Wie die EU-Regierungen den Verkauf europäischer Bahntickets verhinderten

Credit: Alexia Barakou

Wenn die EU-Bürger von Kopenhagen nach Warschau, von Hamburg nach Brüssel oder von Lissabon nach Marseille reisen, ziehen viele das Flugzeug dem Zug vor. Der Ticketpreis ist ein wichtiger Faktor, ebenso wie die Reisezeit. Aber es gibt noch ein weiteres großes Hindernis für die Wahl des Zuges: die schiere Mühe, eine grenzüberschreitende Reise zusammenzustellen, bei der man sich mit mehreren Zugbetreibern auf verschiedenen Websites und in verschiedenen Sprachen auseinandersetzen muss.

Das internationale Fluggeschäft hat im Laufe der Zeit (und ohne EU-Verordnung) Ticket- und Streckendaten zugänglich gemacht, so dass Drittanbieter wie Skyscanner oder Momondo Tarife vergleichen und Tickets verkaufen können. Das Gleiche gilt jedoch nicht für die Bahnbetreiber. Auch heute noch werden die meisten Zugfahrkarten nur auf den eigenen Websites der Unternehmen verkauft.

Diese Situation hätte sich im vergangenen Jahr mit einem EU-Gesetzesvorschlag ändern können, der die Rechte von Bahnreisenden erweitern sollte. Doch dazu kam es nicht.

Dabei hatte der zuständige Berichterstatter im Europäischen Parlament, der polnische Sozialdemokrat Bogusław Liberadzki, eigentlich einen passenden Änderungsantrag zur „Verordnung über Fahrgastrechte im Eisenbahnverkehr“ eingebracht. Der hätte die Eisenbahnunternehmen zumindest verpflichtet, ihre Fahrplandaten öffentlich zur kommerziellen Nutzung zugänglich zu machen. „Die Eisenbahnunternehmen müssen einen diskriminierungsfreien Zugang zu allen Reiseinformationen gewähren, einschließlich betrieblicher Echtzeitinformationen zu Fahrplänen und Tarifdaten…“, fordete Liberadzki.


A video by the European Parliament about passenger rights for train travellers


Der schwedische grüne Europaabgeordnete Jakop Dalunde stand ihm zur Seite. Er habe sich zwar anfangs allein gefühlt mit seiner Meinung, dass offene Fahrscheindaten entscheidend seien, wenn Europa den grenzüberschreitenden Zugverkehr ausbauen wolle.

„Aber als ich mit verschiedenen Abgeordneten des Europäischen Parlaments sprach und es ihnen erklärte, waren fast alle der Meinung, dass es gut sei“, sagt er. „Die Linken, weil es den Menschen die Wahl des Zuges erleichtern würde; die Konservativen und Liberalen, weil es mehr Wettbewerb bedeutet.“


Bogusław Liberadzki at the Parliament’s press conference on rail passengers‘ rights and obligations (2018) | Photo: CUGNOT/EU

Schon im November 2018 wurde der Antrag im Plenum mit großer Unterstützung angenommen – 533 Stimmen dafür, 37 dagegen und 47 Enthaltungen.

Widerstand im Rat

Aber im anderen gesetzgebenden Organ der EU – dem Ministerrat, der sich aus den Regierungen der Mitgliedstaaten zusammensetzt – war der Vorschlag des Parlaments zu offenen Fahrscheindaten ein Fehlstart. In der Arbeitsgruppe Landverkehr, in der nationale Diplomaten über die technischen Aspekte des EU-Rechts verhandeln, wurde der Vorschlag sofort verworfen.

Schweden brachte den Vorschlag ein, erhielt aber keine Unterstützung von den anderen Mitgliedsstaaten, so der Rechtsexperte der Regierung, Alexander Nilsson.

„In der Arbeitsgruppe des Rates haben wir diesen Vorschlag weiterverfolgt, inspiriert von den Vorschlägen des Parlaments, und wir waren damit allein“, sagte er vor dem Europaausschuss des schwedischen Parlaments.

Im Standpunkt des Rates zu dem Gesetz, das am 2. Dezember 2019 angenommen wurde, gab es keine Verpflichtung zur Offenlegung von Fahrscheindaten.

Das endgültige EU-Gesetz – das in Verhandlungen zwischen dem Parlament, dem Rat und der Europäischen Kommission (Trilog genannt) schließlich im April 2021 besiegelt wurde – besagt zwar, dass „die Infrastrukturbetreiber Echtzeitdaten über die Ankunft und Abfahrt von Zügen an Eisenbahnunternehmen, Fahrkartenverkäufer, Reiseveranstalter und Bahnhofsbetreiber weitergeben müssen“.

