Im Schatten der Konzerne

Die Bundesregierung blockiert ein EU-Gesetz, mit dem transnationale Unternehmen ihre Steuerzahlungen offenlegen müssten. Europa verliert dadurch Milliardenbeträge. Warum?

Die Frage aus dem Wirtschaftsausschuss des Europaparlaments brachte Olaf Scholz ins Wanken. Es gebe Gewinner der Corona-Krise, wie etwa den Amazon-Konzern, aber sie würden nicht angemessen besteuert, sagte der Grünen-Abgeordnete Sven Giegold am vergangenen Mittwoch zum per Video zugeschalteten Finanzminister. Darum habe sich das Parlament schon lange für die „länderbezogene Offenlegung der Steuerzahlungen von Unternehmen“ ausgesprochen. Aber der Ministerrat der EU habe dem Gesetz bisher nicht zugestimmt. Wann also, wollte Giegold von Scholz wissen, „setzt die deutsche Präsidentschaft die Abstimmung darüber an?“

Das schien leicht zu beantworten, schließlich bestimmt die Bundesregierung als derzeitige Vorsitzende die Tagesordnung im Rat der EU, wo die Vertreter der Mitgliedsstaaten Europas Gesetze beschließen. Doch eine richtige Antwort gab Scholz nicht. „In der Tat brauchen wir eine Entscheidung“, sagte er, aber die Bundesregierung habe „dazu noch keine abgeschlossene Meinungsbildung“. Es werde nun „von den Abstimmungsprozessen in Europa abhängen, wann darüber abgestimmt werden kann“.

Viele Konzerne buchen ihre Gewinne in Steuerfluchtländern

Das klang fast schon komisch, dabei ist das Thema durchaus ernst. Seit vier Jahren schon verhandeln die EU-Regierungen über einen Gesetzesentwurf der EU-Kommission, der helfen soll, Steuervermeidung bei transnationalen Konzernen aufzudecken. Diese buchen ihre Gewinne häufig dort, wo wie etwa in Irland die Steuersätze besonders niedrig sind, obwohl sie die zugehörigen Umsätze woanders erzielen. Rund 40 Prozent aller Konzerngewinne weltweit werden in solche Steuerfluchtländer verschoben, ermittelte das Team des Ökonomen Gabriel Zucman von der Universität Berkeley in Kalifornien. Das kostet die Staatskassen der EU-Länder nach Schätzung der Kommission bis zu 70 Milliarden Euro im Jahr, entsprechend fast der Hälfte des jährlichen EU-Budgets. 

Darum sollen alle in der EU tätigen internationalen Unternehmen mit jährlich mehr als 750 Millionen Euro Umsatz gesetzlich verpflichtet werden, offenzulegen, wie viel Steuern sie auf welche Erträge in welchem Staat bezahlen. Das public country-by-country reporting, wie es im EU-Jargon heißt, „wird dazu beitragen, das Steuerverhalten multinationaler Unternehmen zu untersuchen“ und sie „dazu veranlassen, Steuern dort zu zahlen, wo sie Gewinne erzielen“, begründet die Kommission ihren Vorschlag.

Das EU-Parlament sprach sich schon im Juni 2017 für das Gesetz aus. Doch die Bundesregierung stemmte sich von Anfang an dagegen. In der Folge geriet die Verhinderung der Steuertransparenz für die Konzerne zum Paradefall für die umstrittene Intransparenz von Europas wichtigstem Gesetzgeber, dem Rat.

Dabei machte sich die deutsche Regierung die Argumente der Konzernlobby wie etwa der Stiftung Familienunternehmen zu eigen, die, anders als der Name suggeriert, vor allem Großunternehmen wie Lidl, Henkel oder die Haniel-Gruppe vertritt. Mit einer eigens bestellten Studie warnte die Stiftung vor „einer Einschränkung des Steuergeheimnisses“ und einer „Wettbewerbsverzerrung“, weil die Unternehmen „sensible, unternehmensinterne Daten öffentlich berichten“ müssten. Dementsprechend erklärte auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier, „ein öffentliches Country-by-Country-Reporting auf EU-Ebene lehnen wir ab“, weil es „deutsche Unternehmen im internationalen Wettbewerb benachteiligen würde“. Das Argument ist allerdings nicht stichhaltig. Wegen der deutschen Bedenken hat das Europaparlament eine Klausel in das Gesetz eingefügt, die es erlauben würde, „zeitweise“ wettbewerbsrelevante Daten auf Antrag bei den Steuerbehörden zurückzuhalten und erst in späteren Jahren zu veröffentlichen. 

