Wie europäische Staaten Schengen abschaffen

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Austrian Armed Forces at the Spielfeld border crossing,

An einem kühlen Novembertag 2019 übertrat ein Mann die Grenze von Slowenien in die österreichische Stadt Spielfeld. Umgehend stoppten ihn mehrere Beamten und forderten den Mann auf, sich auszuweisen. Doch er weigerte sich. Denn, so argumentierte er, es handle sich nicht um eine routinemäßige Identitätsfeststellung, sondern um eine illegale Grenzkontrolle. Der Protest hatte seinen Preis, ein Bußgeld in Höhe von 36 Euro.

Dagegen klagte der Mann. In diesem Frühjahr urteilten die Richter des Europäischen Gerichtshofs nun, dass der Mann recht habe. Österreich hatte mit seinen Grenzkontrollen gegen EU-Recht verstoßen. Das Urteil ist brisant. Denn nach Ansicht des Gerichts können Schengenstaaten Grenzkontrollen vorübergehend bei Gefahrenlagen einführen, müssen diese aber nach einem halben Jahr neu bewerten und belegen, warum Kontrollen weiterhin notwendig seien. Die EuGH-Richter kamen aber zu dem Schluss, dass Österreich dies nicht getan habe. Die Kontrollen waren rechtswidrig.

Der Mann, der an jenem Novembertag 2019 im österreichischen Spielfeld gestoppt wurde, wusste, was er tat. Stefan Salomon arbeitet als Professor für EU-Recht an der Universität Amsterdam. Mit seiner Aktion damals und der folgenden Klage, habe er die Rechtmäßigkeite der Kontrollen prüfen wollen, sagt er im Gespräch mit Investigate Europe. „Der Europäische Gerichtshof hat entschieden: Staaten, die rechtswidrige Grenzkontrollen durchführen, dürfen keine Geldstrafe verhängen, wenn Menschen ihre Pässe nicht vorzeigen.“ Mehr noch. Laut Salomon können Menschen Staaten nun für alle wirtschaftlichen Schäden haftbar machen, die ihnen durch unrechtmäßige Grenzkontrollen entstanden seien.

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EU-Rechtsprofessor Stefan Salomon klagte gegen Kontrollen an der slowenisch-österreichsichen Grenze

Die Binnengrenzkontrollen haben einen hohen Preis. Eine Studie im Auftrag des EU-Parlaments ergab, dass bereits eine zweijährige Aussetzung der Grenzkontrollen im Schengenraum die europäische Wirtschaft 51 Milliarden Euro kosten könnte. Dauerhafte Kontrollen würden einen jährlichen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts der EU um 0,14 Prozent bzw. 230 Milliarden Euro bedeuten.

Doch die EU-Staaten zahlen einen weiteren, politischen Preis: den Verlust ihrer Glaubwürdigkeit, die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU zu verteidigen. Immer wieder hatten Frankreich, Deutschland und Österreich in den vergangenen Jahren die polnische und ungarische Regierung getadelt, Urteile des Europäischen Gerichtshofs zu beachten und somit die Rechtsstaatlichkeit einzuhalten. Doch eben diese Staaten seien es nun, die sich „nicht an eine wichtige Entscheidung des EuGH halten“, sagt EU-Rechtsprofessor Stefan Salomon. „Und dass nur, weil sie ihnen nicht gefällt.“

Denn trotz des EuGH-Urteil im April haben Frankreich, Deutschland und Österreich ihre Grenzer weiter Reisende kontrollieren lassen oder bestehende Kontrollen erneuert.

Im Jahr 2015 führten mehrere Schengen-Staaten Grenzkontrollen ein. Zuvor hatten binnen Monaten Hunderttausende Menschen aus Syrien und Afghanistan Asyl in Europa beantragt. Die schwedische Regierung begründete ihre Entscheidung damals damit, „den Druck zu verringern“ auf Einrichtungen wie das Gesundheits- sowie Bildungssystem. Die Grenzkontrollen sollten zehn Tage gelten. Sie dauern bis heute.

Unter dem Eindruck der vielen Schutzsuchenden im Jahr 2015, erlaubten die EU-Regierungen mehreren Staaten, darunter auch Deutschland, die Schengen-Regeln außer Kraft zu setzen und Grenzkontrollen einzuführen für einen Dauer von zwei Jahren. Doch als dieser Zeitraum abgelaufen war, stellten Norwegen, Schweden, Dänemark, Deutschland, Österreich sowie Frankreich die Kontrollen nicht ein – stattdessen verlängerten sie diese mit immer gleichen Gründen. Eine Praxis, die der EU-Gerichtshof nun für rechtswidrig erklärte.

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Doch unmittelbar nach dem Urteil teilten mehrere Regierungen mit, dass sie auch künftig ihre Grenzen kontrollieren lassen wollen – und begründeten dies wie in den Jahren zuvor mit „Migration“ und „terroristischen Bedrohungen“.

Auch Deutschland seit dem Jahr 2015 offiziell die Grenze zu Österreich kontrollieren. Das sei mit dem EuGH-Urteil vereinbar und daher auch weiterhin möglich, lässt Innenministerin Nancy Faeser eine Sprecherin mitteilen. Nötig sei die Aussetzung der Schengenregeln „[…] insbesondere vor dem Hintergrund der fragilen Lage an der türkisch-griechischen Grenze, des illegalen Migrationspotentials entlang der Balkan-Route und über die zentralmediterrane Route sowie der erheblichen illegalen Sekundärmigration im Schengen-Raum“.

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Deutschland, Österreich und den vier weiteren Staaten hat die EU-Kommission bislang keine Konsequenzen angedroht. Auf Nachfrage teilt die Kommission aber mit, sie bespreche momentan mit den Staaten „die Bedeutung des EuGH-Urteils“. Doch statt zur Rechtsordnung zurückzukehren, könnten die Mitgliedsstaaten bald dauerhaft die Regeln ausheben. Seit vergangenem Jahr diskutieren sie eine Reform des Schengen-Abkommens. Dafür hatte die Kommission einen ersten Vorschlag vorgelegt, der weiter auf Kontrollen bestand. Doch unter dem Druck mehrerer Mitgliedstaaten habe die Kommission bereits angedeutet, dass „fast endlose Verlängerungen der Grenzkontrollen möglich sind“, sagt die französische Abgeordnete Sylvie Guillaume, die im EU-Parlament die Schengen-Reform begleitet. Das letzte Wort über den Schengener Grenzkodex ist noch nicht gesprochen. Das Europäische Parlament wird den Vorschlag ebenfalls ändern und mit dem Rat über den endgültigen Text verhandeln. Dies wird wahrscheinlich im nächsten Jahr geschehen.

Betreuender Redakteur: Chris Matthews / Grafiken: Marta Portocarrero