Josef Doppelbauer, Chef der Europäischen Bahnagentur: „Die EU-Staaten müssen endlich europäisch denken“

Herr Doppelbauer, als Chef der europäischen Bahnagentur ERA haben Sie es sich zur Aufgabe gemacht, einen Katalog aller nationalen Regeln im Bahnsektor zu erstellen. Wie viele Einträge haben Sie inzwischen zusammen?

Wir haben unsere Initiative im Jahr 2016 gestartet. Damals kamen wir auf 14.312 nationale Regeln. Heute gibt es noch 868. Darunter sind noch immer Regeln, die wir nicht akzeptieren. Wir konnten die Zahl der Regel also innerhalb von fünf Jahren deutlich reduzieren. Aber das ist wenig aussagekräftig. Denn es genügt eine Regel, die alles blockiert.

Wie viele Regeln sollte der finale Katalog einmal enthalten?

So wenige wie möglich. Im Güterverkehr gilt bereits das Prinzip „Go Everywhere“. Mit unserer Zulassung dürfen Güterwagen durch alle EU-Staaten fahren. Das heißt: Für diese Wagen gibt es keine nationalen Regeln. Im Personenverkehr sieht es leider anders aus. Hier müssen wir einheitliche Regeln schaffen, um zum Beispiel Nachtzüge flexibel einsetzen zu können. Wenn Menschen im Sommer ans Meer und im Winter in die Berge reisen wollen, müssen die Anbieter den Verkehr entsprechend verlagern können.  Im Flugverkehr ist so etwas problemlos möglich. Wenn eine Fluggesellschaft in Europa nicht genug Geschäft macht, setzt sie ihre Maschinen eben in Asien ein. Aber wenn ein polnischer Eisenbahnkonzern Probleme mit der Nachfrage hat, wird er seine Wagen kaum in einem anderen Land einsetzen können.

Die EU-Kommission hat 2021 zum „European Year ofRail“ erklärt. Dabei spricht sie viel von grenzüberschreitendem Bahnverkehr.

Wie es wirklich um die Bahnpolitik in der EU steht, lässt sich mit dem sogenannten Connecting Europe express zeigen. Den setzt die EU anlässliches des „Year of Rail“ aufs Gleis. Er sollte Werbung für den grenzüberschreitenden Verkehr machen. Aber für die Fahrt durch 26 Staaten und über 33 Grenzen benötigte er 55 unterschiedliche Lokomotiven.

Die EU ist also weit entfernt von einem gemeinsamen Gleisnetz.

Bereits vor drei Jahren hat unsere Agentur vorgeschlagen, dass Personenwagen unter bestimmten Bedingungen für alle EU-Staaten zugelassen werden könnten. Doch mehrere Mitgliedsstaaten blockierten den Vorstoß, insbesondere Dänemark und Deutschland. Es mangelt einfach an der europäischen Einstellung. Jeder Staat denkt zunächst an seine Situation und an seine Probleme. Die deutschen und dänischen Behörden hatten gerechtfertigte Sicherheitsbedenken waren, aber es hätte durchaus die Möglichkeit gegeben, diese aus dem Weg zu räumen.

Leider denken auch die Unternehmen nicht europäisch. Der Anteil der internationalen Verbindungen am Bahnverkehr in der EU liegt im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Eine unbedeutende Größenordnung. Wenn ich hier in Frankreich auf dieses Problem hinweise, höre ich von den Unternehmen häufig: „Wir müssen uns auf die übrigen 95 Prozent des Geschäfts konzentrieren.“ 

Ein anderer Grund für mangelnden Grenzverkehr könnten unnötige Sprachbarrieren sein. Wenn ein deutscher Lokführer seinen Zug in den Warschauer Bahnhof fährt, muss er die polnische Sprache auf dem fortgeschrittenen Niveau B1 beherrschen. Ein deutscher Pilot, der auf dem Warschauer Flughafen landet, muss hingegen kein Wort polnisch sprechen. Warum? 

Das Sprachproblem zeigt sehr gut, warum die Bahn im internationalen Verkehr nur eine Nebenrolle spielt. Dieses Problem zu lösen, ist schwer. Denn mit der Sprache sind viele Emotionen verbunden. Das spüre ich auch in meiner Arbeit als Chef der ERA. Die Agentur muss Anträge in 24 Sprachen annehmen. Unsere Bescheide müssen wir in der Sprache des Antrags schreiben. Grund dafür ist, dass es uns selbst in der Agentur nicht gelungen ist, eine einheitliche Sprachregelung festzulegen. Wir haben es dreimal versucht und dreimal hat ein Mitgliedsstaat eine Lösung blockiert. Sie dürfen raten welches.

