Remi Boyer, Personalchef Korian: „Wir sind sehr von der öffentlichen Finanzierung abhängig“

Das Interview in Auszügen:

Investigate Europe: Die vier führenden Unternehmen auf dem europäischen Markt für Pflegeheime kommen alle aus Frankreich. Wie lässt sich das erklären?

Boyer: Das Gesetz, das dem privaten Sektor den Markteintritt erlaubte, wurde in den 1970er Jahren beschlossen. Und die Liberalisierung in den meisten anderen europäischen Ländern begann später um das Jahr 2000.

Sie hatten also das, was Ökonomen den Vorteil des „First Mover“ nennen?

Das ist korrekt.

Die Altenpflege ist eine soziale Aufgabe für die Gesellschaft und den Staat im Allgemeinen. Was macht sie so attraktiv für kommerzielle Investoren?

Es ist eine Art Allgemeingut und besonders in den europäischen Ländern, wo wir starke Systeme der sozialen Sicherheit haben. Das ist ein komparativer Vorteil Europas, Pflege ist eine gemeinsame Schatzkammer, die wir schützen müssen. Dazu tragen wir gerne bei, und aus diesem Grund investieren wir viel hier in Europa, nicht in Lateinamerika oder China, wie andere es tun. Es ist diese Mission, die sie attraktiv macht. Außerdem hat Korian starke Assets – wie unseren digitalen Ansatz oder Immobilieninvestitionen (ca. 500 Millionen Euro allein im letzten Jahr). Um weitere Innovationen zu finanzieren, Investitionen in unsere Mitarbeiter zu steigern und der komplexen Gesundheits- und Pflegesituation zu begegnen, brauchen wir Investoren. Natürlich müssen wir profitabel sein, aber wir denken, dass diese Gewinne in das System reinvestiert werden müssen. Als privater Betreiber halten wir uns nicht nur an die staatlichen Vorgaben, sondern streben auch zusätzliche Qualitätsstandards an (z. B. die Zertifizierung nach DIN ISO 9001 für unser gesamtes Netzwerk bis Ende 2021). Und da wir für einen öffentlichen Auftrag verantwortlich sind, halten wir stets die finanzielle und die nicht-finanzielle Leistung im Gleichgewicht. Und wir fördern Innovationen, indem wir immer das Beste für die Bewohner tun. Und dadurch ziehen wir privates Kapital an.

Experten in ganz Europa warnen, dass es zu wenig Personal in Altenpflegeheimen gibt. Wie wirkt sich dieser Personalmangel auf Ihr Unternehmen aus?

Das stimmt, und es betrifft alle Betreiber gleichermaßen. Wir versuchen, den Personalmangel zu überwinden, indem wir anders rekrutieren und in die Loyalität unserer Mitarbeiter investieren, um die Fluktuation zu verringern. Das heißt in erster Linie, Lehrlinge einzustellen und auszubilden. In Deutschland machen sie 10 % unserer Belegschaft aus, weil man dort dieses gute System der Berufsausbildung hat. Auf diese Weise bekommt man die jungen Leute, die in diesem Beruf arbeiten wollen. Es ist merkwürdig, dass es in Frankreich kein solches System für den Pflegebereich gab. Aber jetzt haben wir auch in Frankreich 500 Auszubildende, die in unseren Ausbildungszentren lernen. Wir werden diese Zahl erhöhen, um den Personalmangel zu vermeiden. Zusätzlich stellen wir Menschen mit anderen Ausbildungen ein und bilden sie für die Pflegearbeit nach den offiziellen Regeln für das Diplom um.

Erfahrene Heimleiter sagten uns, für einen ausreichenden Pflegedienst müssen etwa 70 % der Einnahmen für Personal ausgegeben werden. Laut der Bilanz von Korian gibt das Unternehmen nur 53 % für Personalkosten aus. Sparen Sie hier an den Kosten für Ihre Mitarbeiter und die Bewohner?

