EU-Kommission will Pestizideinsatz reduzieren, um Nahrungsmittelkrise zu verhindern

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Die neue Pestizidregelung der EU würde der Landwirtschaft erstmals feste Vorgaben machen

Ohne eine ökologische Wende ist laut EU-Kommissionsvize Frans Timmermans die Zukunft des europäischen Agrarsektors in Gefahr. Werde der Einsatz von Ackergiften nicht begrenzt, „dann wird das Problem der biologischen Vielfalt in zehn oder 15 Jahren so gravierend sein, dass die Landwirtschaft in Europa nicht mehr aufrechterhalten werden kann“, sagte Timmermans im Interview mit Investigate Europe. „Dann werden wir wirklich eine Nahrungsmittelkrise in Europa haben.“

Die EU-Verordnung für verringerten Pestizideinsatz (SUR) wird die erste bindende Rechtsvorschrift des EU-Programms „Farm to Fork“, vom Hof auf den Tisch, sein. Sie sieht vor, dass Landwirten in den Mitgliedsstaaten bis 2030 ihren Pestizideinsatz halbieren müssen. Viele industrielle Bauern fürchten deshalb, um ihre Existenz, die auch auf dem Einsatz von Ackergiften basiert. Grund dafür sei auch die Agrochemieindustrie und deren Lobby, sagt Timmermans im Gespräch: „Die Interessengruppen lassen sie glauben, dass das, was wir tun, die Landwirtinnen und Landwirte ihren Lebensunterhalt kosten wird.”

Langfristig wird laut Timmermans die neue Strategie den Landwirten helfen. „Momentan befinden wir uns auf Grund des Krieges in der Ukraine in einer sehr schwierigen Situation”, sagte Timmermans. „Aber wenn wir wegen dieser Probleme die Farm-to-Fork-Strategie auszusetzen würden, könnte das langfristig die Gesundheit und Überlebensfähigkeit unseres Agrarsektors zerstören.“

Noch eindringlicher warnen führende Wissenschaftler davor, wegen des Ukraine-Krieges die geplanten Reformen zu verschieben. „Die Reaktionen nach Ausbruch des Krieges kamen mir vor wie die Entscheidung, mein Haus anzuzünden, weil mir kalt ist“, sagt der Leipziger Agrarbiologe Josef Settele, einer der Leitautoren des Berichts des Weltbiodiversitätsrates. „Das zeigt, dass viele Entscheidungsträger nicht verstanden haben, welche Bedeutung nachhaltige Landwirtschaft hat und wie sie mit dem Artenverlust zusammenhängt.“


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Mindestens 15 EU-Mitgliedstaaten haben Vorbehalte gegen die vorgeschlagene Verordnung geäußert.

Schon im Jahr 2009 hatte die EU eine Pestizidrichtlinie verabschiedet, die eine drastische Verringerung des Einsatzes von Ackergiften vorsah. Doch die Mitgliedsstaaten ignorierten die nicht-bindenden Vorgaben weitgehend. Die Absatzmengen blieben in den vergangenen zehn Jahren nahezu unverändert. Unverbindlich Ziele würden „uns nicht weiterbringen“, sagt Timmermans nun und fügt hinzu: „Verbindliche Ziele geben der Industrie und dem Agrarsektor Sicherheit.“

In Gesprächen mit Investigate Europe warnen nun mehrere Wissenschaftler, dass ein radikaler Wandel notwendig ist, oder Europas Biodiversität weder unwiederbringlich zerstört. Der massive Pestizideinsatz führe bereits heute dazu, dass Insekten- und Vogelpopulationen messbar schrumpfen sowie Wasser mit Ackergiften kontaminiert wird und so auch die Gesundheit der Menschen gefährdet.

Insekten verschwinden mit „alarmierender Geschwindigkeit“

Der Biologieprofessor an der Universität von Sussex, Dave Goulson, spricht von einer „Krise der biologischen Vielfalt.“ Er sagt: „Die Arten sterben so schnell aus wie seit 65 Millionen Jahren nicht mehr, seit der Meteor die Dinosaurier ausgelöscht hat. Und es beschleunigt sich.“ In den vergangenen Jahrzehnten wuchs die industrielle Landwirtschaft rasant. Heute ist sie angewiesen auf Pestizide und Düngemittel. Das bedroht natürliche Ökosysteme, darunter die Lebensräume von Insekten, die eine unersetzliche Rolle bei der Bestäubung der Pflanzen einnehmen. Laut Timmermans sind 70 Prozent der Böden in der EU heute in einem ungesunden Zustand. Vier von fünf dieser Flächen werden landwirtschaftlich Flächen oder als Grünland genutzt. Laut der britischen Naturschutzorganisation Kent Wildlife Trust verschwinden Fluginsekten in einem „alarmierenden Tempo“. Deren Zahl sank im Vereinigten Königreich laut einer Erhebung zwischen 2004 und 2021 um fast 60 Prozent gesunken. Eine niederländisch-deutsche Studie aus dem Jahr 2017 über Schutzgebiete in Deutschland dokumentiert einen Rückgang der Insektenpopulation um 75 Prozent binnen weniger als 30 Jahren.

Bremst der Ukraine-Krieg den Pestizidausstieg?

Unterdessen hat Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, einen der größten Weizenlieferanten der Welt, zu Unsicherheiten bei der weltweiten Nahrungsmittelproduktion. In der Folge formieren Abgeordnete des EU-Parlaments sowie EU-Mitgliedsstaaten Widerstand gegen Timmermans geplanten Vorschlag. Sie argumentieren, dass weniger Pestizide auf den Feldern zu geringeren Ernteerträgen führen könnten. Die Mitgliedsstaaten müssen dem Kommissionsvorschlag noch zustimmen, damit dieser eine bindende Verordnung werden kann.

Nach Informationen von Investigate Europe äußerten unlängst 15 EU-Staaten Zweifel an dem Entwurf der EU-Kommission. So fordern etwa Österreich, Finnland und Tschechien, dass die Kommission die Reduktionsziele des Pestizideinsatz an die Situation in den jeweiligen Mitgliedsstaaten anpassen sollte. Auf Nachfrage teilte die tschechische Regierung mit: „Wir erwarten eine intensive Diskussion, es wird schwierig, dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen.“ Offen unterstützt momentan nur die deutsche Bundesregierung den Kommissionsvorschlag aus, den Pestizideinsatz bis 2030 zu halbieren.

Doch der Krieg in der Ukraine sei ein Grund, die Verordnung umzusetzen und nicht zu bremsen, sagt Kommissionsvize Frans Timmermans. Die Farm-to-Fork-Strategie und die dazugehörende Verringerung des Pestizideinsatzes werden das Geschäftsmodell der Bauern retten und nicht zerstören. Denn nur so könne die Artenvielfalt gerettet werden, die Grundlage für die Landwirtschaft sei. „Das ist eine größere Bedrohung für unsere langfristige Ernährungssicherheit als der Krieg in der Ukraine, denn 75 Prozent der wichtigsten angebauten Lebensmittel sind von der Bestäubung durch Tiere abhängig“, sagte Timmermans im Gespräch mit Investigate Europe und fordert: „Bitte lassen Sie uns die unmittelbare Krise trennen von der langfristigen Anpassung, die wir brauchen.“

Die Recherche von Investigate Europe, „Stiller Tod: Europas Pestizidproblem und das Artensterben“, wird am Freitag, den 24. Juni, mit Medienpartnern in ganz Europa veröffentlicht.