mit der ganzen Arroganz der Macht von Merkel und ihren Kollegen einfach kaltgestellt werden, so wie das in der Eurokrise geschah. Ein Parlament, das sich tatsächlich als Vertreter aller EU-Bürger versteht, hätte das niemals zugelassen.

Es hätte verhindert, dass in Griechenland die Menschen sterben, weil es keine Medikamente und keine Ärzte mehr gibt. Genau das hatte die Troika der Kreditgeber nämlich verfügt, als sie das öffentliche Gesundheitswesen mal eben auf die Hälfte eindampfte. Aber nur die griechischen Abgeordneten müssen sich dafür vor ihren Bürgern verantworten. Alle angeblichen Europäer im Parlament müssen nicht dafür geradestehen.

Stattdessen erfreuen sie sich daran, dass sie bei der Gesetzgebung mitreden dürfen, aber auch das am liebsten unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Denn wenn sie mit dem Rat verhandeln, geschieht das im sogenannten Trilog, wo kein Journalist und kein normaler Bürger zuhören darf.

Von Europa als Verhandlungssache zur neoliberalen Agenda

Wenn man all das zusammen sieht, gelangt man zu einem bestürzenden Befund: Kein Land, das so verfasst wäre wie die EU und die Eurozone, könnte jemals selbst Mitglied in dieser Union werden. „So what?“, werden Sie jetzt vielleicht denken. Die EU ist nun mal kein Bundesstaat, sondern lediglich ein Staatenbund, der sich gemeinsame Institutionen gegeben hat. Und die Bürger wollen es angeblich auch nicht anders. Mit der Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa gewinnt man keine Wahl. Folglich müssen sich die Regierungen eben irgendwie zusammenraufen. Und das war ja auch in den ersten drei Jahrzehnten der Europäischen Gemeinschaft kein großes Problem. Die Volkswirtschaften waren überwiegend national organisiert. Die Regierungen konnten jede für sich regieren, wie sie und ihre Wähler das wollten. Und über die gemeinsamen Angelegenheiten musste man eben verhandeln.

Aber diese Vorstellung hat mit dem Europa von heute nichts mehr zu tun, gar nichts. Das haben die radikalen Marktreformen der 1990er Jahre grundlegend verändert: nämlich ab 1993 der Europäische Binnenmarkt und dann ab 1999 die Währungsunion und der Euro. In der Folge sind jetzt die Volkswirtschaften ganz eng miteinander verflochten. Nicht nur die großen Konzerne, sondern fast alle Unternehmen sind in irgendeiner Form eingebunden in europäische Lieferketten und Vertriebsorganisationen. „Made in Germany“ oder „Made in Italy“ taugt bestenfalls für das Marketing. Mit dem wirklichen Leben hat das nichts zu tun. Diese wirtschaftliche Verschmelzung hat aber radikale politische Konsequenzen: Alle Gesetze und Regeln für die Herstellung von und den Handel mit Gütern müssen EU-weit gelten und müssen folglich auch EU-weit erlassen werden. Ganz gleich, ob es um die Zulassung von Autos, die Verpackung von Lebensmitteln oder den Vertrieb von Wertpapieren geht, ob es Babywindeln, Pestizide oder auch die Arbeitsbedingungen von LKW-Fahrern betrifft – nichts davon können die Nationalstaaten mehr alleine regeln. Das heißt: Der ganz überwiegende Teil der Gesetzgebung, der entscheidend für den Alltag der Verbraucher und Arbeitnehmer ist, geschieht nicht in den nationalen Parlamenten, sondern auf EU-Ebene.

Gewiss, all das ist seit geraumer Zeit bekannt. Doch seitdem die Neo-Nationalisten in Europa ihr Unwesen treiben, muss man das immer und immer wieder erklären. Wir sind in diesem integrierten Europa auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, ob uns das gefällt oder nicht. Die Rückkehr zum Nationalstaat ist keine realistische Option. Genau das ist ja auch die zentrale Lektion des schier endlosen Streits um den Brexit. Der Versuch, die wirtschaftliche Integration wieder aufzulösen, gleicht einer Kehrtwende auf der Autobahn. Ja, es ist technisch möglich, aber der Preis ist unbezahlbar.

Warum dann halten unsere Regierungen so eisern am bisherigen System fest? Warum machen sie einfach weiter so, obwohl das doch ganz offensichtlich undemokratisch und völlig ineffektiv ist?

Ich denke, darauf gibt es nur eine Antwort: Die nationalen Apparate und ihre Zampanos wollen ihre Macht nicht abgeben und lieber weiter alles unter sich ausmachen. Damit aber arbeiten sie nur andauernd den Rechtspopulisten in die Hände. Denn so nähren sie eine giftige Illusion. Die Illusion, man könne das jeweilige nationale Interesse auf Kosten der anderen durchsetzen.

Tatsächlich liefert dieses bornierte Festhalten am veralteten Muster den Antieuropäern nur ihr stärkstes Argument: In diesem Europa haben wir Bürger nichts zu sagen. Das steht ja auch hinter dem Brexit: Die Parole „Take back control“ entspringt eigentlich einem zutiefst demokratischen Impuls, der nur bösartig missbraucht wurde.

Darum gilt: Wer wirklich will, dass Europa friedlich bleibt und sich in der Welt behauptet, der muss dafür streiten, dass die europäische Gesetzgebung endlich so demokratisiert wird, dass die Bürger die EU und ihre Institutionen verstehen und akzeptieren können.

Das würde heißen: die Überführung der Euro-Gruppe und des ESM in reguläre Institutionen der Europäischen Union; echte europäische Wahlen nach dem Prinzip – one man, one vote – mit europaweiten Kandidatenlisten, so wie es Macron ja auch vorgeschlagen hat; die Wahl der EU-Kommission durch das Parlament – unabhängig von der nationalen Herkunft der Kandidaten; und das Initiativrecht für das Parlament, das heißt, die Abgeordneten müssen auch Gesetze vorschlagen dürfen.

All das scheint zurzeit noch utopisch. Aber in diese Richtung muss es gehen, wenn wir Europa vor der Rückkehr in den nationalen Wahn bewahren wollen. Und selbst wenn es bis zu einer solchen neuen Verfassung für die EU noch ein weiter Weg ist, die wichtigste Voraussetzung dafür könnte jetzt sofort und ohne Änderung des EU-Vertrags durchgesetzt werden, wenn dafür nur genügend Druck gemacht würde: Die Geheimgesetzgebung im Rat und der Euro-Gruppe muss unbedingt ein Ende finden. Denn ohne Transparenz ist Demokratie unmöglich.

Dazu schrieb einst Immanuel Kant: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht. Denn eine Maxime, die verheimlicht werden muss, und zu der ich mich nicht öffentlich bekennen kann, ohne dass dadurch der Widerstand aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese Gegenbearbeitung aller gegen mich nirgendwo anders als von der Ungerechtigkeit haben, womit sie jedermann bedroht.“[13]


Das ist heute noch genauso wahr wie vor 224 Jahren.
Der Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor am 27. Februar auf der Konferenz „Europa, wo bleibt die Mitbestimmung?“ der Hans-Böckler-Stiftung und der IG BCE in Brüssel gehalten hat.

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