EU-Gericht erzwingt Akteneinsicht bei Europas wichtigstem Gesetzgeber

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Die Regierungen der EU müssen Bürgern und Journalisten auch während der Verhandlungen über anstehende EU-Gesetze Einsicht in alle zugehörigen Dokumente geben, und zwar auch dann, wenn daraus hervorgeht, welche Regierung wie zu dem jeweiligen Gesetzentwurf steht. Das entschieden am Mittwoch die Richter der ersten Instanz am Europäischen Gerichtshof und erteilten damit der bisherigen Geheimhaltung der Verhandlungen bei Europas mächtigstem Gesetzgeber eine deutliche Absage.

„Damit die Bürgerinnen und Bürger ihre demokratischen Rechte wahrnehmen können, müssen sie in der Lage sein, den Entscheidungsprozess in den an den Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organen im Detail zu verfolgen und Zugang zu allen relevanten Informationen zu haben“, stellten die Richter fest.

Anlass war eine Klage des Juristen und ehemaligen Leiters des Sekretariats im Rechtsausschuss des Europaparlaments Emilio de Capitani, der seit langem für mehr Transparenz in den EU-Institutionen eintritt. Capitani war aufgefallen, dass die gesetzgebende Kammer der EU-Staaten, der Rat, zahlreiche sogenannte „technisch Arbeitsdokumente“ systematisch geheim hält und diese häufig entgegen der gesetzlichen Pflicht nicht einmal in das amtliche Dokumentenregister eingetragen sind. Erst bei Anträgen auf Akteneinsicht geben die Beamten des 3000 Köpfe starken Ratssekretariats die entsprechenden Dokumentennummer an, denen die Buchstaben WK für „working“ vorangestellt sind. Zugleich verwehren sie jedoch in den meisten Fälle den Zugang.

Denn eben diese Dokumente sind es, aus denen häufig hervorgeht, welche Regierung welche Haltung zu einem anstehenden Gesetzentwurf einnimmt – eine Information, welche die verantwortlichen Beamten und Minister gerne für sich behalten, um sich nicht öffentlich rechtfertigen zu müssen. Diese Geheimhaltung macht es jedoch möglich, dass Gesetze im Rat durch eine Sperrminderheit blockiert oder verwässert werden, ohne dass je ein Bürger erfährt, welcher Minister aus welchem Land dafür verantwortlich ist.

Investigate Europe ist es mit der Veröffentlichung entsprechender Interna schon mehrfach gelungen, den Lobbyeinfluss auf einzelne Regierungen zu enthüllen. So musste etwa die sozialistische  Regierung in Portugal im Jahr 2020 ihre Blockade gegen ein Gesetz zur Steuertransparenz für Konzerne aufgeben, nachdem IE ihre Ablehnung öffentlich gemacht hatte. In der Folge gab es dann eine ausreichende Mehrheit im Rat. Das Gesetz konnte darum nun mit sechs Jahren Verzögerung in Kraft getreten.


Der Jurist Emilio De Capitani setzt sich seit langem für mehr Transparenz in den EU-Institutionen ein. (Camera dei deputati/Flickr CC BY-ND 2.0)

Capitani hatte hatte schon zuvor für die Verhandlungen über eben dieses Gesetz Zugang zu den WK-Dokumenten beantragt, der ihm aber verweigert wurde. Zur Begründung beriefen sich die Beamten auf die geltende Transparenzverordnung, wonach Dokumente geheim gehalten werden dürfen, wenn ihre Veröffentlichung „den Entscheidungsprozess der Institution ernsthaft beeinträchtigen würde“. Das ließ der erfahrene Jurist nicht gelten und legte Klage in Luxemburg ein. Die Regierungen in Belgien, Niederlanden, Schweden und Finnland, wo das Regierungshandeln traditionell höchst transparent erfolgt, schlossen sich ausdrücklich der Klage an.

Drei Jahre später gaben die Richter Capitani jetzt in fast allen Punkten Recht. Ihr Urteil liest sich wie eine Nachhilfe in Sachen Demokratie für die Verantwortlichen. So schrieben sie etwa, „es sei daran erinnert, dass in einem System, das auf dem Grundsatz der demokratischen Legitimität beruht, die Co-Gesetzgeber [der EU] sich für ihr Handeln gegenüber der Öffentlichkeit verantworten müssen.“ Darum weisen die Richter die pauschale Begründung von der drohenden Unterminierung der Verhandlungen genauso pauschal zurück. Der Rat müsse vielmehr „das besondere Interesse, das durch die Nichtverbreitung des betreffenden Dokuments geschützt werden soll, gegen das öffentliche Interesse an der Zugänglichmachung des Dokuments abwägen, die sich aus einer größeren Offenheit ergeben.“ Schließlich ermögliche dies „den Bürgern eine engere Beteiligung am Entscheidungsprozess und gewährleistet eine größere Legitimität der Verwaltung.“ Die angefochtene Entscheidung „ist daher für nichtig zu erklären“, beschlossen die Richter.

Ob sich damit die Praxis der Geheimhaltung im Rat tatsächlich ändert, ist allerdings keineswegs ausgemacht. In zwei vorangegangenen Urteilen hat der Gerichtshof bereits ganz ähnliche Forderungen erhoben, doch die Mehrheit der Mitgliedsstaaten weigert sich, dem Willen des Gerichts zu folgen. Auf Nachfrage von IE ließ der Rat auch keine Bereitschaft zur Veränderung der bisherigen Geheimhaltungspraktiken erkennen.  Man habe „das Urteil in der Rechtssache De Capitani aufmerksam zur Kenntnis genommen“ und  werde die „die Auswirkungen auf die künftige Arbeit des Rates sorgfältig prüfen“, erklärte eine Sprecherin nur.

Transparenz-Kämpfer Capitani ist darum enttäuscht, dass die Richter den Rat nicht auf die automatische „pro-aktive“ Veröffentlichung aller Dokumente zu den Verhandlungen in seinen 150 Ausschüssen verpflichtete. Ohne diese Pflicht „ist das Urteil widersprüchlich“, sagte Capitani im Gespräch mit IE. Einerseits verlange das Gericht Offenheit. Gleichzeitig aber beließen es die Richter dabei, die Bürger und Journalisten auf den bisher üblichen Prozess des Antrags auf Akteneinsicht zu verweisen. Auf das Ergebnis müsse man aber meistens „bis zu zwei Monate warten, wenn die Verhandlungen oft schon abgeschlossen sind. Für Berichterstattung und öffentlichen Diskurs, wie es einer Demokratie gebührt, ist das viel zu spät“, konstatiert Capitani.

Diese Einschätzung teilen auch die EU-Fachleute von Transparency International (TI). Die Papiere zu den gesetzgebenden Verhandlungen müssten einfach und schnell zugänglich sein,erklärt Shari Hinds, die zuständige Fachfrau bei TI. Ihre Organisation forder schon seit Jahren, dass auch der Rat diesen demokratischen Standard einhalten müsse.

Capitani ist denn auch entschlossen, keine Ruhe zu geben. Um dem Urteil einen praktischen Wert zu verschaffen, werde er ab sofort „jede Woche Antrag auf Zugang zu allen Dokumenten der laufenden Verhandlungen stellen“ und auf dieser Basis „eine öffentliche Datenbank zur Gesetzgebung in der EU aufbauen“, kündigte er an.

Auch IE macht derzeit die Probe aufs Exempel und stellte einen entsprechenden Antrag auf Akteneinsicht zu laufenden Verhandlungen. Gegenstand ist das geplante EU-Gesetz zur Sicherung der Medienfreiheit.