Das Milliardenversagen

Seit fünf Jahren schon ringen die EU-Regierungen in den Gremien des Rates um dieses Gesetz. Jahre, in denen multinationale Konzerne ganz legal die Zahlung von Steuern vermieden haben, indem sie ihre Gewinne in Briefkastenfirmen in Niedrigsteuerländer  verschoben haben, ohne das offenlegen zu müssen. Der Entwurf des EU-Gesetzes – öffentliches Country-by-Country-Reporting oder CbCR im EU-Jargon – zielt darauf ab, Licht in dieses Treiben zu bringe. Alle Unternehmen mit mehr als 750 Millionen Euro Jahresumsatz sollen öffentlich berichten, in welchen Ländern sie mit wie vielen Beschäftigten ihre Umsätze erzielen und in welchen Staaten sie die Gewinne daraus versteuern.

Der US-Techriese Amazon demonstriert die bisher übliche Steuerflucht auf Kosten der Bürger ganz unverhohlen. Als der amerikanische Techriese kürzlich die Jahresbilanz 2020 seiner Luxemburger Dachgesellschaft für das Europa-Geschäft vorlegte, fand sich dort ein verblüffender Eintrag:  Unter „Steuern” waren Einnahmen gebucht, keine Ausgaben. Zwar trieb die Pandemie die Umsätze des Konzerns in Europa von 31 auf 42 Milliarden Euro hoch. Doch im Rechenwerk für die Steuerbehörde ging das Umsatzplus von 30 Prozent mit einem Verlust von mehr als einer Milliarde Euro einher. Prompt schrieb das Luxemburger Finanzamt dem Unternehmen 56 Millionen Euro an Gewinnsteuern gut, und der Fiskus ging EU-weit leer aus.

So geht das seit Jahren. Insgesamt sicherte sich die Luxemburger „Amazon EU S.a.r.l”, wo der Konzern die Geschäfte von Italien bis Schweden bündelt, schon mehr als eine Milliarde Euro Steuergutschrift. Bringt also Europa dem weltgrößten Onlinehändler nur Verluste ein? „Natürlich nicht, die Gewinne werden nur anderswohin verschoben, wo weniger oder gar keine Steuern  erhoben werden”, sagt Christoph Trautvetter, Finanzexperte beim deutschen Zweig des Tax Justice Network, das weltweit für gerechte Besteuerung wirbt. Zum Beleg verweist er auf eine weitere Zeile in der Bilanz. „Andere externe Ausgaben“ schlagen sich dort mit 12,4 Milliarden Euro nieder, bezahlt für „Dienstleistungen durch verbundene Unternehmen.” Doch wofür und wohin genau die Milliarden fließen, darüber gibt Amazon keine Auskunft. So nutze der Konzern steuerfrei Europas staatliche Infrastruktur,  „und die Bürger erfahren nicht einmal, wo die Gewinne versteckt werden, die auf ihre Kosten entstehen“, empört sich Trautvetter. „Da versagen die EU-Regierungen kläglich.“

Ausgangspunkt der Misere ist das Steuerdilemma der EU. So wie Amazon buchen Hunderte der in Europa tätigen Konzerne ihre Gewinne meist dort, wo wie etwa in Irland oder den Bermudas die Steuersätze besonders niedrig sind, obwohl sie die zugehörigen Umsätze woanders erzielen. Gut 40 Prozent aller Konzerngewinne weltweit werden in solche Steuerfluchtländer verschoben, berichtet das Team des Ökonomen Gabriel Zucman von der Universität Berkeley. Das kostet die Staatskassen der EU-Länder nach Schätzung der EU-Kommission bis zu 70 Milliarden Euro im Jahr, entsprechend fast der Hälfte des jährlichen EU-Budgets.

