Steuertransparenz für Konzerne: Sieg und Niederlage zugleich

Am späten Dienstagabend einigten sich die Unterhändler der beiden EU-Gesetzgeber, der EU-Regierungen und des Europäischen Parlaments, schließlich auf eine Formulierung des Gesetzes, das multinationale Unternehmen dazu verpflichten soll, offenzulegen, wo – oder ob – sie Unternehmenssteuern zahlen, das sogenannte public Country-by-Country Reporting (pCBCR). 

Demnach müssen in der EU tätige Unternehmen mit einem Jahresumsatz von mehr als 750 Millionen Euro ab dem 2024 jährlich offenlegen, in welchem Land sie mit wie viel Mitarbeitern  welche Nettoumsätze und Gewinne erzielen, und wie viel Steuern sie darauf zahlen. Diese Finanzberichterstattung wird einem von der EU vorgelegten Schema folgen und in einem maschinenlesbaren elektronischen Format erfolgen – ein Datenschatz für zukünftige Wirtschaftsforscher, Aktivisten und Journalisten.

„Von nun an ist der Scheinwerfer hell und deutlich auf jene Unternehmen gerichtet, die systematisch Steuern vermeiden”, sagte Sirpa Pietikäinen, konservative finnische Europaabgeordnete, die das Abkommen für die Mitte-Rechts-Parteigruppe EVP ausgehandelt hatte. 

Die Gewinnverschiebung multinationaler Unternehmen von Hoch- in Niedrigsteuerländer kostet die EU-Staaten nach Schätzungen der EU-Kommission jährlich bis zu 70 Milliarden Euro. Die öffentliche länderspezifischen Berichterstattung soll das sichtbar machen und so den öffentlichen Druck auf die Unternehmen erhöhen, ihre Steuern dort zu zahlen, wo sie die Gewinne tatsächlich erzielen.

„Diese Einigung ist ein entscheidender Moment für die Steuergerechtigkeit in Europa“, meint auch der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold, der sich seit vielen Jahren für die Steuertransparenz bei Konzernen einsetzt. 

Doch die Fachleute aus der Zivilgesellschaft teilen diese Zuversicht nicht. Die Streiter für saubere Regierungsführung im EU-Büro von Transparency International fordern die Europaabgeordneten sogar auf, den Kompromiss abzulehnen, weil ihre Verhandler dem Rat der Regierungen im zentralen Streitpunkt nachgegeben haben: dem geografischen Geltungsbereich des EU-Gesetzes.

Das EU-Parlament hatte von Anfang an gefordert, dass alle Staaten von der öffentlichen Steuerberichterstattung erfasst werden, auch solche außerhalb der EU. Grundsätzlich sollte es  etwa für IKEA oder Amazon verpflichtend sein, über ihre Umsatz- und Unternehmenssteuern auch in Großbritannien und den USA sowie allen potenziellen Steuerfluchtstaaten zu berichten. 

Die EU-Regierungen, die erst im Februar dieses Jahres erstmals dem Gesetz zumindest im Prinzip mehrheitlich zugestimmt hatten, forderten dagegen einen viel engeren Geltungsbereich. Im Vorfeld der letzten Verhandlungsrunde hatte sich die französische Regierung dafür eingesetzt, dass die Unternehmen für fast alle Länder außerhalb der EU nur verpflichtet werden sollten, aggregierte Daten vorzulegen. Später stellte sich heraus, dass Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire das entsprechende Positionspapier gleich vom französischen Arbeitgeberverband Medef übernommen hatte.

Jetzt haben die Delegierten des Parlaments in den Verhandlungen diese Forderung des Rates fast vollständig akzeptiert. Der Kompromiss bedeutet, dass eine Meldepflicht nur für die Umsätze und Gewinne in den EU-Staaten gilt sowie für jene Länder, die auf den Listen der EU-Kommission für so genannte „nicht-kooperativen Steuergebiete“ stehen. Die offizielle „schwarze Liste“ umfasst lediglich unbedeutende Länder: Amerikanisch-Samoa, Anguilla, Dominica, Fidschi, Guam, Palau, Panama, Samoa, Trinidad und Tobago, US Virgin Islands, Vanuatu und Seychellen. Die außerdem im Gesetz genannte „graue Liste“ nennt außerdem Australien, Barbados, Botswana, Jamaika, Jordanien, Malediven, Thailand und die Türkei. Viele wichtige Steuerfluchtzentren wie Bermuda, oder Singapur soll das Gesetz dagegen nicht erfassen. 

