Wie EU-Staaten die weltweite Impfstoffproduktion verhindern

Credit: Alexia Barakou

„Wenn nicht jetzt, wann dann?“, fragte Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Er meinte damit den Vorschlag, während der Pandemie auf geistige Eigentumsrechte für Covid-19-Produkte zu verzichten. Den hatte der sogenannte TRIPS-Rat der Welthandelsorganisation (WTO) bereits im Oktober diskutiert.

Die Initiative Südafrikas und Indiens war von der EU, den USA, der Schweiz und Japan heftig bekämpft worden. Alles Länder mit einer starken Pharmaindustrie.

Diese Woche, am 10. März, soll der TRIPS-Rat erneut tagen. Der Vorschlag für eine Ausnahmeregelung wird nach Angaben der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen inzwischen von rund 100 Regierungen der 164 WTO-Mitgliedsstaaten unterstützt. Die Liste der Unterstützer reicht von Südafrika und Indien bis Afghanistan und Mali. Andere Quellen berichten von weitaus höheren Zahlen. Zu den Unterstützern gehören auch der Heilige Stuhl und The People’s Vaccine, ein Bündnis von Hilfsgruppen und Menschenrechtsorganisationen.


Credit: WTO
Südafrika und Indien haben in der WTO gefordert, dass Schutzrechte für Covid-19-Produkte vorübergehend ausgesetzt werden sollen

Seit dem Vorschlag im Oktober ist viel passiert. Damals gab es noch keinen Impfstoff. Jetzt gibt es mehrere, die mit hohen öffentlichen Zuschüssen entwickelt wurden. Aber sie gehören einer Handvoll Firmen, die sie patentiert haben. 60 Prozent der erwarteten Impfstoffmenge wurde von Ländern vorbestellt, die nur 16 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Kanada hat genug bestellt, um die Kanadier fünfmal zu impfen, wenn alle Kandidaten erfolgreich sind; Norwegen genug, um es dreimal zu tun. Zwei Monate nach Beginn der Impfungen sind weltweit 108 Millionen Dosen Impfstoff verteilt worden. Aber 75 Prozent davon gingen laut WHO an nur zehn Länder.

Ein aktueller Bericht der Internationalen Handelskammer behauptet, dass die Weltwirtschaft bis zu 9,2 Billionen US-Dollar verlieren könnte, wenn die Regierungen den Zugang zu Covid-19-Impfstoffen nicht für alle sicherstellen. Die Hälfte dieses Verlustes würde auf die reichen Länder entfallen.

Auch die Reichen sind verwundbar

Europa ist weltweit führend in der Impfstoffproduktion; mehr als 75 Prozent aller Impfstoffe werden auf dem Kontinent hergestellt. Doch selbst die EU-Kommission – die mit sechs Impfstoffherstellern Verträge über insgesamt 2,6 Milliarden Impfdosen für über 450 Millionen Europäer abgeschlossen hat – stand bei einem der Produzenten ratlos da, AstraZeneca.

Überall auf dem Kontinent sind die Menschen erschöpft durch die Corona-Maßnahmen. Die Regierungen stehen unter immensem Druck, die Impfstofflieferungen zu beschleunigen, damit die Menschen ihr Leben zurückbekommen. Aber als AstraZeneca bekannt gab, dass es Probleme bei der Herstellung gab – was bedeuten würde, dass die EU viel weniger Erstdosen erhalten würde, als in der Vereinbarung festgelegt – konnte die Kommission nur wenig tun, außer sich lautstark zu beschweren.

„Fehlende Produktionskapazitäten sind ein echtes Problem für alle, nicht nur für Entwicklungsländer“, sagt John-Arne Røttingen, Norwegens Botschafter für globale Gesundheit. Er verweist auf die Herausforderung: Normalerweise werden jedes Jahr weltweit 3,5 Milliarden Dosen Impfstoffe gegen alle möglichen Krankheiten produziert. Der Bedarf an Covid-19-Impfstoffen liegt bei 15 Milliarden Dosen, und alle werden jetzt benötigt.