Deutlicher Anstieg des Steuerniveaus

Zudem beweist ausgerechnet die Bankenbranche, dass die gesetzliche Verpflichtung zur Steuertransparenz dem Wettbewerb nicht schadet, aber dem Fiskus nutzt. Denn im Zuge der Finanzreform nach dem Crash von 2008 verpflichteten EU-Parlament und Rat die internationalen Banken schon ab 2015 zu öffentlichen Berichten über ihre Steuerzahlungen. Das führte bei den betroffenen Geldhäusern schon binnen drei Jahren „zu einem deutlichen Anstieg ihrer effektiven Steuerniveaus“, ermittelten die Ökonomen Michael Overesch und Hubertus Wolff von der Universität Köln. Die „Ergebnisse zeigen“, dass die Berichtspflicht „ein wirksames Instrument sein kann, um die grenzüberschreitende Unternehmenssteuerplanung einzudämmen“, schlussfolgerten die Forscher. Drei weitere Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen.

Trotzdem setzte sich die Merkel-Regierung an die Spitze einer Allianz mit zwölf weiteren EU-Staaten, die in den Ausschüssen des Rates der EU eine Sperrminorität gegen die gleiche Pflicht für alle anderen Unternehmen formierten. Welche Regierungen da mit den Deutschen gemeinsame Sache machten, blieb jedoch wegen der Geheimhaltungspraxis des Rates lange unklar. Die Öffentlichkeit ist von den Verhandlungen der nationalen Diplomaten in den Ratsarbeitsgruppen, den sogenannten working parties, ausgeschlossen und die Protokolle sind Verschlusssache. Weil es bei Beschlüssen der Räte über EU-Gesetze einer qualifizierten Mehrheit von 65 Prozent der vertretenen EU-Bevölkerung und 15 Regierungen bedarf, kam es darum jahrelang gar nicht erst zu einer formalen Abstimmung bei den gesetzgebenden Sitzungen der Minister. In der Folge lag der Gesetzentwurf auf Eis, und die Wählerinnen und Bürger in vielen EU-Staaten erfuhren gar nicht, wie ihre Regierungen in Brüssel damit umgingen.

Das änderte sich erst im vergangenen Oktober, als der Abgeordnete Giegold mit Hilfe eines Informanten die Liste der Regierungen veröffentlichte, die bis dahin gemeinsam mit der Bundesregierung die Steuertransparenz für die Konzerne verhinderten. Zur Überraschung vieler Parlamentarier waren darunter aber nicht nur wie zu erwarten die Iren, Luxemburger, Ungarn, Tschechen, Litauer, Malteser oder Zyprer, die mit ihren laxen Steuergesetzen zur Verlagerung der Konzerngewinne einladen. Mit dabei waren auch die sozialdemokratischen Regierungen in Schweden und Portugal, deren Parteien das Gegenteil versprechen.

Zur Begründung führten sie an, die Einführung der Berichtspflicht sei in Wahrheit ein Steuergesetz, über das in der EU nur einstimmig entschieden werden dürfe. Daher müsse der Gesetzentwurf auf eine andere Rechtsgrundlage gestellt werden. Aber das ist ein Vorwand. „Einige Mitgliedsstaaten verstecken sich nur hinter dem rechtlichen Argument“, sagt Jenni Karjalainen, die für die finnische Regierung das Dossier in Brüssel betreute, als Finnland im zweiten Halbjahr 2019 die Präsidentschaft im Rat innehatte. Wer die Einstimmigkeit fordere, wisse genau, „dass dann niemals was daraus wird“.

Empörung über die Nein-Sager

Als das Journalistenteam von Investigate Europe darüber in beiden Ländern berichtete, führte das zu Protest. „Unglaublich“ sei das, empörte sich die langjährige Europaabgeordnete für Portugals Sozialisten, Ana Gomes. „Das Regierungsprogramm und das Verhalten im Rat stehen im völligen Widerspruch.“ Zumindest bei der portugiesischen Regierung setzte daraufhin ein Umdenken ein, und Wirtschaftsminister Siza Vieira versicherte seine Zustimmung. Gleichzeitig signalisierte auch Kroatiens Botschafter bei den vorbereitenden Ausschusssitzungen, seine Regierung werde nicht mehr dagegen stimmen. Damit schien eine ausreichende Mehrheit erreichbar, und die finnische Präsidentschaft setzte das Gesetz im Rat der Wirtschaftsminister Ende November zur Abstimmung an. Doch dann kam es zum Eklat: Als die Regierungen nacheinander ihre Stellungnahme abgaben und die Reihe am Vertreter Kroatiens war, stellte sich dieser unerwartet gegen den Vorschlag und forderte wie die übrigen Nein-Sager eine andere Rechtsgrundlage. Daraufhin brach der finnische Vorsitzende die Abstimmung ab, denn die nötige Mehrheit war nicht mehr zu erreichen. Mangels Ratsbeschlusses hängt das Gesetz weiterhin fest.

