Europäische Staaten planen die Rückkehr zu Fracking

Il controverso sito di fracking dell'azienda Caudrilla nel Lancashire, Inghilterra.
Credit: Cuadrilla
Die umstrittene Fracking-Stelle in Lancashire, Großbritannien

Von ihrem Wohnzimmerfenster aus konnte Susan Holliday zu sehen, wie die britische Frackingindustrie erst aufstieg und dann verschwand. Zumindest fast. Wenige Hundert Meter von ihrem Haus im nordwestenglischen Dorf Little Plumpton ragt die letzte betriebsbereite britisch Fracking-Bohrstelle aus dem Boden.

Als sie Mitte der Nullerjahre nach Lancashire zog, habe sie sich nach Jahrzehnten als Versicherungsmaklerin gefreut auf den Ruhestand und unaufregende Jahre mit ihrem Mann. Doch wenige Jahre später, sah sie wie Arbeiter auf eine Wiese gegenüber ihrem Haus an der Preston New Road einen Bohrturm und eine Gasfackel bauten. Was dann begann, bezeichnet sie heute als Alptraum. „Es begann an einem Augustmorgen“, erinnert sich Holliday heute. „Wir waren in unserer Küche und hörten plötzlich wie in den Schränken die Töpfe und Glässer hin- und herklapperten. Das war ziemlich beängstigend.“



Die Fracking-Bohrungen lösten in den Jahren 2018 und 2019 Hunderte kleinere Erdbeben rund um Hollidays Haus aus. Die Messgeräte des Britischen Geologischen Dienstes zeichneten schließlich ein Beben der Stärke 2,9 auf. Es war so heftig, dass die britische Regierung beschloss, nach mehr als einem Jahrzehnt das Fracking im gesamten Land einzustellen.

Fracking ist eine umstrittene Methode, um Gas zu fördern. Dabei wird mit hohem Druck ein Cocktail aus Wasser und Chemikalien in den Boden gepresst. Dabei entstehen Risse im Stein, aus denen das Gas entweichen soll. Doch das Verfahren kann schwerwiegende Folgen haben für Menschen und die Natur. Unlängst dokumentierte eine Studie, dass Menschen nahe von Fracking-Bohrstellen einem höheren Risiko ausgesetzt sind, an schweren Krankheiten wie etwa Leukämie zu erkranken. Ein Report aus dem Jahr 2019 stellt zudem fest, dass Fracking in Nordamerika in den vergangenen zehn Jahren „zu mehr als der Hälfte aller weltweit gestiegenen Emissionen aus fossilen Brennstoffen beigetragen haben könnte“.

Nach und nach verbannten europäische Staaten Fracking: Frankreich (2011), Bulgarien und Dänemark (2012), Niederlande (2015), Deutschland (2017) sowie Großbritannien im Jahr 2019. Fracking war gescheitert.


Credit: Investigate Europe

Russlands Angriffskrieg eröffnet neue Fracking-Debatte

Vorerst. Denn die Technologie rückt plötzlich wieder in die Debatten um Gasgewinnung angesichts der drohenden Energiekrise im kommenden Winter. Denn im Boden der europäischen Staaten sollen nach Schätzungen etwa 14 Billionen Kubikmeter Schiefergas ruhen, die gefrackt werden könnten. Tausend Kilometer von Susan Hollidays Wohnzimmer entfernt, in Berlin sagte nun der FDP-Vorsitzende Christian Lindner Gas-Vorkommen in Deutschland „müssen erschlossen werden“ auch mittels Frackings, „da, wo es vertretbar ist“. Der energiepolitische Sprecher der FDP, Michael Kruse, frohlockt im Gespräch mit Investigate Europe: „Mit Schiefergasförderung in Deutschland könnten wir unsere Energiesouveränität steigern.“

Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, sind die russischen Gaslieferungen um 75 Prozent zurückgegangen. Stattdessen importieren europäische Staaten nun dreimal so viel Gas aus den USA wie vor Kriegsbeginn, das mitunter aus dem Boden gefrackt wurde. Gas mittels Frackings in Deutschland zu fördern sei 20 Prozent sauberer als es aus den USA zu importieren, argumentiert Kruse. „Wenn wir dieses Erdgas mit möglichst geringen Umwelt- und Klimaauswirkungen in Deutschland fördern können, dann besteht darin sogar eine Chance, die Klimabilanz des verwendeten Erdgases in Deutschland zu verbessern.“

Doch das weist der Energieexperte Werner Zittel zurück, der bereits 2016 ein umfassendes Buch zu Fracking veröffentlicht hat. Würde in Deutschland gefrackt, drohe „die Verwüstung ganzer Landstriche“, schreibt Zittel in einer E-Mail an Investigate Europe vor. Denn, so rechnet er vor, um nur ein Prozent des deutschen Gasbedarf mit Fracking in Deutschland zu decken, müssten jedes Jahr zwischen 180 und 240 neue Bohrungen durchgeführt werden. Mit weniger jährlichen Bohrungen „ginge die Fördermenge sofort zurück“, schreibt Zittel. Im dichtbesiedelten Deutschland sei industrielles Fracking daher „Unsinn“.

Trotz der FDP-Offensive bleibt es unwahrscheinlich, dass hierzulande Energiekonzerne bald Fracking-Bohrtürme hochziehen werden. „Eine Aufhebung des Fracking-Verbotes kommt nicht in Betracht“, sagt die energiepolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Nina Scheer im Gespräch mit Investigate Europe. Klimaschutz und der Aufbau neuer Technologien „verlangen Investitionen in den Ausbau Erneuerbarer Energien zu konzentrieren“. Ähnlich kritisch äußern sich die Grünen. Das im vergangenen Jahr verabschiedete Klimaschutzgesetzt sieht vor, dass Deutschland bis 2045 klimaneutral werden muss. „Investitionen in neue Fracking-Bohrungen, die Investoren dann viele Jahre lang nutzen wollen, erschweren das Erreichen dieser Ziele“, sagt die stellvertretende Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Ingrid Nestle. 

Credit: Investigate Europe

Um die Chancen und Gefahren der Fracking-Technologie einschätzen zu können, setzte die Bundesregierung eine Expertenkommission ein. Deren Leiterin, die Potsdamer Geophysikerin Charlotte Krawczyk, sagt im Gespräch mit Investigate Europe: „Fracking kann keine kurzfristige Lösung für die Energiekrise sein.“ Bevor Deutschland mit dem Fracking beginnen könne, würde es drei Jahre dauern. „Wir müssten die Wassergesetze ändern, den Unternehmen die Möglichkeit geben, Konzessionen zu beantragen sowie alle öffentlichen und nichtstaatlichen Stellen einbeziehen.“ Da Deutschland dichter besiedelt ist als die USA, gebe es weniger Gebiete in denen Bohrungen durchgeführt werden könnten, sagt Krawczyk. Auch müsste genau überwacht werden, ob Fracking Wasser verschmutze oder das stark klimawirksame Methan austrete.

Doch ungeachtet dessen streben mehrere europäische Staaten eine Aufhebung ihrer FrackingVerbote an. In Großbritannien kündigte Premierministerin Liz Truss drei Tage nach ihrer Amtseinführung, an, das Fracking-Verbot aufzuheben. Dadurch könne „schon in sechs Monaten Gas gefördert werden“, sagte Truss. Damit widersprach sie der Einschätzung ihres Vorgängers Boris Johnson, dass ein solcher Schritt die Energiekrise nicht lösen würde.

