Hannah Neumann, EU-Abgeordnete: “Das EU-Parlament wird aus der Verteidigungspolitik rausgehalten“

Auszüge eines Interviews:

Die EU wurde als Friedensprojekt geschaffen und erhielt sogar den Friedensnobelpreis. Sollte sie jetzt auch zu einer Militärmacht werden?

Damit die EU ein Friedensprojekt bleiben kann, muss sie unbedingt ein globaler Akteur für Krisen- und Konfliktprävention bleiben. Wir müssen uns verteidigen können und manchmal auch die militärisch unterstützen können, die für jene Werte einstehen, welche die Basis für Frieden sind. Ja, wir müssen leider eine Militärmacht werden, um den Frieden zu schützen.

Bedeutet das, dass es eine gemeinsame europäische Armee geben sollte?

Ich glaube, dass eine europäische Armee die richtige Idee ist. Das würde garantieren, dass europäische Staaten niemals gegeneinander Krieg führen, und noch dazu würde es eine Menge Geld sparen. Doch um das zu erreichen, müssen wir uns über ein paar sehr konkrete Regeln klar werden, unter denen eine solche Armee geschaffen und genutzt werden würde. Wir müssten über einen Entscheidungsfindungsprozess diskutieren, über die Kontrollrechte des Europäischen Parlaments, über die Mandate und die Bedingungen, unter denen wir Truppen in anderen Ländern einsetzen, über Maßnahmen für unsere kollektive Sicherheit und auch über die Nutzung von Atomwaffen. Ob ich eine europäische Armee befürworte, hängt schlussendlich von den Antworten auf diese Fragen ab. Ich würde zum Beispiel niemals eine Europäische Armee befürworten, die nicht in erheblichem Maße vom Europäischen Parlament kontrolliert wird.

Um eine solche Armee zu schaffen, müssten die EU-Verträge tiefgreifend verändert werden. Aktuell sehen diese kein gemeinsames Militär vor.

Absolut. Was die Verträge angeht, sind wir noch nicht bereit. Es gibt bislang keine ernsthafte EU-Verantwortlichkeit für Außen- und Sicherheitspolitik – diese liegt nach wie vor bei den Mitgliedsstaaten. Tatsächlich sind Schritte in Richtung einer europäischen Armee nur sinnvoll, wenn wir auch eine Entscheidungsgewalt auf EU-Ebene haben. Daher glaube ich, dass wir im Moment nicht über eine potentielle EU-Armee diskutieren müssen – denn diese kann erst Gestalt annehmen, wenn die Mitgliedsstaaten bereit sind, gewisse Souveränitätsrechte an die EU abzugeben. Bis dahin sollten wir erst einmal das verbessern, was wir haben, und vollumfänglich umsetzen, was im Rahmen unserer aktuellen Verträge geht.

Bedeutet das, dass die EU sich von den USA lösen und ein gemeinsames Militär außerhalb der Nato entwickeln sollte?

Ich bin nicht dafür, dass wir unabhängig von unseren Verbündeten werden. Denn wenn wir zusammenhalten und die gleichen Ziele verfolgen, sind wir stärker. Das zeigt sich aktuell im Konflikt mit Russland. Doch leider hat die Präsidentschaft Donald Trumps gezeigt, dass die EU-Staaten sich nicht sicher sein können, dass ihnen die USA immer beistehen werden. Trump hat sogar in Frage gestellt, ob wir im Falle eines russischen Angriffs auf die Unterstützung der Nato zählen könnten. Mittelfristig müssen wir also sicherstellen, dass wir uns selbst verteidigen und Krisen in unserer direkten Nachbarschaft wenn nötig allein lösen können.

Die Bundesregierung nimmt nun 100 Milliarden Euro für die Modernisierung der Bundeswehr in die Hand. Wäre es nicht sinnvoller, dieses Geld in die Schaffung eines europäischen Militärs zu stecken?

Alle im EU-Politikbetrieb, auch die Franzosen und die Polen, sind sehr zufrieden damit, dass Deutschland endlich in seine Armee investiert. Denn sie wissen: je stärker die Deutschen, desto stärker das militärische Potenzial Europas. Nichtsdestotrotz ist es dringend notwendig, dass alle Mitgliedsstaaten, die ihr Verteidigungsbudget erhöhen, sich angucken, was die EU als Ganze wirklich braucht, um sich besser verteidigen zu können: Fehlen uns Panzer? Oder Flugzeuge? Oder Satelliten? Im Anschluss können wir uns auf eine Arbeitsteilung einigen und Rüstung koordiniert anschaffen. So könnten wir viele Milliarden Euro sparen. Die Hersteller müssten miteinander darum konkurrieren, wer die EU-Mitgliedsstaaten als Ganze mit Technologien versorgt, anstatt sie gegeneinander auszuspielen und die Preise zu erhöhen, wie es in der Vergangenheit passiert ist. Wir sollten also eine gemeinsame „EU-Einkaufsliste” schreiben, anstatt 27 separate. Solange wir uns nicht einmal bei diesen offensichtlichen Schritten einig sind, die wir sofort gehen müssten, ist es nicht Wert über Vertragsänderungen zu diskutieren.