Die Steuervermeidung ist allerdings meist völlig legal, weil sich die Staaten im Wettbewerb um Investitionen gegenseitig unterbieten. Zugleich halten die EU-Regierungen eisern an ihrer Steuerhoheit als Ausdruck der nationalen Souveränität fest. Gemeinsame Steuergesetze können im Rat der EU, der zweiten Instanz zu EU-Gesetzgebung, daher nur einstimmig beschlossen werden. Das verhindern aber stets die regierenden Steuerfluchthelfer von Irland bis Zypern.

Darum setzte die EU-Kommission mit dem Country-by-Country-Reporting auf eine Reform des Bilanzrechts. Dies ist Teil der Gesetzgebung zum Binnenmarkt und kann mit Mehrheit beschlossen werden. Eine ähnliche Regelung gilt für den Finanzsektor schon seit 2015. Das führte bei den betroffenen Geldhäusern schon binnen drei Jahren „zu einem deutlichen Anstieg ihrer effektiven Steuerniveaus“, ermittelten die Ökonomen Michael Overesch und Hubertus Wolff von der Universität Köln. Die länderbezogene Berichterstattung,  „wird dazu beitragen, das Steuerverhalten multinationaler Unternehmen zu untersuchen“ und sie „dazu veranlassen, Steuern dort zu zahlen, wo sie Gewinne erzielen“, begründet darum die Kommission ihren Vorschlag. 

Das Gesetz wurde erstmals 2016 eingebracht und fand eine breite Mehrheit im Europäischen Parlament. Doch im Rat der EU, dem zweiten Gesetzgebungsorgan, stemmte sich die deutsche Regierung von Anfang an dagegen. Dafür schmiedete sie ein Bündnis mit 12 anderen EU-Regierungen. Diese Sperrminorität verhinderte die erforderliche qualifizierte Mehrheit von 55 Prozent der Staaten. Es folgte ein jahrelanges Ringen, bis sich schließlich im Februar 2021  die Vertreter von 14 Staaten einer abgeschwächten Version des ursprünglichen Gesetzentwurfs zustimmten. Seitdem verhandeln die drei EU-Institutionen – Rat, Parlament und Kommission -, im sogenannten Trilog die endgültige Version des Steuertransparenzgesetzes.

Lobby beeinflusst die französische Position

Doch jetzt hat die Konzernlobby einen neuen starken Verbündeten gefunden: Die Regierung Macron in Paris. Das belegt ein Positionspapier, dass Frankreichs EU-Diplomaten vor der jüngsten Trilog-Runde lancierten. Darin fordern sie, der Rat müsse gegenüber dem Parlament darauf bestehen, die Berichtspflichten für die Konzerne drastisch zu beschränken, wie es der Ratsbeschluss als Maximalposition formuliert hatte. Demnach würde es den Unternehmen erlaubt sein, unter Verweis auf vermeintliche Geschäftsgeheimnisse die Offenlegung der Daten sechs Jahre lang zu verschieben, ohne dass die Begründung durch die Kommission geprüft und widerrufen werden kann. Noch schwerer wiegt, dass die Daten für die meisten Länder außerhalb der EU nur „aggregiert“ veröffentlicht werden sollen. Die Gewinnverschiebung in die großen Steuerfluchtzentren wie Kaiman-Inseln, die Bermudas oder auch Singapur bliebe weiterhin verborgen. Das deckt sich nicht nur mit den Forderungen des Verbands der französischen Industrie Medef. Frankreich Wirtschaftsminister Bruno Le Maire hat das Papier gleich direkt von der Lobby schreiben lassen. Das geht aus den Metadaten der zugehörigen Datei hervor, die das Ministerium verschicken ließ, berichtete das französische Magazin Contexte. Dort firmiert Tania Saulnier, die Steuerexpertin des Medef, als Autorin.

Auf Nachfrage von Investigate Europe erklärten beteiligte französische Diplomaten das kurzerhand für unerheblich. Es sei „üblich, dass sich die französische Verwaltung mit Stakeholdern wie Verbraucher – und Wirtschaftsverbänden  abstimmt“. Das Positionspapier zu CbCR sei „wesentlich umgeschrieben und überarbeitet“ worden. Doch den Beleg dafür blieben sie schuldig.

