Markus Krajewski, Rechtswissenschaftler: „Es wird für die EU-Staaten schwer sofort den Energiecharta-Vertrag zu verlassen.“

Unsere Recherche ergab, dass die Energiecharta das Erreichen der europäischen Klimaziele gefährdet. Gegründet wurde sie aber mit einem anderen Ziel: Die Charta sollte Investitionen schützen. Ist sie dafür noch notwendig?

Markus Krajewski: Bisher gibt es kaum Nachweise dafür, dass Staaten, die den Energiecharta-Vertrag unterzeichnet haben, weniger Gesetze erlassen, die Investoren benachteiligen. Aber Unternehmen profitieren an anderer Stelle von der Charta. Denn diese gibt ihnen die Möglichkeit vor einem Schiedsgericht die Staaten zu verklagen und hohe Entschädigungszahlungen zu erhalten.

Anders als vor nationalen Gerichten.

Das sehen Sie auch am Verfahren Vattenfall gegen Deutschland, das momentan vor dem Washingtoner ICSID-Schiedsgericht verhandelt wird. Vattenfall fordert Entschädigung für zwei Meiler, die der Konzern im Zuge des deutschen Atomausstiegs nicht mehr nutzen durfte. Der schwedische Staatskonzern zog aber nicht nur vor das Schiedsgericht. Er klagte auch vor nationalen Gerichten. Im vergangenen Herbst gab das Bundesverfassungsgericht Vattenfall recht. Es sprach dem Unternehmen aber keine Entschädigungszahlung zu, sondern wies den Gesetzgeber an sich zu überlegen, wie er Vattenfall angemessen entschädigen könne. Anders sieht es bei dem Schiedsgerichtsverfahren aus. Dort fordert Vattenfall parallel eine Kompensation von mehr als sechs Milliarden Euro. Darüber wollen die Schiedsrichter im Frühjahr entscheiden.

Ursprünglich wollten Europas Staaten mit der Charta Investitionen in Ländern mit instabilen Rechtssystemen absichern. Wie bewerten Sie es, dass heute vor allem Konzerne aus der EU den Vertrag nutzen um gegen EU-Staaten zu klagen?

Der Energiecharta-Vertrag ist dafür überhaupt nicht notwendig. Dass es einmal zu einer solche Situation kommen könnte, hätten die EU-Staaten übrigens von Anfang an ahnen können. Denn das lässt sich aus dem Vertragstext lesen, den sie einst ausarbeiteten. Insofern ist der Energiecharta-Vertrag ein historischer Irrtum. Diskutiert eine europäische Regierung heute ein neues Klimagesetz, konsultieren die Chefs der Energie-Konzerne wie Vattenfall ihre Rechtsabteilung und fragen: Was können wir jetzt tun? Dann wird die Maschine angeworfen und die landet irgendwann beim Energiecharta-Vertrag.

Solche Intra-EU-Verfahren vor Schiedsgerichten sind nicht zulässig, urteilte der Europäische Gerichtshof, zumindest wenn sie auf bilateralen Investitionsschutzabkommen basieren. Demnächst werden die EuGH-Richter entscheiden, ob das auch für Energiecharta-Verfahren gilt. Mit welchem Urteil rechnen Sie?

Momentan ist das juristische Kaffeesatzleserei. Ich kann nur eine Vermutung anstellen. In dem von Ihnen erwähnten Urteil entschieden die EuGH-Richter, dass die bilateralen Investitionsschutzabkommen die Integrität des Unionsrechts bedrohten. Beim Energiecharta-Vertrag ist es eine andere Situation. Denn hier ist Europäische Union Vertragspartner. Es könnte somit sein, dass die Richter hier die Integrität des EU-Rechts nicht gefährdet sehen. Doch seriös lässt sich das nicht prognostizieren.

Was könnten die EU-Staaten tun, falls der EuGH nicht nachhilft und die Intra-EU-Verfahren weiter zulässt?

Die EU-Staaten hätten als Vertragsparteien des Energiecharta-Vertrags die Möglichkeit einen zusätzlichen Vertrag untereinander zu schließen, ein sogenanntes inter-se-Abkommen. Darin könnten sie vereinbaren, dass Investoren aus der EU nicht länger EU-Staaten verklagen können. Allerdings dürfte fraglich sein, ob die Schiedsgerichte ein solches Abkommen akzeptieren würden. Denn es gibt durchaus die Auffassung, dass ein solches inter-se-Abkommen der Vertragsparteien die Rechte der Investoren beschneidet, die sie durch die Energiecharta haben.

Die EU scheint sich mit der Energiecharta in eine Sackgasse manövriert zu haben.

Nun, den Staaten bleibt die Möglichkeit, die Energiecharta zu modifizieren und so um Klauseln zu ergänzen, den Vertrag kompatibel machen mit dem Klimaabkommen von Paris. Doch auch dabei könnte es Unsicherheiten geben, etwa wenn es darum, dass Änderungen bindend sind. Abschließend rechtssicher wäre nur, wenn die EU-Staaten den Energiecharta-Vertrag gemeinsam kündigen und nicht wird aufleben lassen. Dann wäre man das Problem endgültig los.

Endgültig los wären die EU-Staaten den Vertrag erst nach 20 Jahren. So lange gilt die Charta auch nach einer Kündigung weiter. Kritiker sprechen von einer „Zombie-Klausel“.

Wenn es den Vertragsparteien zuvor gelingen sollte, den Vertrag zu revidieren, würde die Revisionsklausel gelten. Wobei strittig bliebe, ob Investoren sich nicht doch auf den alten Vertragstext berufen könnten. Das lässt sich nicht verlässlich beurteilen, denn es gibt einfach zu wenige Praxis, auf die man sich verlassen kann. Eines steht fest: Es ist nicht einfach für die EU-Staaten unmittelbar aus dem Energiecharta-Vertrag zu kommen.