Erik Hamann, Geschäftsführer Orpea Deutschland: „Gewiss, unsere Aktionäre profitieren davon“

Das Interview in Auszügen:

Investigate Europe: Herr Hamann, die vier führenden Unternehmen auf dem europäischen Markt für Alten- und Pflegeheime kommen alle aus Frankreich. Wie ist das zu erklären?

Erik Hamann: In Frankreich wurde der Pflegebereich schon in den Achtzigern für private Betreiber geöffnet. Aber es gibt eine feste Anzahl Lizenzen. Als die weitgehend vergeben waren, konnten die Unternehmen nur im Ausland wachsen. Dazu kommt: Dienstleister haben in Frankreich ein ganz anderes Prestige als in Deutschland. Bei Orpea zu arbeiten, da lecken sich die Leute die Finger nach. Und dann gibt es noch einen sich selbst verstärkenden Effekt. Orpea hat mittlerweile weit über tausend Einrichtungen. Da hat man Erfahrungen – baulich, qualitativ – die man mit kleinen Unternehmen nicht gewinnt. So können wir mit hoher Qualität sehr viel Pflege anbieten. Das bringt Effizienz.

In ganz Europa beklagen Fachleute, dass es zu wenig Personal in den Altenheimen gibt. Wie wirkt sich dieser Personalmangel in Ihrem Unternehmen aus?

Personalmangel ist etwas Relatives. Wir erfüllen die Personalschlüssel…

…also die gesetzlich vorgeschriebene Zahl der Pflegekräfte pro Heimbewohner, von denen mindestens 50 Prozent ausgebildete Fachpfleger sein müssen…

…Die Frage ist: Sind es immer die Richtigen? Als ich hierher kam, hatten wir sehr viele Leiharbeitskräfte. Ich persönlich finde das keine optimale Lösung. Erstens ist es ein Qualitätsproblem. Wenn Sie wissen, Sie haben ein Projekt für drei Monate und danach sind Sie wieder weg, dann ist Ihnen vieles nicht so wichtig. Zweitens sind Leihkräfte teurer. Und es ist frustrierend für die Stammbelegschaft. Wir versuchen dafür zu sorgen, dass die Stammbelegschaft wächst. Darum haben wir ein Programm, mit dem wir Pflegehilfskräfte zu Fachkräften ausbilden. Da investieren wir viel Geld. Ja, wir suchen auch Personal. Pflege ist personalintensiv. Wir werben auch im Ausland Beschäftigte an, aber das ist oft zweischneidig, weil manchmal die Bindung der Beschäftigten an das Haus fehlt. Aber klar ist, wir erfüllen die gesetzlichen Schlüssel. Wenn wir es nicht tun würden, gäbe es zurecht einen Belegungsstopp.

Aber das kommt wohl nicht immer hin. Gab es nicht auch in Orpea-Einrichtungen Belegungsstopps durch die Behörden?

Ganz wenige. Da ging es in der Tat um Leihpersonal, das nicht rechtzeitig da war. Aber das ist bei uns kein ernstes Problem.

Die Altenpflege ist eigentlich eine gesellschaftliche Aufgabe, die alle Bürger erfüllen müssen. Jeder hat Eltern. Was macht diesen Dienst für kommerzielle Investoren so attraktiv?

In unserem Fall bauen wir etwas auf, dem andere einen Wert beimessen. Deswegen gibt es Leute, die darin investieren. Unser größter Aktionär ist ein Pensionsfonds, in dem viele Menschen aus unterschiedlichen Berufsgruppen rentenversichert sind.

Für eine ausreichend gute Pflege fehlen allein in Deutschland fünf Milliarden Euro jährlich, um genügend Pflegepersonal zu beschäftigen, sagen die Fachleute. Wenn so viel Geld gebraucht wird, wie ist das vereinbar mit Dividendenzahlungen oder Gewinntransfers?

Orpea Deutschland zahlt null Dividende an seinen Gesellschafter. Es ist umgekehrt so, dass wir hohe Millionenbeträge aus Frankreich bekommen zum Aufbau moderner Einrichtungen, die wir neu schaffen. Wir zahlen nicht aus, sondern wir erhalten Geld, um in neue Einrichtungen zu investieren.

Gleichwohl ist es das Ziel der börsennotierten Orpea SE, Gewinne zu machen. Ob sich das in einem steigenden Aktienwert niederschlägt oder Dividenden, ist gleich. Aber es fließt Geld aus staatlichen Kassen, das Ihre Aktionäre reicher macht, während es gleichzeitig an Geld mangelt, um die Pflegequalität zu verbessern.