Das ist eine Sache der Vergangenheit. Die Kosten für das Personal steigen, sie liegen jetzt bei etwa 58 %, Tendenz steigend. Allerdings ist es sehr schwierig, Zahlen von einem Land zum anderen und zwischen verschiedenen Pflegediensten zu vergleichen. In der häuslichen Pflege gehören die Löhne (und das Fuhrparkmanagement) naturgemäß zu den größten Ausgaben – daher macht das Pflegepersonal dort auch einen höheren Prozentsatz der Einnahmen aus als in Pflegeheimen. Allerdings haben wir festgestellt, dass alle Staaten, in denen wir tätig sind, das Grundgehalt für Krankenschwestern und Pfleger erhöht haben.

Wir haben die Zahl aus Ihrem Geschäftsbericht für die Aktionäre ab 2020 übernommen.

Insgesamt sind unsere Gehälter im letzten Jahr um 10% gestiegen. Außerdem haben viele Pflegekräfte im letzten Jahr eine Corona-Prämie erhalten. Ich denke, die Staaten sind sich bewusst, dass sie, wenn sie ein qualitativ hochwertiges Gesundheits- und Pflegesystem wollen, das Grundgehalt der Pflegekräfte erhöhen müssen. Darüber hinaus können die Unternehmen von sich aus zusätzliche Löhne oder Boni zahlen. Das machen wir, indem wir versuchen, uns an die Situation in den einzelnen Ländern anzupassen. In Deutschland haben wir jetzt zum Beispiel eine Art Referenztabelle für die Löhne in jeder Region, wenn wir neue Pflegekräfte einstellen – und damit mit den Wettbewerbern aus dem öffentlichen und gemeinnützigen Sektor gleichziehen. Es gibt ein allgemeines Bewusstsein dafür, dass die Löhne steigen müssen, nicht zuletzt, weil wir uns an einen Arbeitsmarkt anpassen müssen, auf dem die Nachfrage höher ist als das Angebot.

Sie haben die Löhne angesprochen, aber was für die Pflegekräfte noch wichtiger ist, ist das Fehlen einer ausreichenden Anzahl von Kollegen, die benötigt werden, um tatsächlich gute Leistungen zu erbringen und die Arbeit richtig zu machen. Deshalb gibt es Berichte über schwere Misshandlungen von Bewohnern in Koran-Pflegeheimen zum Beispiel in Augsburg oder Potsdam oder Hamburg.

Ich kann Ihnen versichern, dass wir uns an die Regeln bezüglich der Anzahl der Pflegekräfte halten. Andernfalls würden wir Gefahr laufen, die entsprechenden Einrichtungen in Deutschland, in denen ein solches System existiert, schließen zu müssen.

Dennoch kann es in einem großen Netzwerk zu Qualitätsproblemen kommen. Die wichtigste Frage ist immer: Wie gut können wir darauf reagieren? Wie schnell schaffen wir es, unseren Bewohnern und Angehörigen aufrichtig zuzuhören und dieses Feedback in nachhaltige Konsequenzen umzusetzen? Dafür haben wir ein Qualitätsmonitoring eingerichtet, unser Beschwerdemanagement verbessert und sind dabei, ein System von Bewohner-Mediatoren aufzubauen, die direkt mit den Familien kommunizieren (als eine Art Frühwarnsystem).

Was die konkreten Fälle betrifft, die Sie erwähnt haben: Diese waren nicht das Ergebnis von Personalmangel, sondern tatsächlich von schlechter Führung (was z.B. zu unzureichender Planung und Überforderung der Teamleiter führte). Auf alle Fälle wurde von unserer Seite mit null Toleranz reagiert.

Sie denken, der deutsche Standard ist ausreichend für eine gute Versorgungsqualität?

Ja, nicht zuletzt, weil das deutsche Pflegesystem im Vergleich zu anderen Ländern besser finanziert ist. Außerdem bezieht sich die Personalquote auf die Pflegestufe der Bewohner, nicht auf die Anzahl der verfügbaren Betten in einer Einrichtung. Bei Korian haben wir derzeit 0, 68% Vollzeitkräfte pro Bett, was recht gut ist.

Ein Pflege in einer Korian-Einrichtung sagte: „Wir haben regelmäßig Fehlzeitenquoten von fast 30 Prozent. Der Arbeitgeber kalkuliert nur mit 20 Prozent. Es gibt ein riesiges Loch in der Personalausstattung. Der übliche Teufelskreis beginnt. Wir sind unterbesetzt. Die Kollegen sind überlastet. Sie müssen mehr Schichten arbeiten. Diese sind psychisch und physisch katastrophal belastend. Die Kollegen werden krank und fehlen bei der Arbeit. Dann wiederholt sich die Situation.“ Kümmern Sie sich nicht um Ihre Mitarbeiter?

