Daten: Das ganze Ausmaß des Pestizidproblems der EU bleibt verborgen

In den vergangenen Monaten recherchierten wir ausführlich zu dem Einsatz von Pestiziden in Europa und dem Artensterben. Dafür analysierten wir Studien und sprachen mit Wissenschaftlerinnen und Forschern. Immer wieder fragten wir diese auch, ob es detaillierte Daten gebe über den Einsatz von Pestiziden sowie über das Schwinden von Insekten- und Vogelbeständen. Doch bislang fehlen entscheidende Zahlen, für ein tiefgehendes Verständnis des Problems. Wir haben dennoch versucht, mit den vorhandenen Zahlen das Problem zu illustrieren.

Die industrielle Landwirtschaft und ihre Ackergifte

Innerhalb der Europäischen Union sammelt Eurostat Daten über wichtige Aspekte der Landwirtschaft. Der Einsatz von Pestiziden gehört bisher kaum dazu. Das soll eine neue EU-Verordnung künftig ändern. Bisher stellt Eurostat nur Zahlen zur Verfügung zum Verkauf von Ackergiften. Zuletzt veröffentlichte die EU-Behörde im Mai dieses Jahres die Daten für das Jahr 2020. Doch EU-Staaten sind nicht verpflichtet, diese Daten zu übermitteln. So finden sich in der Eurostat-Datenbank nur Zahlen für 16 EU-Mitgliedsstaaten, die elf übrigen übermittelten keine Informationen.

Dennoch lässt sich hier ein Trend erkennen. Chemiekonzerne verkauften in den 16 EU-Mitgliedsstaaten im Jahr 2020 nahezu so viel Pestizide wie im Jahr 2011. Aufgrund der unvollständigen Datenlage entschieden wir uns dafür, eine der wenigen weiteren Quellen zu Pestiziden und der industriellen Landwirtschaft zu nutzen, die Datenbank der Vereinten Nationen, FAOSTAT. Die greift zwar auch auf Zahlen unter anderem von Eurostat zurück, fragt die Daten aber auch bei UN-Mitgliedsstaaten direkt ab.

Die Zahlen helfen dabei einen ersten Eindruck zu gewinnen. Eindeutig sind sie dennoch nicht, denn sie geben nur die Menge der Pestizide an, die auf den Feldern versprüht werden – dabei unterscheiden sich sehr, wie gefährlich einzelne Substanzen für die Umwelt sind. So reichen von einigen Pestizidwirkstoffen bereits wenige Tropfen für einen Hektar, während andere Mittel in großen Umfang versprüht werden müssen, um Schädlinge zu vernichten.

Die EU stuft Pestizide in unterschiedlichen Kategorien ein. So hat sie für die Ackergifte die Kategorie „Candidates for Substitution“, Substitutionskandidaten geschaffen. Diese Stoffe sind zwar zugelassen, sollen aber eigentlich durch andere, weniger schädliche Mittel ersetzt werden. Auf der Liste dieser Stoffe befinden sich derzeit 54 Substanzen, für die Alternativen empfohlen werden. Doch das geschieht, so zeigen Recherchen von Investigate Europe, in vielen EU-Staaten nicht:

Eines dieser Mittel ist das Unkrautbekämpfungsmittel Flufenacet, welches Grund- und Trinkwasser belastet. Doch obwohl es wegen seiner „ungünstigen Eigenschaften“ für die Umwelt seit 2004 als Substitutionskandidat ausgewiesen ist, hat sich sein Umsatz seit 2014 verdoppelt und ist allein im Jahr 2020 um 32 Prozent gestiegen.

Die Profiteure des Pestizidgeschäfts

Das Geschäft mit den Ackergiften ist äußerst lukrativ. In den vergangenen Jahren legten die Umsätze der fünf größten Produzenten stetig zu. Darunter finden sich zwei deutsche Konzerne, Bayer CropScience sowie BASF, sowie ein Schweizer Unternehmen, Syngenta, das im Jahr 2017 vom chinesischen Konzern ChemChina für 43 Milliarden US-Dollar übernommen worden war.

