EU beugt sich bei geheimen Impfstoffpreisverhandlungen den Forderungen der Pharmaindustrie

Im September 2020 gab die oberste Verhandlungsführerin der EU-Kommission für Impfstoffe ein Versprechen ab. Die Dosen würden zwischen 5 und 15 Euro kosten, versicherte Sandra Gallina den Mitgliedern des Europäischen Parlaments. „Wir können nicht über bestimmte Grenzen hinausgehen, weil es nicht bezahlbar wäre“, sagte sie vor dem Gesundheitsausschuss. Sie ahnte nicht, dass ihre feste Obergrenze unter dem Druck der Impfstoffhersteller bröckeln würde.

Ein Jahr nach Gallinas Versprechen haben zwei der vier Hersteller, die die EU beliefern, ihre Preise deutlich erhöht. Aus Dokumenten, welche der Financial Times vorliegen, geht hervor, dass der Impfstoff von Pfizer/Biontech nun 19,50 Euro statt zuvor 15,50 Euro kostet. Moderna verlangt für eine Impfstoffdosis inzwischen 25,50 US-Dollar (21,60 Euro) statt 22,50 US-Dollar im ersten Abkommen.



Die EU habe so für Impfdosen möglicherweise rund 31 Milliarden Euro zu viel gezahlt, kritisiert nun die People’s Vaccine Alliance, ein Bündnis von mehr als 70 humanitären Organisationen. Das Bündnis beruft sich auf eine Studie des Imperial College London. Darin kamen die britischen Forscher zu dem Ergebnis, dass eine Dosis der mRNA-Impfstoffe in Massenproduktion für nur 1,18 bis 2,85 US-Dollar hergestellt werden kann. Moderna würde so einen Gewinn pro Impfung von 794 Prozent erzielen und Pfizer/Biontech von über 1.838 Prozent.

“Das ist ein sehr gutes Geschäft”

Um zu verstehen, wie es den Pharmakonzernen gelingen konnte, in den Verhandlungen mit der EU derart hohe Preise durchzusetzen, sprach das Journalistenteam Investigate Europe in den vergangenen Wochen mit ehemaligen und aktuellen Verhandlungsführern der EU, mit weiteren EU-Politikern sowie mit Mitarbeitern führender NGOs sowie der UNO.


Richard Bergström | Photo courtesy of EHFG

Einer, der an den Verhandlungen mit den Herstellern beteiligt war, ist der Impfstoffkoordinator der schwedischen Regierung, Richard Bergström. Er wehrt sich gegen den Vorwurf, die EU würde den Herstellern zu viel zahlen. Die Preise für Medikamente würden sich immer nach deren Wert richten – nicht nach den Herstellungskosten, sagt Bergström. Nach dieser Regel „sollten die Impfstoffe von Moderna und Pfizer mehr als 100 Dollar pro Dosis kosten, das war die Ansicht der Märkte und der Analysten“, rechtfertigt Bergström das Verhandlungsergebnis im Gespräch mit Investigate Europe. „Diese Preise zahlen wir nicht.“ Die Vereinbarungen wurden im Mai und Juni für insgesamt bis zu 2,1 Milliarden Impfungen bis 2023 getroffen. Die neuen Bedingungen umfassen Impfungen für Kinder sowie mögliche Booster-Impfungen, um vor künftigen Covid-Varianten zu schützen. „Es ist ein Pauschalpreis für die nächsten zwei Jahre, und wir denken, dass das ein sehr gutes Geschäft war“, sagt Bergström.

Solche Details sind wichtig, um die undurchsichtigen Verfahren zu verstehen. Als die Europäische Kommission mit der Beschaffung von Impfstoffen im Namen der Europäischen Union beauftragt wurde, ernannten die Mitgliedstaaten ein gemeinsames Verhandlungsteam aus sieben Delegierten. Die meisten blieben jedoch anonym, m

„Mein Problem ist, dass ich die Verhandlungsführer nicht kontrollieren kann“, bedauert Mohammed Chahim, ein niederländischer Abgeordneter im Gesundheitsausschuss des Europaparlaments. „Das Parlament sollte an den Gesprächen beteiligt sein. Dieser Mangel an Transparenz nährt die Ressentiments gegen Impfungen.“it Ausnahme von Bergström sowie dem spanischen Verhandler César Hernandez.