Der Historiker Adam Tooze sieht keine Chance auf eine EU-Armee, nicht zuletzt deswegen, weil die Polen den Deutschen bei einem solchen Projekt nicht vertrauen würden. Es sei daher realistischer, eine teil-autonome „europäische Säule innerhalb der Nato“ zu schaffen. Sehen Sie das auch so?

Das Problem mit dieser “europäischen Säule innerhalb der Nato“ ist: Einige EU-Mitglieder sind keine Mitglieder der Nato. Für mich steht fest: Wenn Russland oder irgendein anderes Land Finnland oder Schweden angreifen würde, würden wir diese genauso wie Nato-Mitglieder verteidigen. Das gleiche gilt für Irland oder Österreich. Daher muss eine Sicherheitsinfrastruktur in Koordination mit unseren Nato-Bündnispartnern organisiert werden, die aber gleichzeitig auf der EU und ihren Institutionen basiert.

Vorausgesetzt wir bekommen irgendeine Art von europäischer Verteidigungsstruktur: wie soll diese regiert werden? Es dauert bei jeder einzelnen EU-Entscheidung so lange, bis diese einstimmig getroffen wird. Wie kann das bei militärischen Entscheidungen funktionieren, die oftmals innerhalb von Stunden oder Tagen, und nicht erst in einem Monat getroffen werden müssen?

Diese Diskussion brauchen wir. Wollen wir die Entscheidungsgewalt und die Autorität auf die EU-Ebene übertragen? Oder sollten wir stattdessen eine Struktur zu schaffen, die uns erlaubt, in Ad-Hoc-Koalitionen enger zusammenzuarbeiten, auch wenn die Entscheidungen weiterhin auf nationaler Ebene getroffen werden? Wenn die Mitgliedsstaaten sich für Letzteres entscheiden, sollten wir uns nichts vormachen, indem wir Begriffe wie „strategische Autonomie“ nutzen. Bis jetzt habe ich keine klare Definition gehört, was das eigentlich bedeutet oder wie es funktionieren soll. Wir müssen anerkennen, dass die Franzosen in der Vergangenheit als Einzige die Debatte über eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik vorangetrieben haben. Doch viel zu oft haben sie nur schöne Worte und Konzepte vorgestellt, konkrete Schritte dann aber gefährdet – Schritte hin zu dauerhaften EU-Strukturen wie die EU Rapid Deployment Capacity. Sie sollte eine ständige Streitkraft sein, ist jetzt aber doch wieder nur eine Ad-Hoc-Einrichtung. Immerhin sprechen wir jetzt über den Strategischen Kompass. Vielleicht hat der russische Einmarsch in die Ukraine allen klar macht, dass wir uns irgendwann vielleicht als EU selbst verteidigen müssen, und nicht nur die angrenzenden Staaten. Dafür brauchen wir europäische Strukturen statt nationale Ad-hoc-Koalitionen.

Wir haben aktuell ein ambitioniertes EU-finanziertes Forschungsprogramm für die europäische Waffenindustrie, den EU-Verteidigungsfonds und seine Vorgänger. Wir haben festgestellt, dass das meiste Geld an die fünf größten Rüstungsfirmen in Spanien, Frankreich, Deutschland und Italien geht. Entspricht das den angeblichen Zielen der jeweiligen Programme?

Der Sinn dieser Programme ist es, das Geld unter den Mitgliedsstaaten aufzuteilen, und zwar so, dass auch kleinere Firmen davon profitieren. Doch in der Rüstungsbranche haben wenige große Firmen das Sagen. Was den Verteidigungsfonds angeht, so wird dieser erst seit Kurzem genutzt. Wir müssen genau prüfen, ob davon nur Firmen mit großer Lobbymacht profitieren, die das eher intransparente Förderungssystem zu ihrem Vorteil zu nutzen wissen – oder ob der Fonds wirklich für mehr Wettbewerb sorgt. Ich bin da eher pessimistisch: die Waffenlobby, hinter der die größten Firmen stecken, hat viel Einfluss in Brüssel. Wir konnten in der Vergangenheit beobachten, wie sie ganze Absätze der Vorschriften des Verteidigungsfonds diktiert hat. Die, die die Regeln auf diese Weise beeinflusst haben, erhalten jetzt den Großteil der Gelder. Gleichzeitig hat Diversität und Transparenz keine starke Lobby. Das Parlament wird ausgeschlossen, sodass das meiste hinter geschlossenen Türen stattfindet. Wir werden weiterhin Druck im Europäischen Parlament ausüben, doch aktuell tun einige Mitgliedsstaaten und die Rüstungsindustrie alles dafür, ihre Privilegien zu behalten.

Das erste dieser Verteidigungsforschungsprogramme, die EDIDP, wurde speziell dafür geschaffen, kleine und mittlere Unternehmen zu unterstützen. Dennoch gewannen die großen Firmen fast alle Ausschreibungen. Schreit das nicht nach einer parlamentarischen Anfrage?