Natürlich, das tun wir! Die Menschen sind der Kern unseres Geschäfts. Sie sind es, die die Qualität der Pflege liefern. Es gibt keine andere Möglichkeit. Wir gehen mit all diesen Themen transparent um. Die durchschnittliche Fehlzeitenquote bei Korian liegt bei 13 % und die Fluktuationsrate der Mitarbeiter bei etwa 20 %. Letztes Jahr war sie aufgrund der Covid-Pandemie an einigen Stellen höher, aber das ist keine richtige Referenz. Aber glauben Sie mir, wir tun alles, was wir können, um sie zu verbessern, zum Beispiel arbeiten wir hart daran, die Unfallhäufigkeit zu reduzieren. Und vor allem kümmern wir uns darum, das Management zu verbessern. Schlechte Führungsstile sind der Hauptgrund, warum Pflegekräfte krank werden oder den Job aufgeben. Gute Manager hören ihren Leuten zu, verstehen ihre Bedürfnisse und bereiten den Dienstplan entsprechend vor. Deshalb haben wir ein großes Programm für die Schulung aller Standortleiter aufgelegt, genannt S’Keys

Wir sprachen auch mit Angehörigen von Menschen in Heimen von Korian. Einer teilte uns die folgende Geschichte mit: „Mein Mann hat eine Schlucklähmung. Er ist nicht in der Lage, alleine zu essen. Ich kam eines Nachmittags im Jahr 2019 in das Heim. Mein Mann lag im Bett. Auf dem Nachttisch neben meinem Mann stand eine Schüssel mit Suppe. Mein Mann hatte die ganze Suppe über sich geschüttet. Ich warf die Decke zurück. Mein Mann hatte Durchfall und er lag in seinen eigenen Fäkalien. Ich ging und holte eine Krankenschwester. Sie sagte, sie sei noch nicht dazu gekommen, sich um meinen Mann zu kümmern. Die Schwester kam ins Zimmer und holte ein Frotteehandtuch. Mein Mann hatte das rohe Fleisch zwischen seinen Beinen liegen. Die Schwester rieb es mit dem Handtuch ab. Mein Mann lag im Bett und zitterte.“ Gefährden Sie mit dem Personalmangel die Gesundheit Ihrer Bewohner?

Natürlich nicht, solche Dinge passieren nicht mit Absicht. Ich bestreite nicht, was Ihnen gesagt wurde. Aber ich versichere, jedes Mal, wenn wir solche Beschwerden hören, setzen wir uns mit den Leuten auseinander. Wir rufen sie an und sprechen mit ihnen, um herauszufinden, was passiert ist und wie. Wir versuchen wirklich, für jede Beschwerde offen zu sein und diese Probleme jedes Mal zu lösen. Das ist ein kontinuierlicher Prozess. Eine unserer ESG-Maßnahmen ist zum Beispiel die Einrichtung eines unabhängigen Mediators in jedem Land, um den Dialog zwischen uns und den Familien zu erleichtern, wenn solche Situationen auftreten. Dieser Mediator ist gerade in Frankreich ernannt worden, andere Länder werden bald folgen.

Nach unseren Informationen haben die deutschen Aufsichtsbehörden wiederholt Belegungsstopps in Korian-Einrichtungen verhängt. Warum ist das so?

Das war mir nicht bekannt. Ich weiß, dass derzeit nur 2 von 260 Einrichtungen, die wir haben, von einem solchen Stopp betroffen sind, und das wird vom Betriebsleiter in Deutschland eng überwacht. Ich will damit nicht sagen, dass es nicht irgendwann passieren kann. In einigen Bundesländern ist das zum Beispiel ein Automatismus. Aber in den meisten Fällen verhängen wir von uns aus einen Stopp als Teil unserer Verantwortung für die Sicherheit unserer Bewohner und zum Schutz unserer Mitarbeiter. Angesichts des Fachkräftemangels kann es lange dauern, freie Stellen zu besetzen. Um eine hohe Pflegequalität zu gewährleisten, warten wir daher manchmal auf neues Personal, bevor wir neue Bewohner aufnehmen. Natürlich arbeiten wir in solchen Fällen eng mit den Behörden zusammen. Wir wissen, je schneller wir einen solchen Vorfall offen ansprechen, desto besser werden Bewohner und deren Angehörige über uns reden. Es ist also in unserem eigenen Interesse, diese Probleme zu lösen.

