Michael Roth, Staatsminister für Europa: „Es braucht Vertraulichkeit für die Suche nach Kompromissen.“

German Federal Foreign Office/Michael Farkas

Herr Staatsminister Roth, die EU-Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly sagt, „es ist für einen Bürger praktisch unmöglich zu erfahren, wie ein europäisches Gesetz zustande kommt und welche Position welche Regierung zu diesem Gesetz hat. Das untergräbt das Recht der Bürger, ihre gewählten Vertreter zur Rechenschaft zu ziehen“. Hat sie Recht?

Nein, hat sie nicht. Bürgerinnen und Bürger haben vielfältige Möglichkeiten, sich einen Eindruck von der Gesetzgebung in der EU zu verschaffen. Das Europäische Parlament und der Rat beschließen ja gemeinsam über die Gesetzesvorschläge der EU-Kommission. Da lässt sich vieles noch verbessern, gewiss, aber interessierte Bürger und Journalistinnen können einen intensiven Einblick nehmen, wie Gesetze in Europa gemacht werden und wie die Demokratie in der EU funktioniert.

Wenn ich als Journalist berichten will, welche Regierungen bestimmte Gesetze einfach dadurch verhindern, dass sie eine Sperrminorität im Rat formieren, dann habe ich keine legale, einfache Möglichkeit herauszufinden, welche Regierungen das sind. Und die Bürger können das schon gar nicht. Denn die Positionen der nationalen Regierungen in den Ausschüssen des Rates sind geheim.

Unsere Position ist niemals geheim….

…nein, aber die der anderen.

Es gibt in den Mitgliedsstaaten ganz unterschiedliche Transparenzgebote. Da würde ich die europäische Ebene nicht von der nationalen trennen. Es stimmt, dass Teile der Arbeit des Rates öffentlich sind und andere Teile nicht.

Die Vertreter von 20 nationalen EU-Parlamenten aus deren Verband COSAC haben gefordert, der Rat solle die Protokolle von den Verhandlungen in den Ratsgremien einschließlich der Stellungnahmen der einzelnen Regierungsvertreter öffentlich zugänglich machen. Warum sträubt sich auch die Bundesregierung so vehement gegen diese Forderung?

Wir leisten im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft aktuell einen Beitrag dazu, dass der Rat eine Vielzahl von Dokumenten über das Netz öffentlich stellt, sofern sie keine Zwischenstände von Verhandlungen beinhalten. Gegenüber dem Bundestag ist die Bundesregierung ohnehin schon jetzt verpflichtet, alle Dokumente und Entscheidungsrundlagen zugänglich zu machen, damit das nationale Parlament an der EU-Gesetzgebung mitwirken kann.

Aber die Medien und mit ihnen die Bürger dürfen darüber nicht viel erfahren. Wir haben bei Ihrem Ministerium, dem Auswärtigen Amt, Antrag auf Einsicht in die Akten zu den Rats-Verhandlungen über die Verbesserung der Transparenz gestellt. Aber in den Kopien, die wir bekamen, waren alle Passagen, die Positionen der anderen Länder beschrieben, geschwärzt. Zur Begründung schrieb das Ministerium, die Bundesregierung müsse „bei den noch andauernden Diskussionen in der Lage sein, Verhandlungen ohne unbefugten Einfluss von außen zu führen.“ Ist nicht die „unbefugte Einflussnahme“ auf die Gesetzgebung durch die Bürger eine Wesensmerkmal der Demokratie?

Da geht es um Verhandlungspositionen, bei denen verständlicherweise über Zwischenstände nicht unterrichtet wird. Das ist auch in anderen politischen Verhandlungsprozessen vollkommen üblich und normal. Aber nicht, weil man die Bürgerinnen und Bürger nicht beteiligen möchte, sondern weil sich diese Verhandlungsprozesse in einem sehr fragilen, hoch kontroversen Umfeld bewegen und Zwischenstände ja noch kein Abschluss sind. Da haben wir Vertraulichkeitsprinzipien, die aber auch für komplizierte Verhandlungen auf der nationalen Ebene gelten. Denken Sie nur an die Verhandlungen im Vermittlungsausschuss zwischen Bundesrat und Bundestag, da werden Zwischenstände auch nicht permanent bekannt gemacht.