Geschwärzte Dokumente sind “keine sinnvolle Transparenz”

Darüber hinaus blieben die Geschäfte lange Zeit geheim, trotz der drei Milliarden Euro an so genannten Advanced Purchase Agreements, die den Arzneimittelherstellern Aufträge sichern und das Produktionsrisiko verringern sollten. „Die Verträge wurden erst nach monatelangem Druck der Zivilgesellschaft, der Europaabgeordneten und des Europäischen Bürgerbeauftragten freigegeben“, sagt Olivier Hoedeman von Corporate Europe Observatory. Diese NGO stellte im September 2020 zwei Anträge auf Informationsfreiheit bei der Kommission, um Zugang zu den Unterlagen zu erhalten. Zusätzlich zu den Verträgen wurden 365 interne Dokumente identifiziert, von denen jedoch nur 80 freigegeben wurden.

„Leider wurden sie so stark geschwärzt, dass ihre Offenlegung praktisch keine sinnvolle Transparenz bietet“, so Hoedeman, der hinzufügt, dass die EU ihre Verhandlungsmacht nicht genutzt hat, um zu verhindern, dass Pfizer, Biontech und Moderna ein Monopol auf mRNA-Impfstoffe erhalten.

„Die Steuerzahler haben dreimal gezahlt“

Bisher wurden nur vier Impfstoffe von der europäischen Aufsichtsbehörde zugelassen. Zwei der Hersteller, AstraZeneca und Johnson & Johnson, verwenden konventionelle Techniken, indem sie abgeschwächte Formen des Virus züchten. Sie haben sich verpflichtet, ihre Impfstoffe auf gemeinnütziger Basis bereitzustellen. Doch aufgrund von Lieferverzögerungen und Berichten über seltene Blutgerinnsel, werden sie zunehmend gemieden. Moderna sowie Pfizer/Biontech verwenden hingegen die mRNA-Technologie, die menschlichen Zellen dazu bringt, Virusbestandteile selbst zu produzieren und so eine Immunreaktion auszulösen. Diese Substanzen können die Hersteller weit billiger produzieren als herkömmlich Impfstoffe. Doch ihre Preise sind höher und ihr Gewinn steigt rasant.

Zusammengenommen haben die drei Unternehmen in den Jahren 2021 und 2022 einen Umsatz von über 60 Mrd. Dollar erzielt. Biontech allein könnte die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr um 0,5 Prozent ankurbeln. „Die Impfstoffkonzerne waren gierig“, sagt Anna Marriott, Leiterin der People‘s Vaccine Alliance. Die Steuerzahler haben dreimal gezahlt, behauptet sie. „Zuerst mit Milliarden für die Forschung, dann mit aufgeblähten Preisen, die öffentliche Gelder verschlingen, und schließlich, weil sie wenig Steuern zahlen.“ Das gilt allerdings weniger für Biontech. „Unser Weg, die staatliche Förderung zurückzuzahlen, ist es, Steuern zu zahlen“, sagte Biontech-Gründer Ugur Sahin der „Zeit“. Allein im ersten Quartal dieses Jahres habe sein Unternehmen mehr als 500 Millionen Euro Unternehmenssteuern gezahlt.“

Den Unterhändlern waren die Hände gebunden

Während Pfizer/Biontech und Moderna saftige Schecks von der EU verlangten, hielten sie Informationen über ihre Kosten und Gewinnanteile zurück. Das bestätigen zwei der Verhandlungsführer, mit denen Investigate Europe sprechen konnte. Sie waren an der ersten Runde der Auftragsvergabe beteiligt, müssen aber anonym bleiben.

Die Verhandler sagten übereinstimmend, dass der EU-Seite durch die lukrativen Verträge, welche die Vereinigten Staaten bereits unterzeichnet hatteen, die Hände gebunden gewesen seien. „Trump hat einen Markt geschaffen, der auf Geheimniskrämerei und hohen Preisen beruht“, sagt einer und fügt hinzu, dass die entscheidende Variable für EU-Delegation eher die Geschwindigkeit als die Preise gewesen sei, und das inmitten kostspieliger Sperrfristen. „Big Pharma“, wie die großen Unternehmen im Branchenjargon genannt werden, „sind sehr gut darin, Druck zu machen“, sagt ein anderer Verhandler. Demnach hätten einige Unternehmen ursprünglich sogar das Vierfache des später vereinbarten Preises gefordert. „Wenn du ihre Verträge nicht unterschreibst, werden es andere tun“, habe es geheißen. Mehr Transparenz hätte die Europäer gegenüber ihren internationalen Konkurrenten in die Enge getrieben, argumentieren beide.

