Giacomo Aiello, italienischer Staatsanwalt: “Das System der Schiedsgerichte wird zu Russisch Roulette”

Credit: ITLOS

Auch der italienische Staat könnte bald Hunderte Millionen Euro Entschädigungsgelder zahlen müssen. Dabei verließ der italienische Staat den Energiecharta-Vertrag im Jahr 2016. Doch eine Klausel des Abkommens, erlaubt es Investoren Italien noch 20 Jahre lang vor Schiedsgerichten auf Entschädigungszahlungen zu verklagen. Seit März 2017 muss Italien sich gegen eine Klage der britischen Ölfirma Rockhopper verteidigen. Die fordert wegen eines Klimagesetzes, dass weitere Ölförderungen in küstennahen Gebieten verbietet, Entschädigung für ein Gasprojekt in der Adria. An dem Verfahren ist auch Giacomo Aiello als Verteidiger beteiligt. Er ist ein Insider, aber will nicht Teil des System sein.

An wie vielen Energiecharta-Verfahren ist Italien momentan beteiligt?

Derzeit sind elf Energiecharta-Klagen gegen Italien anhängig. In neun Fällen geht es um Photovoltaik. In einem weiteren Fall klagt die deutsche Hamburg Commercial Bank, dabei geht es um Windkraft. Zudem klagt die Ölfirma Rockhopper auf die höchste Energiecharta-Entschädigung, die je von Italien gefordert wurde.

Und zuvor?

Sieben Energiecharta-Verfahren gegen Italien wurden bereits abgeschlossen. Vier gewann der italienische Staat, drei verlor er.

Wie viel haben die Schiedssprüche den italienischen Staat bisher gekostet?

Durchschnittlich wurde Italien in den Verfahren zu Entschädigungszahlungen zwischen einer bis 1,5 Millionen Euro verurteilt.

Ein vielfaches könnte Italien an die Ölfirma Rockhopper zahlen müssen wegen eines Klimagesetzes zum Stopp der Ölförderung. Wie ist der Stand in dem Verfahren?

Das Urteil wird in den kommenden Monaten fallen. Rockhopper hat rund 225 Millionen Euro plus Zinsen gefordert. Sie behaupten, dass sie bisher etwa 24 Millionen Euro investiert haben. Die restlichen fast 200 Millionen Euro sind entgangene Gewinne, die Investoren laut dem Energiecharta-Vertrag fordern können.

Sollte Italien dieses Verfahren verlieren, wäre das ein schwerer Schlag. Denn auch andere Unternehmen mussten nach dem italienischen Ölförderverbot ihre Förderprojekte einstellen mussten. Sollte Rockhopper seine Klage gewinnen, könnten sie dem britischen Konzern nacheifern.

Solche Energiecharta-Fälle zwischen einem Investor aus der EU und einem EU-Staat sind laut eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs im Jahr 2018 möglicherweise nicht vereinbar mit EU-Recht. Haben Sie dies vor dem Schiedsgericht angemerkt?

Ja, gemeinsam mit anderen Staaten wie Spanien vertreten wir die Position, dass die Schiedsklausel des Energiecharta-Vertrags nicht bei Intra-EU-Streitigkeiten angewendet werden kann. Das haben wir auch in dieser Verhandlung angemerkt. Die Schiedsrichter lehnten dies aber ab. Sie beriefen sich dabei auf Artikel 26 der Energiecharta. Der besagt, dass jeder Staat eine Vertragspartei ist, dabei gebe es keinen Unterschied zwischen EU-Staaten und Nicht-EU-Staaten. Bald könnte der Europäische Gerichtshof aber eine endgültige und eindeutige Entscheidung treffen. Mal sehen, wie es ausgeht.

Auf welches Urteil warten Sie?

