Der Krieg erzwingt Europas politische Integration

Der Krieg gegen die Ukraine ist verbrecherisch, und sein Urheber, der Potentat im Moskauer Kreml, ist ein gewissenloser Egomane. Aber Wladimir Putin, so will es die bittere Dialektik der militärischen Gewalt, ist jetzt auch der Mann, der die Völker Europas binnen weniger Tage enger zusammengeführt hat, als es deren Regierungen aus eigener Kraft je vermocht haben. 

Davon zeugen nicht nur die blau-gelben Fahnenmeere der vielen Millionen Demonstranten auf den Straßen der europäischen Städte. Das demonstrieren auch ihre Regierungen. Gleich ob es um Sanktionen geht, die auch der eigenen Wirtschaft schaden, oder um Hilfe für die Geflüchteten oder um Waffenlieferungen für die verzweifelt kämpfende ukrainische Armee: Plötzlich entscheiden die Regierenden der EU effizient und effektiv, gerade so, als ob es das sonst so mühsame und oft nutzlose Ringen um vermeintlich nationale Interessen zwischen den 27 EU-Staaten nie gegeben hätte. Selbst der ewige Quertreiber Viktor Orban aus Ungarn fügt sich dem Druck der Lage. 

So geht die Tragik des Krieges einher mit einer grandiosen Chance. Weil der Beistand aus den USA schon nach der nächsten Wahl mit dem Sieg der Trump-Partei und ihren Putin-Fans enden könnte, erscheint nun zwingend, was bisher allenfalls ein langfristiges Projekt war: Die Wirtschaftsmacht EU muss sich notgedrungen auch militärisch emanzipieren. Die Verteidigungsunion, der alte und bisher chancenlose Traum der Gründer der Europäischen Gemeinschaft, gerät mit einem Mal in greifbare Nähe. Allerdings wird das nur gelingen, wenn Europas Regierungen ihre bisherige nationale Borniertheit aufgeben und eine grundlegende Reform der EU-Verfassung angehen.

Wie dringend das ist, demonstriert schon die von Kanzler Scholz angekündigte Hochrüstung der Bundeswehr. Ein ohnehin wirtschaftlich übermächtiges Deutschland, das auch noch militärische Überlegenheit erwirbt, weckt böse Erinnerungen. Das können und werden die übrigen EU-Länder niemals akzeptieren. Würden die deutschen Rüstungsmilliarden dagegen für ein europäisch integriertes Militär fließen, wären sie auch bei den EU-Partnern hoch willkommen. Eine gemeinsame EU-Armee aber  bedarf zwingend einer entscheidungsfähigen zentralen Instanz. Wenn es gilt, den Generälen Befehle zu geben, darf das nicht am Veto einzelner Regierungen scheitern. Um eine glaubwürdige Sicherheits- und Außenpolitik zu betreiben, müssten die EU-Staaten also mindestens das Prinzip der Einstimmigkeit aufgeben. Noch besser wäre, sie würden sich eine Art Kernregierung geben. 

Die so getroffenen Entscheidungen über Bewaffnung und Grenzschutz, über Krieg und Frieden, bedürfen aber der Kontrolle durch ein gewähltes Parlament. Macht ohne Kontrolle führt zu Machtmissbrauch. Checks and balances sind unverzichtbar. Andernfalls verkommen die so oft beschworenen europäischen Werte zum bloßen Geschwätz. Das Risiko für die  Demokratie offenbaren schon die jetzt freigegeben 450 Millionen Euro zur Bezahlung des Waffennachschubs für die Ukraine. Die im Orwell-Sprech sogenannte „Friedensfazilität“ für diesen Zweck haben sich die EU-Regierungen mal eben selbst genehmigt. Eine parlamentarische Kontrolle findet nicht statt. 

Käme es also zur Verteidigungsunion, dann müsste auch das EU-Parlament eine tatsächlich europäische Volksvertretung mit allen Rechten werden. Das aber ginge nur, wenn seine Mitglieder über transnationale Listen EU-weit gewählt werden. Bisher sind sie lediglich eine Versammlung nationaler Parteidelegationen, die nur den heimischen Wahlkreisen und ihren Parteichefs verpflichtet sind anstatt dem europäischen Gemeinwohl. 

Gewiss, all das klingt zunächst utopisch. Aber die Chancen dafür waren noch nie größer als jetzt. Ohne solche Reformen wird Europa abhängig und erpressbar bleiben.

Dieser Artikel erschien zuerst bei unserem Medienpartner Tagesspiegel