Die Dividendenrendite beträgt 1,1 Prozent für die Anleger. Das ist sehr gering für das Risiko in einen hoch regulierten Markt zu investieren. Aber was ist die Alternative? 41 Prozent der Pflegeheime in Deutschland sind über 30 Jahre alt, weil keiner mehr investiert, weil der Markt überreguliert ist. Wer soll denn investieren? Und ob das der Staat besser, sprich effizienter, kann? Mit Blick auf Infrastrukturprojekte wie den Berliner Flughafen oder die Hamburger Elbphilharmonie bin ich mir da nicht so sicher.

Aber solche Planungsfehler lassen sich auch vermeiden, wenn die Politik es wirklich will, oder?

Es ist kein Zufall, dass rund die Hälfte der Kapazitäten bei Pflegeheimen in Deutschland in privater Hand liegt . Das ist so, weil Mitte der neunziger Jahre parallel zur Gründung der Pflegeversicherung schnell eine Lösung her musste. Die Privaten machen das erheblich schneller und effizienter als Gemeinnützige oder der Staat. Das war eine pragmatische Lösung für ein konkretes Problem. Wir sind nicht gemeinnützig. Ja, wir machen Gewinne, aber das Geld wird voll reinvestiert in moderne Pflege, Gebäude und Ausbildung des Personals. Gewiss, unsere Aktionäre profitieren davon. Aber nicht, weil sie eine Ausschüttung erhalten, sondern weil sie einen Anteil haben an einem Unternehmen, das wertvoller wird. Das ist für manchen ein Paradoxon, dass man attraktiv sein kann, auch wenn man seinem Gesellschafter keine Dividende gezahlt hat, wie wir, aber so ist es.

Wir haben mit Altenpflegern aus einigen Ihrer Häuser gesprochen, die über schlechte Bezahlung und Überlastung klagen. Was müsste geschehen, um das zu ändern?

Was ist eine schlechte Bezahlung?

Pfleger, die nur den Mindestlohn verdienen.

Es gibt keine Pflegefachkraft, die nur Mindestlohn erhält, weder bei uns noch woanders.

Aber Sie beschäftigen überwiegend Hilfskräfte, die nur Mindestlohn bekommen.

Die Fachkraftquote liegt bei 50%. Wir beschäftigen also nicht überwiegend Hilfskräfte. Aber: Es muss doch einen Unterschied machen, ob Sie eine Ausbildung haben oder nicht. Pflegefachkräfte in Deutschland sind unter 3000 Euro pro Monat schwierig zu finden. Die sogenannten Hungerlöhne bei den Pflegefachkräften mag es vielleicht früher gegeben haben, jetzt nicht mehr. Die Gehälter der Pflegefachkräfte liegen mittlerweile auf der Höhe des Durchschnittsgehalts in Deutschland. Und den Hilfskräften bieten wir an, sich zur Pflegefachkraft ausbilden zu lassen. Die meisten Hilfskräfte verdienen in der Nähe des Pflege-Mindestlohns, das stimmt. Aber dann stellt sich die Frage: Wer soll die höheren Löhne zahlen?

Und ja, es ist eine hohe Belastung. Es ist ein herausfordernder Job. Aber das liegt auch daran, dass es in den Einrichtungen teilweise noch zu viel Desorganisation gibt, zum Beispiel, wenn Beschäftigte kurzfristig aus dem freien Wochenende geholt werden, weil es heißt, „der Bernhard kann heute doch nicht, jetzt musst Du einspringen“. Ich nenne das schlechte Führung. Wir haben deshalb neben Schulungen für Führungskräfte auch eine Dienstplanungssoftware eingeführt, mit dem die Personaleinsatzplanung so gemacht wird, dass sie vorausschauend und transparent ist, auch für die Betriebsräte. Dass die Arbeit in der Pflege anstrengend ist, das wissen Pflegekräfte wenn sie sich für diesen Beruf entscheiden. Was sie wirklich stört, ist wenn die Verteilung der Dienste nicht nachvollziehbar ist oder sie immer wieder aus der Freizeit geholt werden – und dann natürlich die Folgen der Fluktuation, die aus solcher Unzufriedenheit entstehen.

Fachleute setzen für Personalkosten in guten Pflegeheimen rund 70 Prozent der Umsatzerlöse an. Bei Ihnen sind es nur 50 bis 55 Prozent. Sparen Sie zu viel beim Personal?

