Cornelia Maarfield, Climate Action Network (CAN) Europe: „Der Energiecharta-Vertrag ist ein mächtiges Instrument für Investoren“

Welche Rolle hat der Energiecharta-Vertrag mit Hinblick auf die Klimaziele der EU und ihrer Mitgliedsstaaten?

Die EU und die Mitgliedsstaaten haben sich verpflichtet, ihre Treibhausgasemissionen deutlich zu reduzieren. Ein großer Teil der Emissionen fällt im Energiesektor an, wo immer noch mehr als 70 Prozent aus fossilen Quellen stammen. Wenn die EU und die Mitgliedsstaaten diese Emissionen reduzieren wollen, müssen sie die Nutzung fossiler Brennstoffe verringern. Der Energiecharta-Vertrag ist ein Hindernis für einen schnellen Ausstieg aus Kohle, Gas und Öl, weil er Investitionen in fossile Brennstoffe schützt. 

Der Energiecharta-Vertrag ist als „Axt gegen den Klimaschutz“ bezeichnet worden. Was macht den Vertrag so gefährlich?

Der Energiecharta-Vertrag ist ein mächtiges Instrument für die fossilen Energiekonzerne, um die Energiewende zu behindern, weil er die Investitionen in fossile Brennstoffe schützt. Wenn ein Staat beschließt, aus fossilen Brennstoffen auszusteigen, können Energiekonzerne Entschädigungsansprüche geltend machen. Das ist ein Hindernis für Staaten, die ihre Klimaziele erreichen wollen, da sie Angst haben müssen, verklagt zu werden. Wir sehen das jetzt in den Niederlanden, wo nach dem niederländischen Kohleausstieg der Betreiber eines Kohlekraftwerks, RWE, die Regierung auf 1,4 Milliarden Euro Entschädigung verklagt.

Manchmal reicht es bereits aus, wenn ein Unternehmen einem Staat nur droht.

Ja, manchmal reicht die Drohung, nach der Energiecharta verklagt zu werden, um Regierungen davon abzuhalten, Klimaschutzmaßnahmen zu beschließen. Der Energiecharta-Vertrag erlaubt es Investoren, Staaten vor Schiedsgerichten zu verklagen. Dies kann zum sogenannten „regulatory chill“ führen. Das bedeutet, dass eine Regierung aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen die Klimagesetzgebung verwässert, aufschiebt oder ganz aufgibt. Daher ist bereits die Existenz des Energiecharta-Vertrags ein mächtiges Werkzeug für Investoren.

Weniger als eine Handvoll solcher Drohungen sind bekannt. Gibt es sie wirklich?

Es ist extrem schwierig, diese Drohungen zu belegen. Denn weder das Unternehmen noch die Regierung wollen diese öffentlich machen. In einigen Fällen wurde jedoch im Nachhinein eine Klage-Drohung bekannt. So arbeitete die französische Regierung 2017 an einem Gesetz, das den Förderung fossiler Brennstoffe auf französischem Boden verbieten sollte. Während dieses Prozesses schickte das fossile Unternehmen Vermilion einen Brief, in dem es mit einer Schiedsklage drohte. Das Gesetz wurde daraufhin aufgeweicht.

Riskiert die EU mit ihrem Beitritt zum Energiecharta-Vertrag einen fossilen Lock-in?

Der Energiecharta-Vertrag wird es einigen Ländern schwer machen, aus fossilen Brennstoffen auszusteigen. Derzeit sehen wir, dass Unternehmen beginnen, den Kohleausstieg ins Visier zu nehmen. In den Niederlanden haben Unternehmen die Regierung mit Hilfe der Energiecharta bedroht und nun verklagt. In Deutschland hat die Regierung die Betreiber von Kohlekraftwerken aufgefordert, eine Vereinbarung zu unterzeichnen, dass sie den Staat nicht unter dem Energiecharta-Vertrag wegen des Kohleausstiegs verklagen werden. Im Gegenzug wird die deutsche Regierung Entschädigungen in Milliardenhöhe zahlen, ohne dass es zu einem Schiedsgerichtsverfahren kommt. Das Gleiche könnte passieren, wenn die Regierungen den Ausstieg aus der Gasversorgung beschließen. Solange es den Energiecharta-Vertrag gibt, werden Unternehmen der fossilen Energiewirtschaft ihn überall dort nutzen, wo Staaten sie zwingen, ihre Geschäftsmodelle zu ändern.