Investigate Europe hat die kroatische Regierung nach den Gründen für ihr unerwartetes Nein-Votum gefragt, doch die Anfrage blieb unbeantwortet. Aber einiges spricht dafür, dass die Regierenden dem Wunsch von Deutschlands Wirtschaftsminister Altmaier folgten. Dieser suchte zwei Tage vor der Abstimmung das Gespräch mit seinem kroatischen Amtskollegen Darko Horvat, und eines ihrer Themen war der anstehende Gesetzentwurf zur Steuertransparenz für Konzerne. Das bestätigte die Bundesregierung in der Antwort auf eine Anfrage der Linken im Bundestag. Ob Altmaier dabei Druck ausgeübt oder einen Deal angeboten hat, mochte sein Sprecher nicht sagen. Auch einen Antrag auf Akteneinsicht nach dem Informationsfreiheitsgesetz lehnte das Ministerium unter Verweis auf die „notwendige Vertraulichkeit internationaler Verhandlungen“ ab.

Damit ist das Thema aber keineswegs erledigt. Denn mittlerweile ist auch Österreichs Regierung, die im November noch mit den Deutschen gestimmt hatte, auf Forderung des Parlaments ins Lager der Unterstützer für mehr Steuertransparenz gewechselt. Das bestätigt ein Sprecher des Wiener Finanzministeriums. Folglich gäbe es jetzt doch noch eine qualifizierte Mehrheit im Rat – wenn es denn zur Abstimmung käme. Genau das aber blockiert erneut die deutsche Regierung. Mit der derzeitigen Präsidentschaft obliegt es dem Kabinett Merkel, die Tagesordnung der Ratssitzungen festzulegen, und das kann sich nicht einigen. Die für das von der Reform erfasste Bilanzrecht federführende SPD-Justizministerin Christine Lambrecht und ihr Kollege Scholz würden den Gesetzentwurf wohl beschließen lassen. Aber sie können sich nicht gegen Altmaier durchsetzen. Darum ist die „Meinungsbildung in der Bundesregierung nicht abgeschlossen“, wie es Scholz bei der Anhörung im Europaparlament beschönigend beschrieb.

Kritische Fragen an die Bundestagskollegen

Der anhaltende Aufschub der Entscheidung verstößt jedoch klar gegen die Aufgabe einer Ratspräsidentschaft als neutraler Vermittler zwischen den EU-Staaten. Wenn sich eine Mehrheit für einen Gesetzesvorschlag abzeichnet, dann gilt es als Pflicht, diesen auch zur Abstimmung zu stellen. Die finnische Regierung ist dann auch bei Ministerin Lambrecht vorstellig geworden und hat auf eine Abstimmung gedrängt. Kommende Woche wird auch der niederländische EU-Abgeordnete Paul Tang, der Vorsitzende des Steuerausschusses im EU-Parlament, nach Berlin reisen und seinen Bundestagskollegen kritische Fragen stellen, sagte er im Gespräch mit Investigate Europe.

Gleichzeitig versuchen die Grünen, die SPD mehr unter Druck zu setzen. Was die Regierung „beim öffentlichen Country-by-Country-Reporting“ mache, sei „ja noch schlimmer als die bloße Ablehnung, sie verhindert die Abstimmung“, empört sich die finanzpolitische Sprecherin Lisa Paus. Darum hat ihre Fraktion beantragt, dass der Bundestag die Regierung auffordert, die Reform „auf die Agenda des anstehenden Rates für Wettbewerbsfähigkeit am 18. September 2020 oder zu einem späteren Zeitpunkt während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zu setzen und zur Abstimmung zu bringen“.

Wenn die Koalition sich nicht doch noch einigt, wird der Antrag für Olaf Scholz und seine SPD-Fraktion wohl erneut eine peinliche Angelegenheit. „Wir werden dagegen stimmen, obwohl wir dafür sind“, schwant Lothar Binding, dem finanzpolitischen Sprecher. Die Koalitionsdisziplin lasse da keinen Spielraum.