Offen für Flüchtlinge, offen für die EU: eine Woche, die das Blatt in Polen wendete

An der Bieszczady Grenze zwischen Polen und der Ukraine | Foto: Wojciech Cieśla

Seit dem 24. Februar hat sich in Polen alles verändert. Russlands Angriff auf die Ukraine hat das Blatt gewendet.

In Polen, das mehr als 40 Jahre als Satellitenstaat der UdSSR überlebt hat, scheiden sich die Geister, wenn es um das Verhältnis zu Russland angeht. Für die Elite ist die Kenntnis russischer Kultur (Film, Literatur, Musik) absolute Grundlage. Ein gebildeter Pole muss Dostojewski und Schostakowitsch kennen. Andererseits gibt es eine enorme Abneigung gegen den autokratischen und imperialistischen Putin. Die Stimmung in einem Satz? Ach, Russland, tolle Menschen, schreckliche Regierung.

Dann sind da noch die historischen Altlasten von 120 Jahren polnischer Teilung: Polen, die nach Sibirien geschickt werden, die Zerstörung der Intelligenzija, die erzwungene „Russifizierung“. Und da ist die Erinnerung an ein Moskau, das sich seinen Nachbarn überlegen fühlt und glaubt, dass sie nach seinem Gutdünken leben oder sterben sollen. Deswegen sind die liebsten Verbündeten der Polen USA und NATO – groß, stark, abschreckend. In solcher Gesellschaft kann man sich im Angesicht des unberechenbaren Russlands sicher fühlen – anders als bei den Diplomaten in Brüssel.

Die deutsche Überraschung

Als Putin die Ukraine angriff, konnten die Polen zufrieden nicken und sagen: „Haben wir es euch nicht gesagt?“ Zu dieser Schadenfreude gesellte sich erstmals ein öffentliches Interesse an europäischer Politik. Zunächst wurde über das Maß der Sanktionen gefeilscht (wird Russland aus SWIFT ausgeschlossen? Was ist mit Nordstream 2?), dann schaltete Deutschland unerwartet seine Verteidigungspolitik um.

In Warschau hatte das niemand erwartet, am allerwenigsten die regierungsnahen Medien, die Deutschland rund um die Uhr angreifen. Innerhalb eines Tages verloren sie ihre Grundlage. Die anti-deutschen Politiker mussten demütig in den sauren Apfel beißen. Heute, nach mehr als einer Woche Krieg, kann schon die Andeutung von EU-feindlichen Einstellungen in der Öffentlichkeit eine Welle von Kritik aus beiden Lagern nach sich ziehen.

Polen – ein Land mit 38 Millionen Einwohnern an der östlichen Außengrenze der EU und der NATO. Seit sieben Jahren regiert dort die EU-feindliche Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS), unter der de facto Eigenregie von Jarosław Kaczyński. Die politische Landschaft Polens in den letzten Jahren war gezeichnet von einer unverhohlenen Missachtung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs; anti-EU Populismus; dem Schüren von Angst in der Gesellschaft vor Flüchtlingen, die es nicht gibt; Xenophobie; Verstößen gegen Frauenrechte und Verfolgung von LGBT Minderheiten. Die Justiz ist politisiert – und die EU hat Covid-19 Hilfspakete wegen Verfassungsverstößen ausgesetzt. Die polnische Regierung folgt den Schritten ihres ungarischen Freundes Viktor Orbán. Ihn hat sie zum Vorbild, wenn es darum geht, sich mit der leidigen EU anzulegen.

Pro-EU über Nacht

Der russische Angriff auf die Ukraine erlaubt der Regierung eine neue Karte zu spielen: die des pro-EU Staates, der für Allianzen offen ist und zugleich ein illiberales Regime bleibt. Schon am ersten Tag des Krieges hörte ich bei einer Demonstration vor der russischen Botschaft in Warschau missbilligendes Raunen, als einer der Sprecher Deutschland erwähnte. Ach, diese Deutschen. Kurzsichtig, von Putin manipuliert, abhängig von russischem Gas (von dem übrigens auch Polen noch stark abhängt). Deutsche sind pragmatisch und vorsichtig. Slaven lassen hingegen ihre Muskeln spielen und schicken Putin dorthin, wo die Verteidiger der Schlangeninsel das russische Schiff schickten, als sie von dem Angriff auf die Ukraine erfuhren.

Die 180-Grad-Wendung Deutschlands hat dieses Raunen verstummen lassen. Auf Warschaus Straßen glaubt man nun, dass Deutsche gezeigt haben, dass sie in Gefahrensituationen entschieden handeln können.