„Das ganze System beruht auf der Annahme, dass man durch Geheimhaltung mehr Preiswettbewerb erhält“, bestätigt Richard Bergström. „Sowohl die Industrie als auch die Öffentlichkeit glauben, dass es besser ist, weil jeder bessere Angebote bekommt.“ Außerdem wäre die Rechnung viel höher ausgefallen, wenn die Mitgliedstaaten sich nicht zusammengetan hätten, sagt er. Als ehemaliger Berater der Weltgesundheitsorganisation und Generaldirektor des Europäischen Verbandes der Pharmazeutischen Industrie und ihrer Verbände kennt er die Besonderheiten des Handels von beiden Seiten.

„Wir haben es richtig gemacht, weil wir es auf die europäische Art gemacht haben“

Sowohl Bergström als auch die beiden ehemaligen Verhandlungsführer wollen nach den Ergebnissen der Impfkampagne beurteilt werden. Und trotz eines schleppenden Starts sind laut Angaben der EU-Kommission inzwischen mehr als 70 Prozent der erwachsenen Europäer geimpft worden. „Wir haben es richtig gemacht, weil wir es auf europäische Weise gemacht haben“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union letzte Woche.


Ursula von der Leyen während ihrer Rede zur Lage der EU, 2021 | Photo: EU

Von der Leyen gab jedoch auch zu, dass nur weniger als ein Prozent aller weltweiten verkauften Impfdosen in Ländern mit niedrigem Einkommen verabreicht wurden. Dies sei ein Verrat am Mandat der EU, „Impfstoffe als globale öffentliche Güter zu fördern“, sagt Ellen ‘t Hoen, die seit Jahren zu geistigem Eigentum arbeitet und den Think Tank „Medicines, Law and Policy“ leitet. 

Die EU hat sich verpflichtet, in diesem Jahr 200 Millionen Impfdosen zu spenden. Zudem will sie drei Milliarden Euro an Covax zahlen, ein Programm zur Verteilung von Impfstoffen an ärmere Länder. Die Union weigert sich aber eine Patentverzichtserklärung zu unterstützen, die von Südafrika und Indien bei der Welthandelsorganisation (WTO) initiiert worden war. Eine solche Initiative würde die Beschränkungen des geistigen Eigentums vorübergehend aufheben und die Pharmaunternehmen dazu zwingen, das Know-how über ihre Produkte weiterzugeben, so dass andere das Angebot weltweit ausweiten könnten. „Die EU hat es an echter Solidarität fehlen lassen“, sagt Ellen ‘t Hoen. „Was ist aus dem Grundsatz geworden, dass niemand sicher ist, bevor nicht alle sicher sind?“.

„Es gab einen starken Nationalismus auf europäischer Ebene“

Der Zugang für alle war nie eine Priorität in den ursprünglichen Gesprächen, räumen die beiden ehemaligen Verhandlungsführer ein, die mit Investigate Europe sprachen. „Die Worte ‚globale öffentliche Güter‘ sind eine leere Hülle“, sagt der eine und deutet an, dass die Kommission weder die Zeit noch die Kapazität hatte, sich für eine Patentausnahme einzusetzen. „Es gab einen starken Nationalismus auf europäischer Ebene“, fügt der andere hinzu. „Wir hätten diese Debatte nicht ohne die USA und China führen können, es wäre eine vergebliche Strategie gewesen.“                       

Cyril Ramaphosa, der Präsident Südafrikas, bezeichnete das Horten von Impfstoffen als Apartheid. UN-Unterstaatssekretärin Winnie Byanyima erklärte gegenüber Investigate Europe, dass Covax bisher nur 42 Millionen Dosen nach Afrika geliefert hat und damit weit unter dem Ziel von 700 Millionen Dosen bis Ende des Jahres liegt.

„Heute genehmigen reiche Länder in der EU Impfstoffe für Auffrischungsimpfungen, während Ärzte in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen sterben, weil sie nicht einmal eine erste Dosis bekommen können“, verurteilt Byanyima.


Winnie Byanyima | Photo: UNAID

Die Europäische Kommission lehnte es ab, sich zu den Vertragspreisen zu äußern, bekräftigte jedoch ihr Engagement für eine globale Zusammenarbeit. In einer Erklärung sagte sie: „Rund 236 Millionen Dosen wurden von Covax an 139 Länder geliefert. Dies ist eine großartige kollektive Leistung“.

Ein Sprecher von Pfizer sagte, dass die Regierungen je nach ihrem Einkommen belastet werden, wobei der Wert während der Pandemie erheblich reduziert wird.

Biontech und Moderna waren für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

Investigate Europe hat sich an Dutzende von EU-Beamten und Regierungen gewandt, die meisten haben nicht geantwortet.

Bislang hat die Europäische Kommission bis zu 4,6 Milliarden Dosen für eine Bevölkerung von nur 448 Millionen Menschen gesichert.