So viel Europa hat noch keine Regierung gewagt

Chancellor Olaf Scholz being sworn in by President of the Bundestag, Bärbel Bas.
Chancellor Olaf Scholz being sworn in by President of the Bundestag, Bärbel Bas.

Aufbruch, Wende, Transformation – dem Programm der neuen Bundesregierung fehlt es nicht an großen Worten. Das Pathos ist zwar an wichtigen Punkten nicht durch konkrete Vorhaben gedeckt. Gegen die Ungleichverteilung der Vermögen etwa oder die Blechlawine auf den Straßen bietet die Ampel wenig bis gar nichts. Aber beim vielleicht wichtigsten Politikfeld bahnt sich tatsächlich eine fast schon revolutionäre Veränderung an: DerUmgang mit den Partnern und Institutionen in der EU soll sich gründlich ändern. Mangels Einigung zwischen Union und SPD hatte die GroKo da nur eine Leerstelle und verursachte jahrelang Stillstand. Viele Gesetzesvorschläge von der Frauenquote in Aufsichtsräten bis zum Ausbau des transeuropäischen Bahnverkehrs scheiterten am Merkel-Phlegma. 

Jetzt dagegen benennt der Koalitionsvertrag quer durch alle Kapitel von der militärischen Sicherheit bis zur Finanzpolitik gleich auch die Positionen zu jeweils anstehenden europäischen Gesetzesvorhaben. Zudem wollen Kanzler Scholz und seine Minister die lange schon überfällige Demokratisierung der EU vorantreiben. Demnach soll die von Merkels Truppe demonstrativ ignorierte„Konferenz zur Zukunft Europas“ in einen „verfassungsgebenden Konvent münden“, um dann dem EU-Parlament endlich das Recht zu verschaffen, selbst Gesetze vorzuschlagen. Zugleich will die neue deutsche Regierung die Führung der EU-Kommission nicht mehr den Machtspielen der Regierungschefs überlassen, sondern diese künftig von Parlamentariern wählen lassen, die sich ihrerseits auf transnationalen Listen in der ganzen EU zu Wahl stellen anstatt nur in ihren heimatlichenWahlkreisen.

Vor allem aber bekennt sich die Scholz-Regierung erstmals zur Reform des faulen Kerns der EU-Verfassung: Der Rat der EU, also die Vertreter der 27 nationalen Regierungen, die parallel zum Parlament Europas Gesetze verhandeln, „muss transparenter werden“, heißt es dazu im Koalitionsvertrag. Das klingt harmlos aber hat Sprengkraft. Denn eben diesen zentralen Gesetzgebungsprozess in den mit nationalen Beamten besetzten 150 Ausschüssen des Rates halten die EU-Regierungen bislang systematisch geheim. Weder Journalisten noch Parlamentarier haben ein Recht zu erfahren, welche Regierung dort welche Position vertritt. Darum sei es „für die Bürger praktisch unmöglich, nachzuvollziehen, wie ein europäisches Gesetz zustande gekommen ist“, kritisiert Emily O’Reilly, die EU-Bürgerbeauftragte. Das aber „untergräbt ihr Recht, ihre gewählten Vertreter zur Rechenschaft zu ziehen“. 

Das nutzt vor allem gut organisierten Lobbyisten. Um unliebsame Gesetze zu verhindern, reicht es, wenn sie mit Hilfe der jeweiligen Minister eines der großen Staaten eine Sperrminorität organisieren. Dafür reicht schon, wenn die Neinsager 36 Prozent der Bevölkerung vertreten. In der Folge „werden immer wieder wichtige Gesetzesvorschläge im Rat einfach still beerdigt“, ohne dass die Bürger auch nur davon erfahren und die Verantwortlichen sich öffentlich rechtfertigen müssen, kritisierte Franziska Brantner, die europapolitische Sprecherin und künftige Staatssekretärin der Grünen schon seit Jahren. Künftig wollen sie und ihre Kollegen nun dafür streiten, den Rat im Rahmen fester Fristen zur öffentlichen Debatte aller Gesetzesvorschläge zu verpflichten.

So viel Europa hat bisher noch keine Bundesregierung gewagt. Das ist das Experiment der drei ungleichen Partner allemal wert.