Perverser Anreiz“

In der Folge gilt die Pflicht zur Veröffentlichung der Steuerdaten nur für die 27 EU-Länder, die 12 auf der schwarzen Liste und 7 Länder, die seit zwei Jahren auf der grauen Liste stehen. 

„Dieses Abkommen ermöglicht es, dass die Unternehmen für mehr als 80 Prozent aller Staaten, darunter wichtige Steueroasen wie die Bahamas, die Schweiz oder die Kaimaninseln, keine Informationen veröffentlichen müssen“, sagt Manon Aubry, französische Europaabgeordnete und Unterhändlerin der Linksfraktion. 

Gleichwohl werde das Gesetz wirken, so argumentiert der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold, weil die meisten europäischen Steuerverluste tatsächlich durch die Gewinnverschiebung in Steueroasen innerhalb der EU entstehen. 

Forscher der Universität Berkeley und der Universität Kopenhagen haben geschätzt, dass etwa 80 Prozent der Gewinne, die aus den EU-Ländern verschoben werden, in EU-Steueroasen wie Irland, Luxemburg und die Niederlande verbucht sind. 

Transparency International befürchtet stattdessen, dass infolge der vielen Ausnahmen viele Unternehmen ihre Steuervermeidung jetzt über Länder außerhalb der EU organisieren. Der „begrenzte Ansatz bietet einen perversen Anreiz für große multinationale Unternehmen, Aktivitäten außerhalb der EU umzustrukturieren, um Berichtspflichten zu vermeiden“, warnten zahlreiche NGOs von Oxfam bis zum Europäischen Gewerkschaftsbund in einem offenen Brief an die Gesetzgeber. 

„In Europa ist es klüger, mit einem guten Kompromiss den Anfang zu machen, als ewig auf eine vermeintlich ideale Lösung zu warten“

Sven Giegold

Ein weiterer Streitpunkt war die „Schutzklausel“, die es Unternehmen erlaubt, Informationen, die als „wirtschaftlich sensibel“ eingestuft werden, auf Jahre geheim zu halten, ohne das die Begründung überprüfbar ist. In der endgültigen Einigung wurde diese Erlaubnis jetzt nur auf fünf Jahre begrenzt, während der Rat sechs Jahre gefordert hatte. Das Schlupfloch selbst soll aber bestehen bleiben. 

Der Kompromiss muss von beiden Gesetzgebern noch formell angenommen werden, aber das gilt als sehr wahrscheinlich. Trotz der harten Kritik der Aktivisten genießt der Deal breite Unterstützung im Parlament. 

Nach der Verabschiedung haben die EU-Länder 18 Monate Zeit, das EU-Rahmengesetz in nationales Recht umzusetzen. Nach weiteren vier Jahren soll die Europäische Kommission dann die tatsächliche Wirkung des EU-Gesetzes auswerten und, falls nötig, eine Weiterentwicklung vorschlagen. Für die Abgeordneten, die sich jetzt lieber mit dem schwachen Gesetz zufrieden gaben, als dessen endgültiges Scheitern zu riskieren, birgt diese Revisionsklausel die Hoffnung, die Steuertransparenz zu einem späteren Zeitpunkt doch noch umfassend durchzusetzen. 

„In Europa ist es klüger, mit einem guten Kompromiss den Anfang zu machen, als ewig auf eine vermeintlich ideale Lösung zu warten“, erklärte der erfahrene Politikstratege Giegold.

Da wirkte es fast wie ein nachträglicher Glücksfall, dass am Dienstag, nur wenige Stunden vor der Einigung über die öffentliche länderspezifische Berichterstattung, auch die Europäische Steuerbeobachtungsstelle offiziell die Arbeit aufnahm. 

Das brandneue, von der EU finanzierte Forschungszentrum wird die Kommission und die anderen EU-Institutionen in ihrem Kampf gegen Steuerhinterziehung unterstützen. Die Leitung übernimmt Gabriel Zucman, der französische Ökonom, der mit seiner Forschung zur Steuervermeidung der Konzerne Weltruhm erlangte.