Gewiss, aber die anfänglichen Positionen sind sehr wohl bekannt. Was spricht denn dagegen, dass man die Positionen aller nationalen Regierungen nach der ersten Sitzung des zuständigen Ratsgremiums über einen neuen Gesetzgebungsvorschlag öffentlich macht?

Es ist unser Bestreben, dass mehr Ratssitzungen öffentlich werden und dass interessierte Bürgerinnen, Bürger und Medien daran auch Anteil nehmen können.

Ich habe Protokolle von Ratstreffen, aus denen hervorgeht, dass der Vertreter der Bundesregierung sich explizit dagegen aussprach, einer NGO Einsicht in drei Jahre alte Arbeitsdokumente für ein Gesetz zu geben, nur weil darin stand, welche Position die einzelnen Regierungen damals dazu hatten.

Auch da ging es vermutlich um Zwischenstände. Aber natürlich wollen wir auch darüber Auskunft geben, wie Entscheidungsprozesse stattfinden und wie sich die Bundesregierung positioniert.

Ein Gesetzesvorschlag kann im Rat durch eine Sperrminorität verhindert oder verwässert werden, die nur 36 Prozent der Bevölkerung vertritt. Und das blockiert Dutzende von wichtigen Gesetzesvorhaben. Wenn wir uns schon einer Minderheit unterwerfen müssen, sollten wir dann nicht wenigstens erfahren dürfen, wer die Mitglieder dieser Blockadeallianzen sind?

Die Verträge sehen ein abgestuftes System für Abstimmungen vor, in dem es nicht nur auf die Bevölkerungsanteile der Mitgliedstaaten ankommt, sondern auch auf die Anzahl der Mitgliedstaaten selbst, die für oder gegen einen Gesetzesvorschlag stimmen. Dieses doppelte System garantiert gerade, dass Sperrminoritäten nicht einfach so zustande kommen können und dass man sich auch für Mehrheiten anstrengen muss. Dass dann nicht alle Abstimmungen öffentlich sind, ist richtig, aber wir bemühen uns darum, im Rahmen der Verträge deutlich voranzukommen.

Das ist aber der wichtige Teil, ohne den ein europaweiter demokratischer Diskurs gar nicht erst entstehen kann. Ein Beispiel: Der Rat verhandelt seit acht Jahren über einen Gesetzesvorschlag zur Einführung einer Frauenquote in den Aufsichtsräten von Aktiengesellschaften, und die Entscheidung wird immer wieder aufgeschoben, weil es diese Sperrminorität gibt. Es ist öffentlich bekannt, dass die Bundesregierung dagegen ist. Aber wer sind die anderen acht Regierungen die gemeinsam mit der deutschen blockieren? Das lässt sich nicht auf regulärem Weg herausfinden. Sollten die Bürger nicht erfahren können, wer dafür verantwortlich ist, dass diese Richtlinie nicht kommt?

Was die Richtlinie zur Einführung einer Frauenquote in Aufsichtsräten angeht, ist die Bundesregierung nicht pauschal dagegen, sondern wir können uns untereinander nicht einigen. Die sozialdemokratisch geführten Ministerien sind dafür, die anderen dagegen. Darum enthalten wir uns, und das ist überhaupt kein Geheimnis. Zu Ihrer Frage: Wir setzen uns dafür ein, mehr von der Arbeit im Rat öffentlich zu machen. Aber für das, was Sie kritisieren, sehe ich zurzeit wenig Spielraum. Da geht es um die vorbereitenden Sitzungen in den Arbeitsgruppen und dem Rat der Ständigen Vertreter, die nicht öffentlich sind. Dort braucht es Vertraulichkeit, um einen geschützten Raum zu haben für die schwierige Suche nach Kompromissen.