Aber sollten Unternehmen nicht entschädigt werden, wenn sie ihre Anlagen nicht mehr nutzen dürfen?

Natürlich stehen unter bestimmten Umständen Personen oder Unternehmen Entschädigungen zu, die aufgrund politischer Entscheidungen den Kürzeren ziehen. Aber auch nationale Gesetze bieten die Grundlage für eine Entschädigung. So verklagten beispielsweise Energieunternehmen den deutschen Staat, nachdem dieser 2011 ein Gesetz zur Beschleunigung des Atomausstiegs verabschiedet hatte. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass diese Unternehmen entschädigt werden müssen. Vattenfall war Teil dieser Klage, aber parallel dazu verklagen sie Deutschland auch über den Energiecharta-Vertrag und fordern 6,1 Milliarden Euro. Sie versuchen einfach zu sehen, ob sie mehr Geld bekommen können, indem sie das parallele Rechtssystem nutzen, das die Energiecharta für ausländische Unternehmen bietet.  

Unter dem Energiecharta-Vertrag können Unternehmen entschädigt werden. Wie unterscheidet sich diese Entschädigung von der Entschädigung, die Unternehmen vor nationalen Gerichten einklagen könnten?

Im Gegensatz zu nationalen Gerichten können die Schiedsgerichte den Investoren nicht nur eine Entschädigung für das tatsächlich verlorene Geld zusprechen, sondern auch für zukünftige Gewinne, die sie möglicherweise erzielt haben oder nicht. Der Energiecharta-Vertrag geht weit über den Rechtsschutz hinaus, den Investoren nach nationalem Recht haben, und bietet ausländischen Investoren Zugang zu einem parallelen Rechtssystem, um diese Rechte durchzusetzen.

Die Befürworter des Energiecharta-Vertrags propagieren nun die Idee, dass er in Zukunft auch erneuerbare Energien absichern könnte.

Natürlich wollen wir große Investitionen im Bereich der erneuerbaren Energien sehen. Allerdings gibt es keinen Beweis dafür, dass Investitionsabkommen wie der Energiecharta-Vertrag zu mehr Investitionen führen. Aber es gibt eine Menge Beweise dafür, dass der Energiecharta-Vertrag die Regierungen daran hindert, den Energiesektor im öffentlichen Interesse zu regulieren. Er hat eine Reihe von Mängeln, die auch im laufenden Modernisierungsprozess nicht geändert werden.

Wenn der Energiecharta-Vertrag weder zum Schutz der fossilen noch der erneuerbaren Energien benötigt wird und die EU deshalb aus dem Vertrag aussteigt, könnte er noch 20 Jahre lang unter der sogenannten „Sonntenuntergangsklausel“ verklagt werden. Gibt es keinen einfachen Ausweg?

Leider gibt es keinen einfachen Weg, dieses Problem ein für alle Mal zu lösen. Aber es gibt eine Möglichkeit, das Problem der Sonnenuntergangsklausel zu entschärfen. Wenn die Europäische Union, die Mitgliedsstaaten und Nachbarländer wie die Schweiz und Großbritannien gemeinsam aus dem Vertrag austreten würden, könnten sie die Sunset-Klausel untereinander aufheben. Dann wäre es für Investoren aus der EU nicht mehr möglich, EU-Staaten zu verklagen. RWE könnte die Niederlande nicht mehr verklagen. Das würde die Gefahr, die vom Energiecharta-Vertrag ausgeht, deutlich entschärfen.