Wie ein EU-Leitfaden den Ersatz gefährlicher Pestizide verhindert

Wenn Landwirtinnen und Landwirte dieser Tage auf Äckern von Schweden bis Italien ihre Wintergerste ausbringen, sprühen sie häufig auch Herbizide mit Flufenacet – einem Wirkstoff, der eigentlich nur unerwünschte Gräser vernichten soll. Immer öfter wird dessen Abbauprodukt Trifluoracetat (TFA) aber auch im Trinkwasser nachgewiesen. Das Problem: TFA lässt sich kaum herausfiltern, ist für Algen giftig und auch für Säugetiere könnte es schädlich sein. Studien dazu laufen. Trotz der Risiken hat sich der Absatz von Herbiziden mit Flufenacet zwischen 2014 und 2020 verdoppelt, zeigen Daten des deutschen Umweltbundesamtes. 

Die EU hat Flufenacet wegen dessen „ungünstiger Eigenschaft“ auf eine Liste mit potenziell gefährlichen Pestizid-Wirkstoffen gesetzt. Der Einsatz dieser sogenannten Substitutionskandidaten ist zwar nicht verboten. Die EU-Staaten sollen die insgesamt 53 Stoffe jedoch – wo überall möglich – durch harmlose Alternativen ersetzen.

Mit dieser Regelung soll seit 2015 der Einsatz von Alternativen zu toxischen Pestiziden angeschoben werden – bislang ist dieses Vorhaben gescheitert. Das zeigt ein neuer Bericht der Umweltorganisation Pesticide Action Network (PAN) Europe, der dem Journalistenteam Investigate Europe vorab vorlag. Kein einziger Substitutionskandidat sei bislang durch eine nicht-chemische Alternative ersetzt worden. Dieser Bericht kommt zu einer Zeit, in der innerhalb der EU heftig über eine neue Regulierung des Einsatzes von Pestiziden gestritten wird. Wie Investigate Europe in diesem Sommer dokumentieren konnte, hat der massive Einsatz von Pestiziden europaweit Ökosysteme zerstört. Wie bei den potenziell gefährlichen Substitutionskandidaten hat die EU das Problem auch an anderer Stelle verdrängt.

Nun will Kommissionsvize Frans Timmermans mit einer neuen Verordnung das Problem lösen. Doch wie Investigate Europe diesem Sommer berichten konnte, haben Chemiekonzerne und die Agrarlobby eine Gegenbewegung formiert. Die nutzt unter anderem den Ukraine-Krieg, um gegen eine Reform und somit Reduktion des Pestizideinsatzes zu argumentieren. Ihre Logik: Die Abschaffung von Pestiziden würde geringere Ernteerträge riskieren und das in einer Zeit, in der die weltweite Nahrungssicherheit durch einen Krieg gefährdet sei. Doch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fürchten unterdessen, dass der weitere massive Pestizideinsatz gefährdet die dauerhafte Nahrungssicherheit.

Wie umfassend das Pestizidproblem ist, zeigt auch der europaweite Einsatz der riskanten Substitutionskandidaten. In Deutschland sind 36 der 53 Wirkstoffe in Pflanzenschutzmitteln enthalten, die aktuell zugelassen sind. In Österreich sind es 37. Diese wiederum sind insgesamt in 353 Pflanzenschutzmitteln enthalten, zählt die Umweltorganisation Global 2000, der österreichischen Partnerorganisation von PAN Europe. Knapp jedes fünfte Pestizid, das dort momentan zugelassen ist, enthalte einen Wirkstoff auf der Substitutionsliste. Deutschland und Österreich liegen damit im EU-Mittelfeld. In Ungarn werden mit 48 Wirkstoffen die meisten Substitutionskandidaten eingesetzt, in Dänemark mit 15 mit Abstand am wenigsten. 

Warum blieb die EU-Initiative, die zentral für die Pestizidregulierung sein sollte, so wirkungslos? Verantwortlich dafür könnte laut dem PAN-Bericht ein kaum bekanntes Gremium sein: die Pflanzenschutzorganisation für Europa und den Mittelmeerraum (EPPO). Das ist eine internationale Organisation, der 52 Staaten angehören, darunter auch alle EU-Mitgliedstaaten. Im Jahr 2011 hatten EPPO-Experten im Auftrag der EU einen Leitfaden erstellt, der den Mitgliedstaaten helfen sollte, das Substitutionsprinzip umzusetzen. Das heißt: Alternativen zu finden. 

Doch tatsächlich führe das Papier dazu, dass Substitutionskandidaten nicht ersetzt werden, kritisieren nun PAN Europe und Global 2000 in ihrer Studie. Grund dafür seien Formulierungen im Leitfaden. Darin heißt es etwa, dass eine „ausreichende chemische Vielfalt“ nötig sei, um zu vermeiden, dass Schädlinge Resistenzen entwickeln. Das betont EPPO auch auf Nachfrage: Eine Vielfalt von Wirkungsweisen gegen einen Zielschädling sei wichtig. 

Dieses Prinzip findet sich auch in dem Leitfaden wieder, der den Behörden bei der Anwendung des Substitutionsprinzip helfen soll. In der Praxis, analysieren die Umweltorganisationen, führe das dazu, dass die Bewertung ende, bevor nicht-chemische Alternativen in Erwägung gezogen werden.

„Damit fördert der Leitfaden die Zulassung von mehr und mehr toxischen Pestizidprodukten“, schreibt PAN in dem Bericht. Auch die EU-Kommission selbst räumte 2018 ein, dass die derzeitige Regelung nicht greife. „Die Vorschriften für Wirkstoffe, die für eine Substitution in Frage kommen, sind ineffektiv und ineffizient und haben nicht die erwarteten Ergebnisse gebracht“, schreibt sie. Grund sei laut Kommission allerdings nicht der EU-Leitfaden, sondern ein Mangel an Alternativen. Ihre Politik änderte die Kommission nicht. 

Laut dem Biologen Dave Goulson von der Universität Sussex mangle es jedoch nicht an Alternativen. Vielmehr fehle es an Unterstützung für die biologische oder integrierte Landwirtschaft, in der Pestizide als letzter Schritt genutzt werden. “Zurzeit haben wir ein Agrarsystem, in dem die meisten Ratschläge für Landwirte von Agronomen kommen, die für Pestizidfirmen arbeiten”, sagte er zu Investigate Europe. Es überrasche daher nicht, dass sie Pestizide als erste und oft einzige Lösung sehen. “Es gibt Wege, um den Einsatz chemischer Pestizide stark zu reduzieren”, ergänzt er. Nur müsse das Wissen dazu stärker gefördert werden.

Da das aber kaum geschieht, wird auf europäischen Feldern statt mit biologischen Methoden weiterhin mit chemischen Wirkstoffen gearbeitet. Das hat Folgen: Neben den TFA-Rückständen im Wasser, stellte PAN Europe auch bei verschiedenen Obstsorten eine steigende Belastung mit Substitutionskandidaten fest: Für Äpfel etwa ist sie EU-weit von 17 Prozent im Jahr 2011 auf 34 Prozent im Jahr 2020 gestiegen. Für Birnen stieg sie im selben Zeitraum von 26 auf 49 Prozent, für Weintrauben von 31 auf 46 Prozent. „Diese Daten liefern keinen Hinweis, dass das Substitutionsprinzip funktioniert“, sagt dazu Helmut Burtscher-Schaden von Global 2000. Das Gegenteil sei der Fall.