Wenn die Kommission ein neues Gesetz vorschlägt, ist der Rat nicht verpflichtet in bestimmten Fristen darüber zu entscheiden. In der Folge hängen Dutzende von Gesetzesvorhaben im Rat fest und werden so da facto beerdigt, wie etwa das Gesetz für eine Frauenquote in Aufsichtsräten seit nun schon acht Jahren. Müsste es nicht eine Frist geben, bis zu der der Rat entscheiden muss?

Wir haben auch in Deutschland Projekte, die sehr lange dauern. Nach spätestens vier Jahren verfallen allerdings alle Gesetzgebungsvorhaben automatisch, und dann muss man von vorn beginnen. Dieses Prinzip der Diskontinuität hat sich bewährt, weil es Druck erzeugt. Das gibt es in der EU bisher aber nicht.

Auch die Bundesregierung führt solche Sperrminderheiten an. Zum Beispiel im Fall der Richtlinie zur Steuertransparenz für Konzerne schon seit vier Jahren. Da hat der Bundeswirtschaftsminister im Herbst 2019, als sich eine Mehrheit abzeichnete, vor der Abstimmung seinen kroatischen Kollegen angerufen, nachdem der im Rat der Ständigen Vertreter angezeigt hatte, dafür stimmen zu wollen. Nach dem Anruf hat er sich der kroatische Minister aber bei der gesetzgebenden Ratssitzung dann doch dagegen ausgesprochen, und die Abstimmung scheiterte. Sollten die Bürger nicht die Möglichkeit haben, über solche Manöver zuverlässig unterrichtet zu werden?

Den Vorgang kenne ich nicht, aber auch die Länder im Bundesrat sprechen ja ihr Abstimmungsverhalten vorab häufig ab und koordinieren sich. Beim Thema Öffentlichkeit für und Mitwirkung an der EU-Gesetzgebung ausschließlich die Transparenz im Rat zu untersuchen, verkennt die tragende und zentrale Rolle des Europäischen Parlaments. Das bietet doch ein Höchstmaß an Transparenz. Nur den Blick auf den Rat zu richten, wird der inzwischen starken parlamentarischen Demokratie in der EU nicht gerecht.

Das stimmt, aber es ist unsere Aufgabe als Journalisten die kritischen Punkte zu untersuchen. Die Bürgerbeauftragte Frau O’Reilly und COSAC, der Verband der nationalen Parlamente, haben ja ihre kritischen Berichte nicht willkürlich erstellt, sondern weil es da ein großes Problem gibt.

Sie legen Maßstäbe an den Rat an, als ob es sich dabei um die zweite Kammer eines nationalen Gesetzgebers handeln würde. Wir sind aber durch den Lissabonner EU-Vertrag erst bei einer Art Zwischenstufe. Das System funktioniert eben nicht analog zu einem nationalen Staatsgefüge. Der Rat vertritt die Regierungen der Mitgliedsstaaten. Als Vertreter der Ratspräsidentschaft im EU-Parlament darf ich jederzeit zu allem Stellung nehmen, ein Recht, das der Bundestag dem Präsidenten des Bundesrates sicher nicht geben würde. Das macht deutlich, dass wir in Europa noch von einem klassischen Zweikammer-System entfernt sind, wie es das in vielen Mitgliedsstaaten gibt und wie ich das persönlich auch befürworte

Die Folge ist aber, dass die europäische Gesetzgebung läuft wie die Aushandlung internationaler Verträge. Diese Gesetzgebung mit den Methoden der Diplomatie bricht sich mit dem Gebot zur Transparenz, wie es zur Demokratie gehört.