Doch die Verpflichtung gilt nicht für jeden Interessenten, sondern nur im Rahmen von Verträgen, bei denen die Bahnkonzerne die Gebühren festlegen. Und zu allem Überfluss soll die Vorschrift erst erst ab 2030 tatsächlich verpflichtend für alle Bahnunternehmen gelten.

Zersplittertes Europa

In Europa gibt es heute 30 Länder mit eigenen nationalen Fahrplan-, Fahrkarten- und Tarifsystemen berichtet Mark Smith, den Eisenbahnfans als „Man in Seat 61“ kennen, wie auch die von ihm betriebe Website heißt. Darüber hinaus gebe auch noch ein Dutzend unabhängiger Zugbetreiber mit ihren eigenen Fahrkartensystemen.

„Das ist ein sehr fragmentiertes Geschäft“, erklärt er. „Und viele Reisen erfordern mehrere Fahrkarten oder mehrere Websites“.

Einige Unternehmen, darunter Raileurope und Trainline, haben versucht, diese Marktlücke zu schließen. Aber sie sind bei den Verbrauchern praktisch unbekannt. Und sie sind nur mit Zugbetreibern in einigen westeuropäischen Ländern wie Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien, Österreich und der Schweiz verbunden. Weder Polen, noch Ungarn, Kroatien, Schweden, Finnland oder Norwegen sind dabei.

„Darum ist zum Beispiel der einzige Ort, an dem man ein 19-Euro-Ticket von Budapest nach Zagreb bekommt, die Website der ungarischen Eisenbahn mavCSOport.hu“, erklärt Smith. „Das geht natürlich nicht jedem leicht über die Lippen.“

Das bedeutet, dass sich die Verbraucher entweder an Nischen-Reisebüros wenden müssen oder um Hilfe von Bahn-Nerds wie Mark Smith bitten, der auf seiner Website kostenlos die besten Routen und Tipps gibt.

In Schweden hat die Facebook-Gruppe „Zugurlaub“ über 100.000 Mitglieder, die sich gegenseitig bei der Navigation durch verschiedene Zugoptionen helfen. Einer von ihnen ist der grüne Europaabgeordnete Jakop Dalunde.

„Ich sitze dort täglich und beantworte Fragen“, sagt er. „Man kann diese Strecke bei diesem Betreiber buchen und die andere Strecke bei diesem Betreiber. Leider gibt es selten einen Verkäufer, an den man sich dann wenden kann, um die gesamte Reise zu buchen. Für mich, der ich schon als Teenager mit Interrail angefangen habe, ist es lustig, dort zu sitzen und zu buchen und zu organisieren, so wie andere Sudoku lösen. Aber für Eltern mit kleinen Kindern, die Klimaangst haben und mit dem Zug nach Genua fahren wollen, ist das einfach eine zu hohe Schwelle.“

Fahrgastrechte verloren

Wenn die nationalen Bahngesellschaften ihre Daten nicht offenlegen wollen, damit andere ihre Fahrkarten vergleichen und verkaufen können, sollten sie diesen Service dann nicht selbst anbieten? Auch dies stand zur Diskussion – und wurde schließlich abgelehnt.

In der überarbeiteten Verordnung über die Rechte von Fahrgästen im Eisenbahnverkehr schlug die Europäische Kommission in Artikel 10 vor, „alle erdenklichen Anstrengungen zu unternehmen, um Durchgangsfahrkarten anzubieten, auch für grenzüberschreitende Fahrten und Fahrten mit mehr als einem Eisenbahnunternehmen“.

„Durchgang“ hätte bedeutet, dass eine Zugfahrkarte von Malmö nach Köln als ein einziges Ticket betrachtet wird, auch wenn schwedische, dänische und deutsche Bahnunternehmen verschiedene Streckenabschnitte bedienen. 

Bei einer Zugverspätung von einer Stunde hat der Fahrgast nach den EU-Vorschriften das Recht, 25 Prozent des Fahrpreises zurückzuerhalten. Ist die Verspätung jedoch kürzer als eine Stunde, verpasst man aber den Anschlusszug eines anderen Betreibers, hat der Fahrgast keinen Anspruch auf Entschädigung. Er hat auch nicht das Recht, kostenlos auf den nächsten verfügbaren Zug umzusteigen. Fernreisen mit dem Zug in Europa sind daher für den Fahrgast oft mit einem erheblichen wirtschaftlichen Risiko verbunden.

