O’Reilly fordert vom Rat Einhaltung der Rechtsprechung in Sachen Transparenz

Ombudsman Emily O'Reilly (right)

Emily O’Reilly, die EU-Bürgerbeauftragte, wirft dem Rat der EU vor, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu missachten, weil das Gesetzgebungsorgan der EU-Mitgliedstaaten gegenüber Journalisten den Zugang zu Informationen über die Positionen der nationalen Regierungen während der Verhandlungen über anstehende Gesetzentwürfe verweigert. Dieses Verhalten sei als „Verwaltungsmissstand“ (maladministration) zu werten, stellte die Bürgerbeauftragte fest.  

Das ergab eine Untersuchung, die O’Reilly aufgrund einer Beschwerde des Journalistenteams Investigate Europe (IE) angestrengt hat. 

IE hatte beim Sekretariat des Rates im März 2021 alle Dokumente aus den Verhandlungen der Mitgliedsstaaten über den Gesetzentwurf zum Digital Markets Act angefordert und dabei ausdrücklich auch nach den sogenannten „working documents“ gefragt, in denen Forderungen und Kommentare der nationalen Regierungen genannt werden. In ihrer Antwort listeten die Beamten der Ratsverwaltung zwar 26 entsprechende Dokumente auf. Aber sie verweigerten den Zugang, weil dies nach „Ansicht der der Mitgliedsstaaten  zum jetzigen Zeitpunkt den laufenden Verhandlungen abträglich wäre.“ 

Diese Behauptung ließ IE nicht gelten. Es gehöre „zu den grundlegenden Aufgaben von Journalisten in einer demokratischen Gesellschaft, über laufende Gesetzgebungsverfahren zu berichten und den Bürgern die Argumente der verschiedenen Gesetzgebungsakteure zu präsentieren“, schrieb IE und legte formalen Widerspruch ein. Diese Aufgabe sei jedoch „nicht zu erfüllen, wenn wir keinen Zugang zu den entsprechenden Informationen über den Prozess und die jeweiligen Dokumente haben“.  Natürlich könne die Berichterstattung über die Position einzelner Regierung zu Reaktionen führen und so den Verhandlungsprozess beeinflussen. „Aber die Einflussnahme der Bürger auf die Gesetzgebung ist das Wesen der Demokratie“, erklärte IE.

Doch die meisten verantwortlichen Diplomaten wollen sich aus Prinzip nicht in Karten gucken lassen, wenn sie als Gesetzgeber arbeiten. Nach monatelangen Verzögerungen verweigerte das Ratssekretariat deshalb erneut Zugang zu allen Dokumenten, aus denen die Positionen einzelner Regierungen hervorgehen. 

Diese Praxis ist allerdings seit langem umstritten, und der Europäischen Gerichtshof hat bereits mehrfach Klagen auf Aufhebung der Geheimhaltung stattgegeben. Um diese dennoch zu rechtfertigen, führten die Ratsbeamten dieses Mal an, die Information über die Positionen der Regierungen „könnte zu einer noch nie dagewesenen Lobbyarbeit seitens der systemischen Plattformunternehmen führen“ –  gerade so, als ob dies nicht ohnehin ständig geschehen würde.  

Um über die Verhandlungen zum Digital Markets Act berichten zu können, arbeiteten die Reporter von IE daraufhin mit Informanten aus verschiedenen Ländern, die bereit waren, die benötigten Dokumente zur Verfügung zu stellen. So konnten sie aufdecken, dass die Regierungen aus Luxemburg und Irland sich die Lobbypositionen der Plattformkonzerne zu eigen machten – ein Umstand, den die Bürger nach dem Willen der Diplomatengesetzgeber wohl nicht erfahren sollten. Genau in diesen Ländern unterhalten Amazon wie Facebook und Google ihre Europazentralen.

Parallel dazu legte IE auch Beschwerde bei der Bürgerbeauftragten ein. Im Laufe ihrer folgenden Untersuchung nahm O’Reilly Einsicht in die gesperrten Unterlagen und stellte feste, dass es sich „eindeutig um legislative Dokumente handelt, für die höchste Transparenzstandards gelten müssen.“ Entsprechend „der gefestigten Rechtsprechung“ in mehreren Fälle rechtfertige „der vorläufige Charakter der Beratungen in den Arbeitsgruppen des Rates über einen Vorschlag der Kommission“ keinesfalls die vom Rat reklamierte Ausnahme von diesem Gebot. Vielmehr sei ein Gesetzesvorschlag „seinem Wesen nach dazu bestimmt, diskutiert und erörtert zu werden, und die öffentliche Meinung ist durchaus in der Lage zu verstehen, dass der Verfasser eines Vorschlags dessen Inhalt später ändern kann“, zitiert O’Reilly ein einschlägiges Urteil des EuGH in ihrem jetzt veröffentlichten Bericht

Darum sei „die Weigerung des Rates, der Öffentlichkeit vollen Zugang zu den Stellungnahmen der Mitgliedstaaten zum Entwurf des Gesetzes über digitale Märkte zu gewähren, ein Verwaltungsmissstand“ und „empfiehlt, dass der Rat die angeforderten Dokumente vollständig offenlegt“, erklärte sie und forderte den Rat auf, bis zum 30 Mai eine „detaillierte Stellungnahme“ vorzulegen.

In Teilen ist der Rat diesem Beschluss bereits nachgekommen. Ende November 2021, vier Wochen nachdem die nationalen Beamten ihre Version des Gesetzes beschlossen hatten,  übersandten Beamten schließlich die angeforderten Dokumente, wohl wissend, dass dies für die Berichterstattung viel zu spät war. 

Nur das Dokument mit der Nummer 9039/21 war nicht dabei, wurde IE aber freundlicherweise aus anderer Quelle zur Verfügung gestellt. Darin erklären die  Regierungen von Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Niederlande und Schweden gemeinsam, dass sie den Antrag von IE auf Akteneinsicht unterstützen und der von den übrigen EU-Regierung geforderten Ablehnung ausdrücklich „nicht zustimmen“.

Das wird der Debatte über das Ende der Geheimhaltung im Rat neue Nahrung geben. Sogar die deutsche Regierung fordert neuerdings, die Arbeit des Rates „muss transparenter werden“.