Ja, absolut. Verantwortungen werden zerstreut, Parlamente und die Öffentlichkeit umgangen, Kontrolle verhindert und jede Menge Geld verdient. Auf diese Weise werden wir die EU-Verteidigungspolitik nicht verbessern, sondern höchstens den Börsenwert großer Rüstungsfirmen. Das gleiche Problem mangelnder parlamentarischer Kontrolle gilt auch für die Europäische Friedensfazilität…

…der gemeinsame Fonds der EU-Mitgliedsstaaten, um Waffenexporte in Krisengebiete zu exportieren…

sogar meine Kollegen im Bundestag sagen mir: „Das ist ein europäisches Programm, du musst dir das angucken!“ Aber wir haben kein Recht auf europäischer Ebene etwas zu prüfen, weil die Friedensfazilität ein zwischenstaatlicher Fonds ist und nicht Teil des EU-Budgets. So verhält es sich mit vielen Instrumenten im Bereich Verteidigung.

Wieso werden all diese kritischen Themen nicht wirklich im Parlament diskutiert und abgestimmt?

Das ist das Problem. Wir, das Europäische Parlament, werden aus solchen Entscheidungen rausgehalten. Es ist offensichtlich: Wenn wir eine EU-Verteidigung wollen, brauchen wir eine europäische Debatte darüber, und der Ort dafür ist das Europäische Parlament. Was den Europäischen Verteidigungsfonds angeht, sehen wir schon jetzt die Konsequenzen der mangelnden Kontrolle: Mitgliedsstaaten lobbyieren intern für ihre begrenzten nationalen Interessen. Was fehlt sind eine übergreifende Strategie im Interesse von ganz Europa und gemeinsame Entscheidungen darüber, welche Ressourcen wir als EU brauchen und wie wir das Geld ausgeben wollen. Stattdessen finden lächerliche Debatten hinter verschlossenen Türen statt, wo zum Beispiel Italien und Spanien für die Finanzierung kleiner Kriegsschiffe im Mittelmeer lobbyieren, während die Franzosen sich für größere im Indo-Pazifik einsetzen und die Polen ganz gegen ein gemeinsam finanziertes Schiffprojekt sind.

Der EU-Vertrag sieht vor, dass Gelder aus dem EU-Budget durch das Parlament kontrolliert werden.

Das ist korrekt. Doch die Rüstungsindustrie hat sehr auf die Parlamentarier eingewirkt, vor allem auf meine konservativen und liberalen Kollegen. Lobbyisten haben davon abgeraten,  neue EU-Fonds wie den Verteidigungsfonds an zu viele Bedingungen zu knüpfen. Das könne dazu führen, dass die Industrie diese Gelder ganz ablehnt. Die Lobby-Kampagne hat funktioniert: Das Parlament hat mit einer knappen Mehrheit von Konservativen und Liberalen (EPP, ECR und Renew) die Kontrollrechte des Parlaments in diesem Bereich abgegeben. Das ist eine Katastrophe! Wenn man als EU-Bürger einen grenzüberschreitenden Schulaustausch mit EU-Geldern organisieren möchte, muss man einen riesigen Haufen Papierkram erledigen, um diese Finanzierung zu bekommen. Jedes Detail wird überprüft. Die Verteidigungsindustrie bekommt hingegen Milliarden von Euro, und wir als Parlamentarier können nichts tun, außer das Budget als Ganzes zu blockieren.

Der Verteidigungsfonds stärkt Forschung und Entwicklung in der EU. Die EU beteiligt sich an einem ganz neuen Politikbereich, der zur Produktion von tödlichen und zerstörerischen Technologien führen kann. Das wirft wichtige ethische und sicherheitspolitische Fragen auf. Dafür brauchen wir ein besonders Maß an parlamentarischer Kontrolle!

Was können Sie also tun, um diesen Bereich wieder unter Kontrolle zu bringen?

Ich kann Fragen stellen, auf Antworten bestehen und mich durchsetzen. Auf diese Weise kann ich den öffentlichen Diskurs über diese Themen voranbringen. Jetzt wo die Mitgliedsstaaten und die Europäische Kommission das Budget des Fonds erhöhen wollen, können wir die Debatte über die Beteiligung des Parlaments wieder neu aufrollen. Denn es werden jetzt neue Rüstungsprojekte ausgewählt, die finanziert werden sollen. Ich hoffe sehr, dass die Bundesregierung sich an ihr Versprechen im Koalitionsvertrag hält und dem Europäischen Parlament das Recht zurückgibt, diese Ausgaben zu überprüfen, und sicherstellt, dass das Parlament sich einbringen kann. Es geht dabei nicht nur ums Prinzip. Ich will, dass wir Europäer bei unserer Verteidigung kooperieren, doch das Geld muss auf die richtige Weise ausgegeben werden. Entscheidungen müssen transparent und demokratisch getroffen werden.