Auch das wollte Europäische Parlament ändern. Mit dem Gesetzentwurf über die Rechte der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr forderten die Abgeordneten kategorisch, dass Bahnunternehmen „Durchgangsfahrkarten und Reservierungen anbieten, auch für grenzüberschreitende Fahrten oder Fahrten mit Nachtzügen und Fahrten mit mehr als einem Eisenbahnunternehmen.“


Jakop Dalunde | Photo: EU

Aber auch das verhinderten die nationalen Regierungen. Als der betreffende Artikel in der Arbeitsgruppe des Rates im Mai 2019 besprochen wurde, lehnten ausgerechnet die Staaten mit den größten Unternehmen das ab. Wie die jeweils 27 nationalen Vertreter zu solchen Beschlüssen kommen, darüber gibt der Rat grundsätzlich keine Auskunft. Die beteiligten Beamten betreiben zwar normale Gesetzgebung, die nach dem geltendem EU-Vertrag entsprechend demokratischer Grundnorm „so offen und bürgernah wie möglich“ erfolgen muss. Anfragen auf Dokumente, die Auskunft zu den nationalen Positionen geben, weist das Sekretariat von Europas mächtigstem Gesetzgebungsorgan dennoch zurück. Für diesen Bericht ermöglichte ein Insider jedoch Einblick in Protokolle der entsprechenden Sitzungen. Darin heißt es: „Deutschland, Frankreich und Spanien sprachen sich gegen die vorgeschlagene unbedingte Verpflichtung aus, durchgehende Tickets anzubieten. Die Tschechische Republik und Großbritannien waren ebenfalls skeptisch, da diese Verpflichtung zumindest für kleinere Anbieter schwer zu erfüllen wäre“.

Andere Quellen bestätigen, dass Frankreich, Deutschland und Spanien die Hauptgegner einer Verpflichtung der Eisenbahnunternehmen waren, durchgehende Fahrkarten anzubieten.

Die Bundesregierung führte formaljuristische Gründe für ihre Blockade an: „Die Verordnung regelt nicht das Verhältnis zwischen den Eisenbahnverkehrsunternehmen und die Entscheidung, welche Fahrkarten angeboten werden. Das ist Sache des Unternehmens“, heißt es in einem internen Vermerk eines der beteiligten Beamten.

Französische Diplomaten argumentieren, dass eine Verpflichtung, durchgehende Fahrkarten anzubieten, die Eisenbahnunternehmen gegenüber Flugzeugen benachteiligen würde.

Selbst Schweden, das die Forderung nach offenen Daten unterstützt hatte, wehrte sich gegen eine Verpflichtung zur Ausstellung von Durchgangsfahrkarten. In einem Vermerk der schwedischen Regierung zu den Verhandlungen im Rat heißt es: „Eine Verpflichtung für Eisenbahnunternehmen, durchgehende Fahrkarten anzubieten, sollte nicht so weit gehen, dass die Unternehmen verpflichtet werden, mit allen anderen Eisenbahnunternehmen in der EU Vereinbarungen zu treffen, um gegenseitig Fahrkarten anzubieten.“

Große Hindernisse

Entsprechend hart ging es dann bei den Trilogverhandlungen zu, in denen der endgültige Gesetzestext zwischen Parlament und Rat ausgehandelt wurde, zwei Jahre nach dem Parlamentsbeschluss. Dazwischen fielen die Neuwahlen, das schwächte die Parlamentarier ungmein. Der Schattenberichterstatter der Grünen, der Deutsche Michael Cramer, war nicht mehr angetreten, und der Schwede Jakop Dalunde, der an Cramers Stelle hätte treten sollen, wurde nicht wiedergewählt. Erst nach dem Abbruch der Verhandlungen kam er mit einem so genannten „Brexit-Mandat“ zurück (als einige Sitze er Briten unter den Mitgliedstaaten aufgeteilt wurden).

Bei den nach der Wahl im Herbst 2019 gestarteten Verhandlungen seien die vom alte Parlament geforderten Durchgangsfahrkarten dann absolut nicht verhandelbar gewesen, berichtet der spanische Europaabgeordnete José Ramon Bauzá, der die liberale Fraktion vertrat. „Der Rat wollte dies unter keinen Umständen akzeptieren, weil er der Meinung war, dass die Branche noch nicht ausreichend darauf vorbereitet ist, durchgehende Tickets zwischen zwei oder mehreren Unternehmen mit unterschiedlichen Beteiligungen auszustellen“, sagt er.

Darum gaben die Parlamentarier nach. Zumindest aber sei das Konzept der Durchgangstickets in den Gesetzestext aufgenommen worden, verteidigt sich Bauzá.

Bei den offenen Daten dagegen habe es kaum echte Verhandlungen gegeben, erinnert er sich. Der Rat argumentierte, dass nicht alle Unternehmen in der Lage seien, derzeit alle Informationen online zur Verfügung zu stellen, und das Parlament akzeptierte dies. „Diesem Punkt wurde keine Aufmerksamkeit gewidmet – das ist wahr“, räumt Bauzá ein.

Das bestätugt auch Jakop Dalunde. „Der Fokus lag mehr auf Verspätungen und Fahrrädern, was auch sehr wichtig ist. Aber es ist nicht die gleiche Frage, die den europäischen Bahnverkehr zum Laufen bringt.“