Beißhemmung gegen die Autokraten in Ungarn und Polen

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Kommissionschefin von der Leyen scheut den Kampf für den Rechtsstaat. Ist ihr die Karriere wichtiger als  die der Einsatz für die Unabhängigkeit der Justiz und den Schutz des EU-Haushalts vor Korruption?

Fern der Heimat, bei einem Vortrag in der amerikanischen Universität Princeton, musste sich Ursula von der Leyen kürzlich einer unbequemen Situation stellen. In Italien drohe eine Regierung von „Leuten, die Putin nahe stehen“, mahnte einer ihrer Zuhörer, und die Präsidentin der EU-Kommission sah sich genötigt zu antworten. „Wir werden sehen. Wenn die die Dinge in die falsche Richtung laufen, habe wir die nötigen Instrumente“, erklärte sie und verwies ausdrücklich auf „Ungarn und Polen“. Wer sich nicht an die gemeinsamen Beschlüsse hält, dem drehen wir den Geldhahn zu, war die Botschaft, die wohl die Stärke der EU bei der Verteidigung des Rechtsstaats zeigen sollte.

Doch das war bestenfalls Angeberei. In Wahrheit demonstriert von der Leyen seit Jahren, dass sie gar nicht gewillt ist, konsequent gegen den Bruch rechtsstaatlicher Prinzipien vorzugehen, mit denen die Autokraten Victor Orban und Mateusz Morawiecki ihre Macht zementieren.

Dabei verfügt die Kommission tatsächlich über ein starke gesetzliche Handhabe: Mit dem sogenannte Rechtsstaatsmechanismus können die Kommissare bei Verstößen die Sperrung der Zahlungen aus dem EU-Haushalt an die schuldigen Regierungen fordern, die der Rat der EU-Regierungen dann mit qualifizierter Mehrheit bestätigen kann. Das entsprechende Gesetz ist bereits seit Januar 2021 in Kraft. Aber davon machten von der Leyen und ihre Kommissare anderthalb Jahre lang keinen Gebrauch. Lieber warteten sie ab, ob der Europäische Gerichtshof  einer Klage der Machthaber in Budapest und Warschau gegen das Gesetz nachgeben würde, obwohl diese von vorneherein aussichtslos war. Schließlich hatten die Richter die polnischen Justizreformen und die Disziplinierung politisch unliebsamer Richter bereits mehrfach für rechtswidrig erklärt.

Auch nachdem das im vergangenen Februar entschieden war, mochte von der Leyen ihr in Princeton gepriesenes „Instrument“ nicht nutzen. Stattdessen genehmigte sie den polnischen Plan zur Auszahlung von gut 35 Milliarden Euro aus dem Corona-Hilfsfonds und machte dafür lediglich einige als „Meilensteine“ deklarierte Reformen zur Bedingung. Die von den EU-Richtern ausdrücklich verfügte Wiedereinsetzung der aus politischen Gründen suspendierten polnischen Richter war jedoch nicht dabei, die Betroffenen sollen nur angehört werden. Dagegen erhoben nun gleich vier europäische Richterverbände ihrerseits Klage vor dem EU-Gericht, weil die Entscheidung „der europäischen Justiz insgesamt und der Position jedes einzelnen europäischen Richters schadet“– für die Kommission eine Peinlichkeit ohnegleichen.


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Richter und Anwälte aus ganz Europa protestieren in Warschau mit dem Marsch der 1000 Roben gegen die Knebelung der polnischen Justiz, Januar 2020.

Bewusst schwach geht von der Leyen auch gegen das Putin-freundliche Regime von Viktor Orban vor, der erwiesenermaßen seinen Gefolgsleuten im großen Stil Gelder aus den EU-Fonds zuschanzt. Zwar beschloss die Kommission nun dem Rat vorzuschlagen, der Orban-Regierung die Zahlung von 7,5 Milliarden Euro zu sperren. Aber das entspricht weniger als einem Fünftel der für Ungarn vorgesehenen Fördergelder. Zudem öffneten von der Leyen und ihr Haushaltskommissar Johannes Hahn  dem Regime eine Hintertür. Mit einer neuen Anti-Korruptionsbehörde und besseren Ausschreibungen sollen sie die Sperrung noch abwenden können. Am Kernproblem, der chronischen Untätigkeit der ungarischen Justiz gegen die Korruption, würde das aber nichts ändern. Nötig wäre eine Ermittlungsbefugnis für die Europäische Staatsanwaltschaft, wie sie die meisten anderen EU-Staaten erteilt haben. Das aber fordert die Kommission gar nicht erst.

Diese Beißhemmung gegen die Autokraten ist aber nicht einfach ein private Verfehlung von Frau von der Leyen. Vielmehr „mag es durchaus ihr Kalkül sein, mit Blick auf die nächste Europawahl 2024 beim Rechtsstaat sehr zurückhaltend zu agieren“, vermutet der grüne EU-Abgeordnete Daniel Freund. Das spielt an auf die strukturelle Schwäche der Chefin der EU-Exekutive: Frau von der Leyen ist nicht gewählt, sondern nur von den Regierungen ernannt. Für die erneute Ernennung und für deren Bestätigung im EU-Parlament war und ist sie aber angewiesen auf die Stimmen der ungarischen und polnischen Rechtspopulisten – eine für die EU brandgefährliche Konstellation.

Der Kampf gegen die Saboteure des Rechtsstaats sollte nicht von den Karriereplänen der Kommissionspräsidentin abhängen.