Nein. Wir machen nur mehr Umsatz als andere. Wir haben Komfortzimmer und -lösungen. Dafür zahlen unsere Bewohner mehr. Diese Zusatzleistungen müssen sie nicht nehmen, aber sie können es. Die Pflege ist natürlich exakt dieselbe. Wir machen in der Pflege keine Zwei-Klassen- Gesellschaft. Die muss dem Standard entsprechen. Es gibt aber Menschen, die zahlen eben mehr für Komfortlösungen. Mit den Gehältern der Pflegekräfte machen sie spätestens seit dem Pflegestärkungsgesetz III keinen Gewinn mehr. Zur Veranschaulichung: Für „Wagnis und Gewinn“ zahlen die Pflegekassen einen Aufschlag von 1 bis 1,5%. Der Gewinn muss daher aus anderen Quellen kommen. Nicht 100 Prozent unserer Plätze sind Komfortlösungen, aber der Anteil wächst. Aktuell wünschen sich rund 20 bis 30 Prozent der Bewohner Zusatz- und Komfortleistungen. Die möchten ein größeres Zimmer oder ein besser ausgestattetes Zimmer. Und dafür sind sie bereit zu zahlen.

Eine Ihrer Pflegerinnen erzählte uns, wir zieren: „Die Leute können sich nicht mehr konzentrieren, die sind einfach durch. Es ist so wenig Personal da. Wir versuchen das aufzufangen, wir gehen am Limit. Unsere Krankheitsrate hoch. Die Leute reißen sich auf, und irgendwann können sie nicht mehr.“ Da stellt sich schon die Frage: Ist ihnen das Wohl der Beschäftigten egal?

Im Gegenteil – wenn Sie mir sagen, wo das ist, gehe ich dem Fall nach.

Das müssen wir erst die Betroffenen fragen. Halten Sie das denn für einen Einzelfall?

Ich bekomme jede Beschwerde auf meinen Schreibtisch. Im Monat sind es durchschnittlich vielleicht fünf Beschwerden bei aktuell 10.300 Mitarbeitern. Das ist nicht viel. Was manchmal fehlt, ist Führung. Wenn Sie Einrichtungsleiter sind, müssen Sie sich um Ihre Mitarbeiter kümmern. Sie müssen mit ihnen reden und verstehen, was sie bedrückt. Mitarbeiter zu finden, die bereit sind, diese Verantwortung zu tragen, wachsen nicht auf den Bäumen. Darum haben wir eine Akademie. Dort lernen sie Führungsverständnis und Verantwortung, sich eben nicht in seinem Arbeitszimmer zu verschanzen. Die Pflege einfach die Pflege sein lassen, ist nicht unser Verständnis von verantwortungsvoller Führung. Da gibt es immer wieder Probleme. Ich gehe jedem einzelnen Fall nach.

Sie sind also der Meinung, Sie haben genug Personal in ihren Betrieben?

Ich weiß, dass wir unsere Schlüssel erfüllen. Aber es gibt Einzelfälle, wo wir das nicht ohne Leihpersonal schaffen, das manchmal nicht so zuverlässig ist. Wir haben das zwar erheblich abgebaut, aber es ist immer noch zu viel. Aber es ist nicht unsere Politik, die Schlüssel abzusenken.

Reicht der gesetzliche Personalschlüssel aus für eine gute Pflege?

Es wäre gut, wir hätten mehr Pflegekräfte, keine Frage. Wir machen in unseren Einrichtungen Animationen und Beschäftigungsprogramm. Aber wenn Sie von den Kassen einen Aufschlag von „Wagnis und Gewinn“ von 1 bis 1,5 Prozent erhalten, ist die Frage, wie das finanziert werden soll.

Sie könnten als Orpea mit ihren vielen Einrichtungen mit breitem Kreuz in den Pflegesatzverhandlungen mehr Personal fordern.

Da wünsche ich viel Glück. Unsere Einrichtungen verhandeln immer einzeln. Pflegesatzverhandlungen sind knallhart, ich habe das früher selbst gemacht. Die Kassen schützen ihr Budget. Die sagen „Schlüssel“ und suchen überall Gründe, um ihnen noch etwas abzuziehen. Sie geben gar nichts. Aber das ist auch nicht deren Rolle. Sie sind nicht dazu da, uns zu beglücken, und aus ihrer Rolle heraus kann ich das sogar nachvollziehen.

Die Bundesregierung hat jetzt alle Pflegebetriebe verpflichtet, ab Herbst 2022 Tariflöhne zu zahlen. Unterstützen Sie das Vorhaben?