„Wenn die Schutzrechte vorübergehend ausgesetzt werden und die Unternehmen auch ihr Know-how teilen würden, könnte die Produktion in ein paar Monaten beginnen.“

Dimitri Eynikel, Ärzte ohne Grenzen

Das Risiko von Mutationen

Die wichtigsten Impfstoffhersteller arbeiten rund um die Uhr, um die Produktion zu erhöhen. Aber sie sind weit davon entfernt, den Bedarf zu decken, so WHO-Direktor Tedros Ghebreyesus. In der Bevölkerung von Staaten, die noch nicht geimpft haben, mutiert das Virus weiter. Inzwischen sind deutlich ansteckendere Varianten als der Urtyp entstanden. Es besteht die Gefahr, dass das Virus zudem noch tödlicher werden könnte, mit katastrophalen Auswirkungen. Ghebreyesus fordert Regierungen und Unternehmen deshalb auf, sich zusammenzuschließen, um die „künstliche Knappheit“ zu überwinden.

Wie viel mehr Kapazität?

Niemand weiß genau, wie viel und wie schnell die Produktion hochgefahren werden könnte, wenn die Patente aufgehoben und die Rezepte weitergegeben würden. Doch die Nachrichtenagentur AP zitierte unlängst drei Fabrikbetreiber in Dänemark, Bangladesch und Südafrika, die angaben auch kurzfristig mit der Produktion von Hunderten Millionen Covid-19-Impfstoffen beginnen zu können. Dafür bräuchten sie nur die Baupläne und das technische Know-how.

Mehrere der neuen Impfstoffe basieren auf der mRNA-Technologie, darunter die von Biontech, Moderna und Curevac. Das eröffne neue Möglichkeiten, sagt Dimitri Eynikel, der für Ärzte ohne Grenzen als Politikberater arbeitet.

„Diese Impfstoffe sind viel einfacher und billiger herzustellen und können an neue Varianten angepasst werden. Der größte Vorteil ist, dass diese Prozesse der Produktion bestimmter Medikamente ähneln“, sagte Eynikel im Gespräch mit Investigate Europe. Das bedeute, dass viele Firmen, die bisher nur Arzneimittel herstellten, nun auch Impfstoffe produzieren könnten. Eynikel fügt hinzu: „Wenn die Schutzrechte vorübergehend ausgesetzt werden und die Unternehmen ihr Know-how teilen würden, könnte die Produktion in ein paar Monaten beginnen.“

Nord-Süd-Gefälle

Im TRIPS Rat haben die Befürworter der Initiative in ihrer jetzigen Form wohl allerdings keine guten Chancen – und das obwohl laut Ärzte ohne Grenzen sich inzwischen etwa 100 der 164 WTO-Mitglieder dafür ausgesprochen, Schutzrechte vorübergehend auszusetzen. Weil die EU-Staaten vertreten durch die Kommission, die USA, Japan, die Schweiz sowie Norwegen sich gegen den Vorschlag Südafrikas und Indiens ausgesprochen haben, ist ein Konsens nicht wirklich in Sicht. Und auch wenn auf dem Papier eine Dreiviertelmehrheit reichen könnte, ist das schlicht nicht die Art, wie Entscheidungen zustande kommen. Personen, die mit der Situation vertraut, sind, sagten, dass beide Seiten „einen Ozean“ voneinander entfernt seien. Seit Oktober habe es lediglich hitzige Gespräche gegeben.

EU-Kommission: Patente sind nicht das Problem

Die EU-Kommission lehnt Indiens und Südafrikas Vorstoß bisher ab. Laut ihren Angaben würde der Patentverzicht nicht das Problem der mangelnden Produktionskapazitäten lösen. Es sei vielmehr notwendig, dass Industrie-Staaten klare Erwartungen an die Konzerne formulierten und so Druck aufbauen. Die EU setzt darauf mit den Unternehmen zusammenzuarbeiten und dabei auch auf Patentrechte zu setzen.

„Wir müssen Maßnahmen finden, die die Anreize für Innovationen und Investitionen in die gesundheitsbezogene Forschung erhalten und gleichzeitig die Technologie und das Know-how durch die Zusammenarbeit zwischen Impfstoffentwicklern und -herstellern erweitern“, teilte ein Kommissionssprecher auf Nachfrage mit. Dies geschehe bereits, heißt es. Die Bemühungen müssten aber noch ausgeweitet werden.