Allein im deutschen System fehlen nach Expertenmeinung jährlich etwa 4 bis 5 Milliarden Euro für eine ausreichend gute Versorgung. Europaweit soll die Finanzierungslücke ein Vielfaches davon betragen. Wenn so viel Geld benötigt wird, wie verträgt sich das mit privaten Unternehmen, die Gewinne aus dem Sektor ziehen?

Ja, wir glauben, dass wir komplementär zur öffentlichen Finanzierung sind. Ich möchte nicht über öffentlich oder privat debattieren. Das ist nicht unsere Geschichte. Wir sind sehr stark von der öffentlichen Finanzierung abhängig. Aber wir sind auch Teil der Versorgungskette, der gemeinsamen Mission.

Um es konkreter zu formulieren: Korian weist einen jährlichen Betriebsgewinn von 10% des Umsatzes aus. Wäre es nicht besser, dieses Geld für mehr Pflegekräfte auszugeben?

Mit dieser Kennzahl muss man vorsichtig sein: Der Reingewinn in unserer Branche ist sehr gering. Wir zahlen weniger an Dividende als an Steuern. Natürlich wollen unsere Anleger, dass ihr Geld in Werte investiert wird. Aber fast 40 % unseres Kapitals befindet sich im Besitz von langfristigen Investoren. Diese Investoren wollen die Konsolidierung des öffentlichen Gesundheitssystems unterstützen, um es finanziell nachhaltig zu machen. Sie müssen sehen, dass unsere Marge ein Anreiz zur Effizienzsteigerung ist (was eine Voraussetzung dafür ist, dass die Versorgung für eine breite Öffentlichkeit bezahlbar bleibt). Und wir sind ein starker lokaler Investor. Wenn wir neue Häuser bauen und alte renovieren, geben wir rund 500 Millionen Euro pro Jahr aus, was auch Arbeitsplätze im Baubereich schafft. So produzieren wir Wertschöpfung für das Gemeinwohl.

Die Bundesregierung hat beschlossen, alle Pflegeunternehmen zu verpflichten, mit den Gewerkschaften tariflich vereinbarte Löhne zu zahlen. Unterstützen Sie dieses Gesetz?

Ja, wir unterstützen es. Es wird die Löhne über alle Regionen hinweg harmonisieren…

…sind Sie also aus dem Arbeitgeberverband BPA ausgetreten? Die sind dagegen und haben sogar mit einer Klage vor dem Verfassungsgericht gedroht…

Das ist Politik, da halten wir uns raus. Wir sehen es positiv, dass wir für alle Betreiber, die um das gleiche Personal konkurrieren, egal ob gemeinnützig oder privat, die gleichen Spielregeln haben werden. Aber wir ziehen es vor, auf lokaler Ebene Vereinbarungen mit den Gewerkschaften zu schließen, die die regionalen Unterschiede bei Preisen und Lebensstandards widerspiegeln. Auf diese Weise können wir den sozialen Dialog besser strukturieren und die Betriebsratsgremien so organisieren, dass sie vor Ort verhandeln, was vor Ort zu tun ist. Wir wollen den sozialen Dialog nicht nur in Deutschland, sondern in allen Ländern, in denen wir tätig sind, vorantreiben.

Neben strategischen Investoren wie Korian sind viele Private-Equity-Firmen in der Branche aktiv, die sehr hohe Gewinne realisieren und die gekauften Unternehmen mit hohen Schulden belasten. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Das ist nicht unser Geschäftsmodell. Wir denken sogar, dass dieses Modell den Ansatz, den wir verfolgen wollen, herabwürdigt. Wir machen anderen keinen Vorwurf, dass sie mit diesem Sektor Geld verdienen. Aber es gibt einige Firmen, die keine langfristige Strategie haben und schnell das große Geld machen wollen. Nur kurzfristig zu denken, ist nie gut für einen solchen Sektor.