Großbritannien verletzt Menschenrechte im Assange-Verfahren

Reporters Without Borders
Julian Assange

Ich habe für Reporter ohne Grenzen in den vergangenen Jahren viele offenkundige Schauprozesse beobachtet – zuletzt vor allem in der Türkei, einem Land das auf der Rangliste der Pressefreiheit auf Platz von 154 von 180 Plätzen steht und das in den vergangenen Jahren eine regelrechte Hexenjagd auf unabhängige Journalistinnen und Journalisten veranstaltet hat. Doch selbst bei allen Willkürprozessen in der Türkei war es gang und gäbe, dass Reporter ohne Grenzen (RSF) – auch unter Corona-Bedingungen – als internationale NGO-Prozessbeobachter garantierten Zugang von den türkischen Justizbehörden bekommt.

Anders beim Auslieferungsverfahren gegen den Wikileaks-Gründer und -Herausgeber Julian Assange in Großbritannien, das auf der RSF-Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 35 steht. Das Auslieferungsverfahren in London hat RSF als einzige NGO in den vergangenen vier Wochen kontinuierlich beobachtet. Verhandelt wurde darüber t, ob Julian Assange von Großbritannien an die USA ausgeliefert werden soll, wo ihm bis zu 175 Jahre Haft drohen. Ich war jeweils am Anfang und am Ende mehrere Tage im Gericht, meine britische Kollegin war an fast allen weiteren Tagen im Gericht. Die britischen Behörden haben versucht, uns, wie schon bei der ersten mündlichen Verhandlung im Februar, die Beobachtung so schwer wie möglich zu machen: Obwohl wir uns seit Februar, also noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie, um eine Sitzplatzgarantie bemüht haben, wurde uns diese explizit von den britischen Justizbehörden verwehrt. Ein einmal gewährter Videoübertragungslink wurde uns und anderen NGOs am ersten Tag wieder entzogen. Wir mussten uns jeden Morgen aufs Neue um einen der nur sechs Sitzplätze für Beobachter bemühen, von denen jeden Tag zwei bis zum Mittag freigehalten wurden für „VIPs“, die allerdings am Ende nie aufgetaucht sind. Großbritannien verletzt damit auf eklatante Weise seine menschenrechtlichen und rechtsstaatlichen Verpflichtungen, denen zufolge eine öffentliche Beobachtung von Verfahren sichergestellt werden muss. Die mündliche Beweisaufnahme ist nach vier Wochen beendet. Nun hat die Verteidigung Zeit, bis zum 30. Oktober ihr schriftliches Abschlussplädoyer einzureichen. Die Anklage wiederum kann darauf bis zum 13. November mit ihrem Abschlussplädoyer reagieren. Allerdings erfolgt all das nicht mehr mündlich, sondern nur noch schriftlich – auch das eine weitere Aushöhlung und eklatante Verletzung des rechtsstaatlichen Prinzips offener und transparenter Verfahren.

In vier Wochen wurden Dutzende Zeugen vernommen. Gleichermaßen klar wie verstörend war insbesondere die Aussage des unabhängigen medizinischen Sachverständigen und Neuropsychiaters Michael Kopelman. Professor Kopelman berichtete von Julian Assanges langjährigen Depressionen, seinen Ängsten, seinen Suizidgedanken sowie seinen Schlaf- und posttraumatischen Belastungsstörungen. Assanges Leben ist Professor Kopelmans Einschätzung zufolge extrem gefährdet. Wenn er an die USA ausgeliefert würde, fände er sicher einen Weg, sich selbst zu töten. Die Frage, ob Julian Assange ausgeliefert wird, ist damit aus Sicht von RSF auch eine Frage von Leben oder Tod. Und die Aussage von Professor Kopelman hat einmal mehr deutlich gemacht, dass Julian Assanges Freilassung nicht zuletzt aus humanitären Gründen geboten ist. RSF fordert deshalb umso deutlicher und einmal mehr Julian Assanges sofortige Freilassung und dass alle Vorwürfe gegen ihn fallengelassen werden. Deshalb halten wir auch weiter unsere Petition an die britische Regierung offen.

Besonders schockierend war zudem die Aussage eines anonymen Zeugen und Ex-Mitarbeiters der spanischen Unternehmens UC Global. UC Global hat während Julian Assanges Asyl in der Botschaft von Ecuador diesen systematisch ausspioniert wie die Zeitung El País vor einem Jahr aufgedeckt hatte. Der Ex-UC Global-Mitarbeiter berichtete in seiner schriftlich zu Protokoll gegebenen Aussage detailliert von Abhörwanzen an Feuerlöschern, von Echtzeit-Videoüberwachung, von gezielter Überwachung von Assanges Anwälten, vom Ausspionieren aller Besucher inklusive des Kopierens von Daten aus – beim Betreten der Botschaft abzugebenden – Tabletcomputern und Mobiltelefonen sowie von zu sammelnden Babywindeln zur Sammlung von DNA-Spuren seiner während des Asyls geborenen Kinder. Der Zeuge berichtete überdies, dass UC Global gemeinsam mit US-Agenten über eine mögliche Vergiftung Assanges diskutiert hätten.

Das Auslieferungsverfahren gegen Julian Assange ist zwar kein Schauprozess, auch weil es weitere britische Rechtsinstanzen gibt, vor denen eine Entscheidung standhalten muss, aber es ist im Kern ein politisches Verfahren: Denn die juristische Auseinandersetzung dreht sich um die Frage, ob Assange Verbrechen begangen hat, so argumentieren die USA, oder ob die von ihm und Wikileaks mit Medien wie Der Spiegel, New York Times, The Guardian, Le Monde und El País veröffentlichten Informationen über Kriegsverbrechen der USA relevant für die Öffentlichkeit waren, so sieht es Reporter ohne Grenzen. Letztlich verhandelt das Gericht deshalb die Frage, welche Informationen Journalistinnen und Journalisten in Zukunft noch veröffentlichen können, ohne sich vor einer Anklage in den USA fürchten zu müssen. Schon jetzt ist die US-Anklage auf Grundlage des US-Espionage Acts eine politische Verfolgung. Eine Auslieferung an die USA wäre ein gefährlicher Präzedenzfall für die Pressefreiheit. Reporter ohne Grenzen steht deshalb an der Seite von Julian Assange und von Wikileaks.
 

Christian Mihr, Reporter ohne Grenzen, Berlin, Geschäftsführer