Weitere große Pestizidproduzenten haben ihre Hauptquartiere in Asien dazu gehören Sumitomo Chemical (Japan), Jiangsu Yangnong (China) Adama (Israel), das ebenfalls ChemChina gehört. Auf Grund anderer Veröffentlichungspflichten lassen sich aus den Bilanzen dieser Unternehmen nur bedingt Rückschlüsse auf die Umsätze des Unternehmensteils schließen, der Pestizide vertreibt.

Ein Geschäft mit tödlichen Folgen

Wie sehr der massive Einsatz von Pestiziden zu dem Schwinden von Tierpopulationen führt, ist schwer zu belegen. Detaillierte Daten zu dem regionalen Pestizideinsatz sowie der Entwicklung von Tierbeständen fehlen meist. Dennoch lässt sich an Hand mehrerer Studien dokumentieren, dass vor allem im ländlichen Raum der Tierbestand in den vergangenen Jahren massiv einbrach.

Im Rahmen unserer Recherche haben wir zwei Studien ausgewählt, deren Daten wir folgend aufbereitet haben.

Bereits 2017 veröffentlichte eine Forschergruppe eine Studie, die zeigte, dass die Biomasse der Fluginsekten seit 1989 um knapp 75% zurückgegangen seien. Die Forscher verwendeten dafür ein standardisiertes Protokoll, um die Gesamtbiomasse von Insekten mittels Malaise-Fallen zu messen, die sie zwischen 1989 und 2016 in 63 deutschen Naturschutzgebieten aufstellten. So konnten sie Rückschlüsse ziehen auf den Zustand und die Entwicklung der lokalen Insektenpopulationen. Diese Grafik zeigt eine vereinfachte Form der Studiendaten, die durchschnittliche Biomasse pro Tag, die in einem entsprechenden Jahr in den Fallen gefunden wurde:

Mit den Insekten verschwinden auch die Vögel. „Fast alle Vogelarten nutzen Insekten als Nahrung für ihre Jungen“, erklärt der Europachef des Ornithologenbunds BirdLife International, Ariel Brunner. Deren Daten zeigen, dass seit 1980 der Bestand aller 168 gängigen Vogelarten in Europa um 18 Prozent gesunken ist. Im gleichen Zeitraum sank der Bestand der 39 Vogelarten, die in Agrarlandschaften leben, sogar um mehr als die Hälfte. „Dies zeigt, dass unsere landwirtschaftlichen Systeme sie töten“, sagt Brunner. Der französische Biologe Benoït Fontaine ergänzt: „Das ist ein gewaltiger Rückgang, eine Katastrophe“, sagte er im Gespräch mit Investigate Europe. „Wir fahren immer schneller auf eine Mauer zu, und wir beschleunigen noch.“ Die folgende Grafik zeigt deutlich, wie viel stärker der Bestand an Feldvögeln abgenommen hat als der Bestand aller gängigen Vogelarten:

Eine neue Art der Landwirtschaft agriculture

Die industrielle Landwirtschaft hat das System erschaffen, in dem sich nun viele Bäuerinnen und Bauern gefangen finden, der massive Pestizideinsatz, das Versprühen großer Mengen Düngermittel sowie eine dichtgetaktete Fruchtfolge sind laut ihnen nötig, um weiter riesige Ackerfläche zu bewirtschaften. Doch das es auch anders geht, zeigen Landwirtinnen und Landwirte überall in Europa. Der Anteil ökologisch-arbeitender Betriebe hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. In Österreich wird bereits einer von vier Hektar Ackerfläche ökologisch bewirtschaftet, ähnlich hoch ist der Anteil in Estland und Schweden. Kaum ökologisch-bewirtschaftete Felder gibt es hingegen in Irland (1,63%), Bulgarien (2,34%),