Warum lehnt Frankreich hier eine Regelung ab?

Für die Franzosen ist ihre Sprache ein nationales Symbol. In unserer Arbeit geht es aber nicht nur um die Verständigung, sondern auch um mangelnde Eindeutigkeit. Denn Sprachen sind nicht ohne weiteres ineinander überführbar. Nehmen Sie die englischen Begriffe „safety“, der die Freiheit von Risiken bezeichnet, und „security“, der sich auf Eingriffe von außen bezieht etwa durch Unwetter. Im Französischen entspricht das Wort „securite“ dem englischen „safety“ und das französische Wort „sûreté“ entspricht dem englischen „security“. Im Deutschen hingegen gibt es für beides nur ein Wort: „Sicherheit“. Deshalb haben wir vorgeschlagen, in der ERA die globale linguafrancaEnglisch als technische Referenzsprache zu nutzen. Für alle administrativen Vorgänge hätte Französisch zudem als Referenzsprache genutzt werden können. Doch unser Vorschlag wurde abgelehnt.

Klingt als hätte ihr Job ein gewisses Frustrationspotenzial.

Wenn man leicht frustriert wird, ist man für diesen Job nicht geeignet.

Im Kern eines gemeinsamen europäischen Gleisnetzes soll das einheitliche Zugsicherungssystem ERTMS stehen. Das soll europaweit in Zügen und Schienen installiert werden, damit diese künftig eine Sprache sprechen. Doch auch hier gibt es Probleme.

Unser Ziel ist, dass ein Zug Dank ERTMS von A nach B durch beliebig viele Länder fahren kann und dabei nur dieses eine Zugsicherungssystem benötigt. Momentan ist das kaum möglich. Ein Eurostarzug, der aus Großbritannien von London über Frankreich und Belgien in die Niederlande nach Amsterdam fährt, benötigt momentan neun verschiedene Zugsicherungssysteme. ERTMS könnte dieses Problem lösen. Doch es gibt noch Verständigungsschwierigkeiten. Unterschiedliche EU-Staaten haben versucht ihre alten nationalen Systeme in eigene ERTMS-Versionen zu übertragen. Dabei entstanden mehr als 50 ERTMS-Dialekte. Wir haben nun alle Mühe, eine einheitliche Ausrichtung des Systems durchzusetzen. 

Was kann passieren, wenn ein Zug den Dialekt eines lokalen ERTMS missversteht?

Es könnte es zu einer unvorhergesehenen Notbremsung kommen. Dann würde ein Unglück drohen.

Wie kann die ERA verhindern, dass in Europa inkompatible ERTMS-Versionen installiert werden?

Die ERA hat mehrere Rollen, wenn es um ERTMS geht. Erstens erstellen wir die offiziellen Spezifikationen. Zweites genehmigen wir die ERTMS-Ausrüstung der Züge, falls die Bedingungen dafür erfüllt sind. In der Vergangenheit haben wir auch Anträge abgelehnt, wenn das System Funktionen enthielt, dir wir nicht spezifiziert hatten. Drittens müssen wir die Ausschreibung genehmigen, wenn eine Schienentrasse mit ERTMS ausgerüstet werden soll. Wir können so sicherstellen, dass ausschließlich kompatible Systeme verbaut werden.

Seit 20 Jahren wird die Ausstattung des Schienennetzes der EU mit ERTMS vorangetrieben…

… die Geschichte von ERTMS reicht sogar noch weiter zurück. Ich habe im Jahr 1992 begonnen, mich mit dem System zu beschäftigen.

Das ist fast 30 Jahre her und dennoch dürfte es noch viele Jahre dauern, bis alle relevanten Strecken der EU mit dem System ausgestattet sind. Warum?

Der Bereich war lange Zeit fragmentiert und nun kämpfen wir uns inzwischen seit Jahren durch diesen Dschungel in der Hoffnung, dass wir diesen Wildwuchs vereinheitlichen.

Ziel ist es, dass bis 2050 europaweit Züge und Strecken auf ERTMS umgerüstet werden. Halten Sie das Ziel noch für realistisch?

Auf jeden Fall. 

Lange fehlte den EU-Staaten der politische Wille. Gibt es diesen nun?

Die Mitgliedsstaaten müssen verstehen, welche Bedeutung grenzüberschreitender Verkehr hat. Es muss uns gelingen, alle Straßenverkehre von mehr als 700 Kilometern von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Dafür benötigen wir ERTMS. Denn das erleichtert den grenzüberschreitenden Verkehr. Aber wir benötigen auch weitere unterstützende Maßnahmen. Die Mitgliedsstaaten müssen endlich europäischen denken, statt nur kurzfristige Partikularziele zu verfolgen.