Das empört selbst die Vertreterin der konservativen EVP-Fraktion im Trilog, die finnische Abgeordnete Sirpa Pietikäinen. „Würde ich das als Ministerin in Finnland so machen, gäbe es vielleicht sogar eine Ermittlung“, sagt sie. Aber hier auf EU-Ebene geben sie den Willen der Wirtschaftslobby als nationales Interesse aus, ganz gleich, wie pervers das ist“, erklärt sie die EU-Mechanik.

Die französische Abgeordnte Manon Aubry, die für die Linksfraktion im Trilog verhandelt, ist noch kritischer. „Hatten wir Medef vor uns oder die Mitgliedsstaaten im Verhandlungsraum letzte Woche? „, fragt sie.  „Es sagt viel über die Lobbyeinflüsse aus, dass sie die roten Linien für die Regierungen festlegen. Das ist besorgniserregend, sowohl im Hinblick auf den Kampf gegen Steuerhinterziehung als auch für die Demokratie selbst“, fügt sie hinzu.

Setzen sich die Konzerne mit Hilfe der französischen Regierung durch, „dann machen wir nur eine politische Show ohne eine nützliche Wirkung“, warnt sie. Die Konservative Pietikäinen stimmt zu, dass eine länderspezifische Berichterstattung über Steuern aus Nicht-EU-Ländern – viele davon sind Steueroasen – entscheidend ist.

Aber, sagt sie, in der eigentlichen Verhandlung werde ein ganzes Bündel von Artikeln zusammen behandelt. Beim jüngsten Trilog-Treffen habe es ein gemeinsames Verständnis für einen möglichen Kompromiss gegeben. „Wir sind die verschiedenen Vorschläge und Positionen durchgegangen, damit wir wissen, wo wir stehen, wie groß der Handlungsspielraum ist. Er ist sehr eng, sehr dünn, und es würde erfordern, dass sich der Rat bewegt. Ich würde sagen, dass es einer dieser Kompromisse sein wird, bei dem niemand glücklich ist.“

Wie Aubry würde aber auch sie keinen Deal unterstützen, der die Forderungen der Franzosen erfüllt, weil das Ergebins dann „weder Berichterstattung noch länderspezifisch“ wäre. „Wenn man für etwas kämpft und das Ergebnis schlechter ist als das, was man anderswo bekommen kann, durch nationale Regulierung, globale Standards oder Marktpraktiken, dann sollte man keine Regulierung machen, die zu wenig bringt“, sagt sie.

Gibt es noch Hoffnung?

Ob es soweit kommt, ist noch offen. Immerhin gibt es auch andere Bewegungen im Rat, die dem französischen Blockadeversuch entgegenwirken könnten. Deutschland hat zum ersten Mal offen erklärt, dass es das Ratsmandat für das Steuertransparenzgesetz unterstützt. Einige Diplomaten und Abgeordnete interpretieren dies als einen Sinneswandel, sodass Deutschland nun für einen Kompromiss stimmen könnte.

Auch die schwedische Regierung hat angedeutet, dass sie ihren Widerstand aufgeben könnte (Ihre bisherigen Einwände richteten sich nur gegen das Verfahren, nämlich dass die Richtlinie als Steuerrichtlinie betrachtet und einstimmig, nicht mit Mehrheit, angenommen werden sollte).

Die Vorentscheidung wird kommende Woche fallen. Am 26. Mai wird der Rat der ständigen Vertreter (Coreper) endgültig über die Kompromisslinien des Rates entscheiden. Wenn es der Macron-Regierung gelingt, andere EU-Staaten für die harte Position der Konzernlobby  zu gewinnen, werden die Parlamentarier vermutlich keine andere Wahl haben, als einem schlechten Gesetz zuzustimmen, in der Hoffnung, es später zu verbessern. Die Gewinne von Amazon und Co. würden weiter im Nirgendwo der Steueroasen verschwinden.