Die Engpässe

Die Sichtweise der Kommission deckt sich mit der Position der Pharmaindustrie. Die sieht den Verzicht auf Schutzrechte als Bedrohung. 32 Geschäftsführer biopharmazeutischer Unternehmen in den USA schickten Anfang März deshalb einen Brief an US-Präsident Joe Biden. Darin forderten sie Biden auf, „diese langjährige Unterstützung für Innovation und amerikanische Arbeitsplätze aufrechtzuerhalten“, indem Biden sich weiterhin gegen den Patentrechtsverzicht ausspreche.

Anfang März sagte der Geschäftsführer von Astra Zeneca, Pascale Soriot, während einer Anhörung im EU-Parlament: „Ich glaube wirklich, dass es nicht um Patente geht, sondern um die Produktionskapazitäten auf der ganzen Welt, und wir arbeiten alle daran, diese so schnell wie möglich zu erhöhen.“

Es sei nicht so einfach, eine neue Produktionsstätte hinzuzufügen.. „Den Leuten, die Zugang zu unseren Patenten haben, wird das nicht viel helfen, wenn sie nicht wissen, wie man den Impfstoff herstellt. Wir müssen es ihnen beibringen.“ AstraZeneca schicke bereits Ingenieure an viele Standorte, aber das koste Zeit. „Unsere Teams sind absolut ausgelastet, es gibt keine Möglichkeit, mehr Leute auszubilden“, so Soriot.

115 Mitglieder des Europäischen Parlaments sind nicht zufrieden. Sie forderten kürzlich die Kommission und den Rat der EU auf, die Ausnahmeregelung zu überdenken. In der Vergangenheit hatten Mitglieder der Kommission sowie Staats- und Regierungschefs Covid-19-Medizinprodukte als „globale öffentliche Güter“ genannt. Doch diesen Worten hätten sie bisher keine Taten folgen lassen, kritisierten die Parlamentarier. Auch Ärzte ohne Grenzen fordern die Regierungen auf, die Schutzrechte nicht weiter zu blockieren und stattdessen „formelle Verhandlungen in der Welthandeslorganisation“ zu ermöglichen.

Covax: Große Ziele, kleine Erfolge

Der faire Zugang zu Impfstoffen für alle Menschen weltweit hat für die EU höchste Priorität, versichert die Kommission. Das wichtigste Instrument dafür sei Covax. Eine historische Initiative, die im vergangenen Jahr mit dem Ziel gestartet wurde, um Impfstoffe im Namen der ganzen Welt zu kaufen und anschließend sicherzustellen, dass die Dosen weltweit gerecht verteilt werden. Doch kaum ein Jahr später ähnelt Covax mehr einem Hilfsprojekt. Denn reiche Staaten haben längst eigene Kaufverträge mit den Impfstoffproduzenten abgeschlossen.

Seit Anfang März konnte Covax nun dennoch damit beginnen, Impfstoffe auszuliefern. Zunächst wurde medizinisches Personal in Ghana geimpft mit dem AstraZeneca-Impfstoff, der aus einer indischen Fabrik nach Afrika geschifft worden war. Erste Impfungen in der Elfenbeinküste, in Nigeria, Angola und in weiteren Staaten folgten.


WHO
Erstmals wurde Anfang März in Ghana Impfstoff des Covax-Bündnis‘ verimpft

Die EU sagte Covax bisher 2,2 Milliarden Euro zu, andere G7-Staaten haben ihre finanzielle Unterstützung kürzlich erhöht. Dennoch bleibt die Initiative stark unterfinanziert. Ziel ist es, in diesem Jahr 1 Milliarde Dosen Impfstoff an 92 Länder zu liefern. Doch selbst diese Menge würde nur ausreichen, um in diesen Ländern die Menschen zu schützen, die am gefährdetsten sind. Auch in diesem Fall könnte das Virus sich weiter verbreiten und mutieren.

Südafrika lehnt „Philanthropie“ ab

Südafrikas Regierung sieht in Covax eine gute Initiative, die aber nicht ausreiche, um das Virus zu besiegen. Wie viel Geld die reichen Staaten auch geben mögen, Philanthropie sei nicht die Lösung, sagte der Vertreter Südafrikas Ende Februar während eines TRIPS-Treffens. Denn es nütze nichts, Geld zu haben, wenn es keinen Impfstoff gebe, der davon gekauft werden könne. Er forderte die Gegner des Schutzrechtsverzichts auf, ihre gewohnten Handlungsmuster zu überdenken.