Das Pariser Berufungsgericht hat vom Europäischen Gerichtshof eine Vorabentscheidung verlangt über die Zuständigkeit des französischen Gerichts in einem Schiedsverfahren mit der Republik Moldau. In diesem Verfahren haben mehrere europäische Regierungen den EuGH gefragt, wie der Energiecharta-Vertrag in Hinblick auf EU-Recht ausgelegt werden müsse. Wir warten nun auf das Urteil, dass hoffentlich Antworten auf diese Fragen liefern wird und mehr Klarheit schaffen könnte. Auch weitere Staaten teilen inzwischen unsere Einschätzung. Dazu gehören Deutschland, Frankreich, Spanien, die Niederlande sowie die EU-Kommission. Nur wenige Staaten wollen weiter an der Intra-EU-Anwendung der Energiecharta festhalten, darunter Schweden.

Was würde folgen, wenn der Europäische Gerichtshof entscheiden würde, dass der Energiecharta-Vertrag nicht von Investoren aus der EU genutzt werden kann, um EU-Staaten zu verklagen?

Eine spannende Phase würde beginnen. Nehmen wir an, der EuGH würde zwar urteilen, dass es keine Intra-EU-Streitigkeiten mehr geben solle, aber weltweit würden Schiedsrichter dieses Urteil ignorieren. Das Problem wäre, dass es Homologationsentscheidung eines ordentlichen Richters aus einem beliebigen Land bräuchte, damit der Schiedsspruch vollstreckt werden kann. Dieses Procedere ist im New Yorker Übereinkommen von 1958 über die Vollstreckung internationaler Schiedsgerichtsbarkeit festgelegt. Ohne ein solches Urteil kann ein Unternehmen keine Entschädigung von einem Staat fordern, selbst wenn das Schiedsgerichtsverfahren gewonnen hat. Würden alle Richter in der Europäischen Union sich weigern, einen Schiedsspruch vollstreckbar zu machen, weil sie diesen nicht anerkennen, dann wird das Unternehmen um die Welt reisen und nach einem weichen Richter suchen.

Verfahren dieser Paralleljustiz könnten sehr lange dauern.

Das könnten sie. Das System der Schiedsgerichte wird zu einem Russisch Roulette. In der Schiedsgerichtsbarkeit gibt es keine Verpflichtung, der Rechtsprechung zu folgen. Jeder Fall kann anders entschieden werden als der vorhergehende. Ein Unternehmen kann immer einen günstigen Richter finden. Und wenn das Urteil erst einmal gefällt ist, dann ist – wiederum nach dem New Yorker Übereinkommen – die Schuld eines Staates unter allen Umständen des internationalen Rechts durchsetzbar. Wenn etwa Libyen Italien 200 Mio. € schuldet, könnte diese Summe von der siegreichen Partei – oder wer auch immer – angegriffen werden, die auf die Vollstreckung eines Urteils wartet.

Es entsteht ein höllisches Chaos, mit sehr hohen Kosten für den Steuerzahler und wenig Rechtssicherheit.

Ja, aber das noch besorgniserregendere Phänomen, dessen Zeuge wir werden, ist, dass ein hochprofitabler Schiedsgerichtsmarkt entsteht, weil es einigen Super-Kanzleien gelingt, Gelder von Investmentfonds aufzutreiben, um Unternehmen in Schiedsverfahren zu drängen, die sie sich sonst nicht leisten könnten, da sie nicht einmal das Geld für die Anwaltskosten haben. Es ist ja bekannt, dass ein Schiedsgericht immer einen Weg findet, etwas in einer rein kompromittierenden Weise zu gewähren. Für ein Unternehmen ist es also eine Möglichkeit, für die beteiligten Anwälte viel Geld zu verdienen; für den Staat ist es ein Verlust von Geld seiner Bürger. Die ordentliche Gerichtsbarkeit hingegen bietet größere Schutzgarantien aufgrund der Unabhängigkeit, auch der wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Richter, die sie verwalten, und der Existenz von zwei oder mehr Instanzen, mit denen eventuelle Justizirrtümer behoben werden können.