Dabei zeigt ein Zwischenfall in Großbritannien, wie gefährlich Fracking auch für das Erreichen der Klimaziele sein kann. Unweit von Susan Hollidays Haus in der Preston New Road ließen Ingenieure im Januar 2019 unbedacht 4,2 Tonnen Methan in die Atmosphäre. Sie hatten es versäumt, die Gasfackel zu entzünden. Binnen kurzer Zeit entwich Methan, dass den Emissionen von 142 Transatlantikflügen entsprach.

Das dokumentierte ein Forscherteam der Universität Manchester um den Physikerprofessor Grant Allen. Im Gespräch mit Investigate Europe sagt Allen: „Fracking wäre nicht mit unseren Netto-Null-Zielen vereinbar, und wir sollten erneuerbare Energien anstreben, anstatt eine neue Industrie für fossile Brennstoffe zu ermöglichen.“ Die Verwendung von Schiefergas als sogenannte Brückentechnologie würde die Dekarbonisierung nur Verhindern.

Unterdessen beginnen die britischen Behörden eine mögliche Fracking-Renaissance vorzubereiten. Eigentlich hätte das Bohrloch vor Susan Hollidays Haus in diesem Sommer verschlossen werden müssen, da es jahrelang nicht genutzt wurde. Doch nun warfen örtliche Behörden ihre Pläne um. Der frühere Betreiber der Bohrlöcher, Cuadrilla Resources, müsse zudem keine neue Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich ist, wenn der Betrieb wieder aufgenommen wird.

Der Geschäftsführer des Förderkonzerns Cuadrilla, Francis Eagan, frohlockt in einem Statement, das er Investigate Europe schickte: „Es gibt Billionen Kubikmeter Schiefergas unter unseren Füßen, hier in Großbritannien, die nur darauf warten, angezapft und von britischen Haushalten genutzt zu werden. Wenn wir die Erlaubnis bekämen, es zu fördern, könnten wir sicherstellen, dass Großbritannien für Jahrzehnte Energiesicherheit hat.“

Um Anwohner wie Holliday für seine Pläne zu gewinnen, bietet Eagan den Gemeinde nahe der Bohrlöcher an, ihnen Dividenden zu zahlen in Höhe von 285 Millionen Pfund (335 Millionen Euro). „Das ist reine Bestechung“, sagt Holliday. „Gesundheit und Seelenfrieden kann man nicht kaufen.“ Sie wolle sich weiterhin gegen das Unternehmen stellen.

Auch die britische Aktivisten Claire Stephenson will gegen Cuadrilla kämpfen. „Es ist schwer, positiv zu bleiben. Ich finde es widerlich, dass die Leute die Ukraine-Krise als Sprungbrett benutzt haben, um Fracking wieder auf die Tagesordnung zu setzen“, sagt Stephenson. Die zahlreichen Versuche von Cuadrilla, an der Preston New Road Fracking zu betreiben, seien allesamt gescheitert. „Sie haben Geld in ein dreckiges Loch gesteckt und nicht einmal genug Gas gefördert, um einen Grill anzuzünden, geschweige denn eine Gemeinde mit Strom zu versorgen.“

Ungarn ist bereit zum Fracking

Während in Deutschland und Großbritannien noch über den Einsatz der Fracking-Technologie gestritten wird, hat die ungarische Regierung weitgehend unbeachtet eigene Förderpläne verabschiedet. Im Sommer präsentierte Premier Viktor Orbán ein Paket, um in seinem Land mehr Gas zu produzieren und die „durch die fehlgeleiteten Sanktionen Brüssels verursachte Energiekrise zu mildern“.

Teil des Pakets ist eine Frackingstrategie mit der schon bald in der östlichen Region Békés Gas aus dem Gestein gesprengt und gefördert werden soll. Das Projekt bekam unmittelbar den Status einer „Investition mit hoher Priorität“. Im Schnellverfahren soll es genehmigt werden, damit, so die Hoffnung der Orbán-Regierung, bereits ab Januar 2023 Gas gefrackt werden könne.

Mitarbeit: Attila Kálmán.