„Wir haben keine Wahl. Es muss geschehen“, sagt Mustaqeem de Gama, der die Vertretung Südafrikas bei der WTO berät, über den Verzicht. „Gott bewahre, dass dieser Virus auf einen anderen, viel virulenteren [Stamm] überspringt“, sagte Gama im Gespräch mit Investigate Europe. „Es zeigen sich Risse“, stellte er über die Verhandlungspositionen der reichen Staaten fest. So erwäge die EU bereits, auf Patentrechte zu verzichten und auch die US-Regierung habe angedeutet „bis zu einem gewissen Grad“ auf Rechte verzichten zu wollen, um die Impfstoffproduktion zu beschleunigen.

„Vielleicht wird nicht alles, was in der Verzichtserklärung steht, zum Tragen kommen. Aber wenn wir uns auf das wichtigste und unmittelbarste Ergebnis konzentrieren, haben wir eine glaubwürdige Landezone. Je schneller wir das tun, desto besser für alle“, sagt de Gama.

Diplomatie auf Leben und Tod

Südafrika hat derzeit den Vorsitz im TRIPS-Rat inne. Bei der Sitzung in dieser Woche wird Norwegens WTO-Botschafter Dagfinn Sørli diese Aufgabe übernehmen. Norwegen hat Südafrika und Indien gebeten, einen überarbeiteten, enger gefassten Vorschlag vorzulegen. Sørli steht vor einer schweren Aufgabe, wenn er versuchen will, einen Mittelweg zwischen einem verzweifelten und entschlossenen globalen Süden und einer Gruppe reicher Länder im Norden zu finden, die Pharmariesen mit globalen Monopolen beherbergen, die es zu schützen gilt. Aber beide Seiten stehen einem gemeinsamen Feind gegenüber, der nur mit vereinten Kräften besiegt werden kann.

Thiru Balasubramaniam, der Genfer Vertreter der NGO für soziale Gerechtigkeit, Knowledge Ecology International, verfolgt das Drama, das sich in Genf abspielt. Den Vorsitz im TRIPS-Rat gerade jetzt zu führen, sei eine große Verantwortung, sagt er.

„Die Welt kämpft mit der größten Herausforderung unserer Generation, abgesehen von der AIDS-Pandemie. Das Gewicht dieser Erwartungen wird auf den Schultern von Botschafter Sørli ruhen.“


Podcast: Ingeborg Eliassen über Impfstoff-Nationalismus


Was ist TRIPS?

Die Abkürzung TRIPS steht für Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (handelsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum) und ist ein Abkommen über geistiges Eigentum (IP) innerhalb der Welthandelsorganisation (WTO). 164 Länder sind Teil davon. TRIPS betrifft den Handel mit Wissen und Kreativität, die Beilegung von Handelsstreitigkeiten über geistiges Eigentum und den Spielraum, den WTO-Mitglieder haben, um innenpolitische Ziele zu erreichen.


Der Vorschlag zum Verzicht

Am 2. Oktober 2020 haben Südafrika und Indien vorgeschlagen, vorübergehend auf Patentrechte für Produkte zur Vorbeugung, Eindämmung oder Behandlung von Covid-19 zu verzichten. Der Zweck: Jeder, der in der Lage ist, den Impfstoff herzustellen, soll es tun können.

„Die Ausnahmeregelung sollte so lange gelten, bis eine weit verbreitete Impfung weltweit eingeführt ist und die Mehrheit der Weltbevölkerung Immunität entwickelt hat, daher schlagen wir eine anfängliche Dauer von [x] Jahren ab dem Datum der Annahme der Ausnahmeregelung vor.“

Der Vorschlag für eine Ausnahmeregelung bezieht sich auf Abschnitte des TRIPS-Abkommens, die sich mit Urheberrechten und verwandten Schutzrechten, gewerblichen Mustern und Modellen, Patenten und dem Schutz nicht offengelegter Informationen befassen.