Gute Flüchtlinge und die anderen

Seit dem Sommer 2021 herrscht ein Stellungskrieg an der Grenze mit Belarus. Flüchtlingen, die von Lukaschenkos Regime nach Belarus gelockt werden, verwehrt Polen die Einreise. Die Männer des Diktators holen sie aus aller Welt: aus Syrien, Afghanistan und Jemen, und drängen sie über die Grenze nach Polen. Auf der polnischen Seite ist der mehrere Kilometer breite Grenzstreifen von humanitärer Hilfe abgeschnitten und für Journalisten unzugänglich. Polnische Grenzschutzbeamte fangen Geflüchtete ein und bringen sie zurück nach Belarus – ungeachtet der Proteste von Zivilgesellschaft und Hilfsorganisationen.


Demonstration in Warschau gegen Russlands Angriff auf die Ukraine | Foto: Wojciech Cieśla

Am zweiten Tag des russischen Angriffs waren Polens Grenzen dann plötzlich offen. Eine Welle von Flüchtlingen aus der Ukraine erreichte Polen, und Tausende Polen fuhren zu den Grenzen, um zu helfen. Sie brachten Kleidung und Nahrungsmittel und transportierten ukrainische Familien ins Landesinnere. Polen, das seit mehr als sechs Monaten Flüchtlinge ausweist, öffnet plötzlich seine Tore. Fast 600.000 ukrainische Staatsbürger reisten in den ersten Kriegstagen ein. Schätzungen zufolge sollen es bis zu 5 Millionen werden. Kein Land in Europa hat bisher eine solche Menschenmenge in nur einer Woche aufgenommen.

Die Folgen für Polen werden historisch sein. Und sicherlich holprig.

Einige westliche Journalisten sehen in der Situation an den Grenzen ein Beispiel für Rassismus: Polen bevorzugen weiße, christliche Ukrainer statt Flüchtlinge aus der arabischen Welt oder Afrika.

Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Um diese zu verstehen, braucht es Kontext. Ukrainer leben schon lange in Polen und mehr als eine Million von ihnen sind Teil des legalen Arbeitsmarkts. Bank- und Fahrkartenautomaten in Warschau können auf ukrainisch bedient werden, und jeder einzelne Mensch in Polen kennt eine ukrainische Familie. Dadurch sind diese Kriegsflüchtlinge viel vertrauter als Neuankömmlinge aus anderen Ländern. Außerdem ähneln sich die beiden Sprachen.

Dennoch sind nicht alle Polen freundlich und nicht gegenüber jedem, der aus der Ukraine kommt. Übernacht wurde Polen zum Schlachtfeld eines russischen Desinformations-Krieges. Inspiriert durch Russland-nahe Trolle haben polnische Nationalisten begonnen sich aggressiv gegenüber Neuankömmlingen anderer Hautfarben zu verhalten. Hat die Regierung Kontrolle über die Nationalisten und deren Verbindungen zu Russland? Diese Frage kann niemand beantworten.

Atmosphäre wie im Krieg

Unterdessen werden in Polen alle Spuren von Russland ausradiert. Schostakowitsch und Tschaikowski wurden vom Programm eines Festivals an der Nationalphilharmonie in Warschau gestrichen. Das lokale Ballett hat stolz bekanntgegeben, dass keine russischen Staatsbürger in seinem Programm tanzen. Junge Männer melden sich freiwillig für eine Fremdenlegion in der Ukraine. Ich stelle mir vor, dass es sich in vielerlei Hinsicht wie der Spätsommer 1939 anfühlt. Die Atmosphäre ist bereits wie im Krieg.

Was hat sich sonst in Polen verändert? Die Einstellung gegenüber Ungarn und der extremen Rechten. Bisher wurde Viktor Orbán als Freund der Regierung präsentiert, ein politischer Verbündeter im Kampf gegen die EU. Jetzt ist dieses Bündnis unbequem geworden – seit Orbán angekündigt hat, keine Waffenlieferungen für die Ukraine über Ungarn zu erlauben, und seit bekannt wurde, dass Ungarn als einziger der EU-Staaten, die früher zur Sowjetunion gehörten, keine militärische Unterstützung an die Ukraine schickt. Die Freundschaft mit Orbán lässt sich nicht länger mit Propaganda in den Staatsmedien erklären. Das gleiche gilt für Le Pen in Frankreich und Salvini in Italien. Putins Verbündete gelten in Polen als Feinde.

Und dann ist da noch das Coronavirus. Es ist, als gäbe es das gar nicht mehr. Covid ist verschwunden. In den Medien und in der Gesellschaft scheint es nicht mehr zu existieren. Wir stecken uns noch an, wir tragen Masken und testen uns, aber niemand interessiert sich mehr für die Pandemie. Wie viele Fälle gibt es? Wie viele Menschen sterben? Das Thema wurde beiseitegelegt, weil in den letzten Tagen eine gefährlichere Bedrohung aufgetaucht ist: der Nachbar im Osten. Ein wahnsinniger Autokrat mit seinem Finger auf dem atomaren Schalter.