Wir finden höhere Löhne gut. Und zwar aus Eigeninteresse. Wir stehen in Konkurrenz mit Krankenhäusern. Die zahlen 10 bis 15 Prozent mehr als die Altenpflege, da müssen wir auch hin. Aber wir sind ganz klar gegen dieses Gesetz. Das ist mit heißer Nadel gestrickt, nur um das Thema vor der Bundestagswahl abzuräumen. Das ist in der Finanzierung nicht seriös. Es fehlen mindestens 4 bis 6 Milliarden für das, was vorgesehen ist. Da wird ein ungedeckter Scheck ausgestellt. Sie können auch nicht einen sogenannten Tarifvertrag, der von einer Gewerkschaft, die nicht einmal ein Prozent der Beschäftigten vertritt, und mit einem so genannten Arbeitgeberverband wie dem der Arbeiterwohlfahrt abgeschlossen wurde, auf 100 Prozent der Beschäftigten ausdehnen. Folgendes wird passieren: Die Tariflöhne beschreiben die Unterkante dessen, was sie den Mitarbeitern zahlen müssen. Aber die Tariflöhne beschreiben auch die Oberkante. Denn die Kassen werden sagen, es gibt diesen Tarifvertrag und alles, was darüber hinausgeht, ist unwirtschaftlich. Angenommen Sie nehmen den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, den TVÖD, ein in der Pflege bis jetzt vollkommen irrelevantes Tarifwerk, dann werden Sie feststellen, dass der in Emden ein komfortables Leben zulässt, aber nicht in Schwabing. Die Leute wollen keine Tarifverträge, sie wollen höhere Löhne…

…und sie wollen vor allem mehr Kollegen…

…das glaube ich auch. Wenn die Pflegekräfte Tarifverträge wollten, wären sie bei Verdi Mitglied und würden es erstreiken. Sind sie aber nicht. Dieses Tarifwerk wird nur einen Höchstlohn definieren. Das ist Gleichmacherei der schlimmsten Sorte. Die Kassen werden sagen, die Personalkosten der Pflegefachkraft XY mit so und so vielen Jahren Erfahrung sind aber 3233,70 Euro. Ihr wollt aber, nur weil sie in Schwabing wohnt, 3800 Euro zahlen. Das machen wir nicht. Wissen Sie, was dann passiert? Niemand wird mehr neue Pflegeheime bauen. Das Problem bei solchen Flächentarifverträgen ist die mangelnde Flexibilität.

Die Automobilindustrie hat ganz viel regionale Flexibilität in den Tarifverträgen. Warum soll das bei der Pflege nicht auch möglich sein?

Und mit wem verhandeln Sie dann?

Das fragen wir Sie. Die Tarifpflicht ist im Bundestag beschlossen Mit wem werden Sie über den entsprechenden Vertrag verhandeln?

Wir zahlen leistungsorientiert und wir zahlen marktgerecht, so dass wir unsere Fach- und Arbeitskräfte bekommen. Ich sehe mich nicht in der Pflicht, etwas anderes zu machen als das, was ich bisher gemacht habe. Wie die Umsetzung vonstattengeht, werden wir sehen.

Aber könnten Sie die höheren Lohnkosten nicht über die Kassen refinanzieren?

Nicht überall, ich verweise auf mein Schwabing-Beispiel. Weil das Tariftreuegesetz dazu führt, dass Sie dort faktisch kein Personal mehr bekommen werden. Sie zahlen dort jetzt schon mehr als TVöD. Das machen in Bayern übrigens die allermeisten in der Branche. Das ist in Friesland nicht der Fall.

Sie können doch auch regionale Tarifverträge aushandeln. Wo ist das Problem?

Nochmals, Tarifverträge sind für unseren Bereich nicht sinnvoll, im Gegenteil, sie sind investitions- und innovationshemmend. Dann sollen die Gewerkschaften streikmächtig werden oder wirkmächtig, wie es im Gesetz heißt. Dann sollen sie Mitglieder überzeugen. Aber das tun sie nicht. Da ist kaum jemand Mitglied in der Pflege, wahrscheinlich weniger als ein Prozent der Pflegekräfte. Die Mitgliederzahlen legen die Gewerkschaften interessanterweise nicht offen.

Ihr Unternehmen versucht aber auch die Beschäftigten davon abzuschrecken, sich zu organisieren. In Bremen haben sie sogar einer Betriebsratsvorsitzenden gekündigt, obwohl das nach deutschem Recht gar nicht geht. Das Arbeitsgericht hat das auch prompt für nichtig erklärt. Warum machen Sie so was?

Unsere Einrichtung Senioren Wohnpark Weser hat das Ziel, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber zu etablieren, so wie sie mit Betriebsräten in anderen Regionen besteht. Dazu bedarf es in dem konkreten Fall jedoch einer juristischer Aufarbeitung verschiedener Sachverhalte. Fakt ist: Wir haben noch nicht gekündigt, sondern wir haben die Zustimmung des Betriebsratsgremiums verlangt, die für eine Kündigung erforderlich ist. Das Verfahren ist noch nicht entschieden. Wir haben uns diese Entscheidung nicht leicht gemacht. Wir glauben daran, dass wir am Ende Erfolg haben werden.

Ihr Anwalt hatte angekündigt, dass Sie die betreffende Person künftig lückenlos überwachen lassen. Was soll so eine Drohung erreichen?

Ich werde mich zu dem Verfahren hier und jetzt aus juristischen Gründen nicht weiter äußern. Es ist ein schwebendes Verfahren.