Wir haben sicherlich komplexe Verfahren, aber die EU ist eben auch ein komplexes Gefüge mit vielen gegensätzlichen Interessen. Ihr Hinweis auf die Sperrminderheiten erweckt den falschen Eindruck, als könnten Minderheiten immer alles blockieren. Wir haben nun mal diese Anforderung für eine qualifizierte Mehrheit, aber das ist doch nicht undemokratisch, ganz im Gegenteil, denn sie erlaubt es, eine Balance zwischen den Mitgliedsstaaten zu wahren.

Für die schon erwähnte Richtlinie zur Steuertransparenz der Konzerne gäbe es derzeit wieder eine ausreichende Mehrheit. Aber weil die Bundesregierung sich nicht einig ist, ähnlich wie bei der Richtlinie zur Frauenquote in den Aufsichtsräten, stellt sie das Gesetz gar nicht erst zur Abstimmung auf die Tagesordnung des Rates. So verhindert sie ein Gesetz, für das es ein qualifizierte Mehrheit gäbe. Verstößt das nicht gegen die Pflicht der Ratspräsidentschaft zur konstruktiven Vermittlung?

Zu dem konkreten Fall kann ich nichts sagen, da müssen Sie im Bundesfinanzministerium fragen. Wir nehmen aber unsere Aufgabe als Präsidentschaft ausgesprochen ernst.

Einige Länder gehen mit dem Thema ganz anders um, zum Beispiel die Niederlande. Dort muss die Regierung zu jedem EU-Gesetzesvorschlag dem Parlament ihre Position ausführlich schriftlich darlegen und alle drei Monate über den Fortgang berichten. Holländische Diplomaten berichten, dass andere EU-Staaten dass durch ihre Diplomaten in Den Haag systematisch auswerten und die NL in der Folge Nachteile bei den Verhandlungen haben. Hat das AA auch solche Beobachter in Den Haag?

Ich freue mich, wenn nationale Parlamente aktiv mitwirken an der EU-Gesetzgebung, das tut ja auch der Bundestag. Und wir beobachten natürlich in allen Mitgliedsstaaten die Debatten in den nationalen Parlamenten. Wir wollen ja wissen, wie unsere Partner mit EU-Vorschlägen umgehen. Aber wenn Sie unterstellen, unser Ziel sei es, andere Länder zu schwächen, ist das Unsinn.

Wir unterstellen nichts, sondern berichten nur, was uns erzählt wurde.

Jedenfalls braucht es für die Demokratie in Europa nicht nur ein starkes Europaparlament oder einen transparenten Rat, sondern auch die Mitwirkung der nationalen Parlamente – und da gibt es sehr große Unterschiede zwischen Mitgliedsstaaten.

Bei all dem fehlt aber immer die entscheidende Information für die Öffentlichkeit, nämliche welche nationale Regierung welche Position einnimmt.

Mich überrascht Ihre Wahrnehmung, als würde die EU ihre Gesetzgebung mit viel Geheimniskrämerei betreiben. Das zeichnet ein Zerrbild von Europa, das brandgefährlich ist und den Nationalisten und Populisten in die Hände spielt, nämlich eines von reiner Hinterzimmerpolitik, wo Deals gemacht würden, die mit Demokratie nichts zu tun haben. Diesem Eindruck, die EU sei undemokratisch, möchte ich mich ausdrücklich entgegenstellen. Ich nehme das völlig anders wahr. Es gibt doch, anders als zu früheren Zeiten, eine breite Berichterstattung und deutlich mehr Austausch und kritische Diskussionen mit der Zivilgesellschaft auch während Gesetzgebungsprozesse laufen. Und genau das brauchen wir alle ja auch für eine gemeinsame, kritische europäische Öffentlichkeit. Der Rat ist kein Parlament, aber wir bemühen uns, auch da Verfahren zu entwickeln, um mehr Offenheit zu erreichen. Dabei versuchen wir im engen Rahmen der europäischen Verträge deutliche Fortschritte zu machen.