Norwegens Zögern bei Europas gemeinsamen medizinischen Ankäufen

Tansy E. Hoskins

Durch Covid-19 haben fast alle Länder die gleichen medizinischen Bedürfnisse. Aber es ist einfacher, gute Preise und Konditionen auszuhandeln, wenn man fast 450 Millionen Kunden vertritt, als wenn man im Namen von nur knapp 5,4 Millionen verhandelt.

„Dies ist gelebte europäische Solidaritä“, sagte Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, letzte Woche. „Es zeigt, dass es sich lohnt, ein Mitglied der Union zu sein. Das beschaffte Material dürfte die Lage in Italien, Spanien und 23 weiteren Mitgliedstaaten bald deutlich entspannen.“’

Die Schweinegrippe-Pandemie von 2009 machte deutlich, dass in der gesamten EU ein gravierender Mangel an Schutzausrüstung besteht. Diese Erfahrung war der Auslöser für die Initiative, aus der 2014 die sogenannte gemeinsame Beschaffungsvereinbarung (Joint Procurement Agreement, JPA) hervorging.

Norwegen: Mehr als zwei Jahre lang untergetaucht

Mitten in der Coronavirus-Krise hat die norwegische Regierung die Beschaffungsvereinbarung der EU für Medikamente, medizinische Hilfsgüter und Schutzausrüstung unterzeichnet. Aber nachdem das Land seit 2014 keine Entscheidung getroffen hatte, kam es jetzt zu spät, um noch an der Versorgung mit Schutzausrüstung und Beatmungsgeräten teilhaben zu können.

Seit Freitag, dem 20. März, ist Norwegen Teil der Vereinbarung der EU für die Beschaffung medizinischer Gegenmittel (Joint Procurement of medical countermeasures). Es meldete sich allerdings drei Tage zu spät an, sodass das norwegische Gesundheitssystem von zwei umfangreichen Beschaffungen – Schutzausrüstung und Beatmungsgeräten – nicht mehr profitieren konnte.

Norwegen ist zwar kein EU-Mitglied, hat aber über das so genannte EWR-Abkommen. (EWR = Europäischer Wirtschaftsraum) Zugang zum Binnenmarkt. Als Norwegen am 20. März der Beschaffungsvereinbarung beitrat, war der Mangel an Schutzausrüstung in seinem Gesundheitssystem akut. „Wenn sich jemand infiziert, haben wir innerhalb von Tagen oder einer Woche keine Ausrüstung mehr. Wir haben fast keine Masken, Handschuhe oder Desinfektionsmittel für die Hände. Wir steuern auf eine Krise zu.“ Das schrieb ein Gewerkschaftsvertreter vom Norwegischen Krankenpflegeverband der Zeitung VG zufolge über die Situation in Oslo.

Bis zum 20. März arbeiteten die Mitarbeiter in der norwegischen EU-Delegation in Brüssel und in den Ministerien in Oslo drei Wochen lang hart daran, Norwegen in das gemeinsame Beschaffungssystem der EU zu bekommen.

Sie fingen nicht bei Null an; sondern machten da weiter, wo die Behörden 2017 aufgehörten hatten. Die EU hatte damals beschlossen, dass Norwegen ohne Weiteres beitreten könnte. Offizielle Dokumente, die Investigate Europe einsehen konnte, belegen das.

Norwegen trat drei Tage zu spät bei, um noch von zwei umfangreichen Beschaffungen – von Schutzausrüstung und Beatmungsgeräten – z u profitieren.

Der erste Coronavirus-Fall in Norwegen wurde am Mittwoch, dem 26. Februar 2020, registriert. Am folgenden Tag rief die EU-Delegation beim Sekretariat für die gemeinsame Beschaffung von medizinischen Gegenmaßnahmen der EU an, das seinen Sitz in Luxemburg hat. In einer späteren E-Mail am selben Tag erinnerte eine norwegische Beamtin ihre Kollegin daran, dass Norwegen schon früher einmal in Gesprächen mit der Generaldirektion der EU für Gesundheit war, um dem Programm beizutreten.

„Leider hat sich der Prozess von unserer Seite aus verzögert, aber jetzt sind wir bereit, ihn wieder aufzunehmen“, hieß es aus Norwegen.

Am Sonntag, dem 1. März, antwortete ein Assistent des gemeinsamen Beschaffungsteams der EU, dass das Sekretariat im Laufe der Woche auf die Anfrage antworten werde.

Mehrere Tage vergingen. Am Freitag, dem 6. März, schickte ein hochrangiger Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums in Oslo eine dringliche E-Mail: „Mit dem aktuellen Ausbruch des Coronavirus ist es dringend geworden“, die Möglichkeit eines Beitritts zur Beschaffungsvereinbarung zu prüfen, hieß es in der E-Mail. „Deshalb schreibe ich Ihnen, um zu erfahren, ob Sie die Zeit hatten, unsere Fragen zu erörtern, und ob Sie sich bald mit uns in Verbindung setzen können?“ Einige Stunden später versicherte das Sekretariat, es sei definitiv an dem Fall dran und werde sich so schnell wie möglich zurückmelden.

Am 10. März erwähnte Gesundheitsminister Bent Høie den Vorgang, als er im Parlament die Maßnahmen der Regierung zur Covid-19-Pandemie vorstellte.

Zehn Tage später gaben die Behörden den Beitritt Norwegens zum Abkommen auf Twitter bekannt, und zwar mit einem Bild von EU-Botschafter Rolf Einar Fife, der an seinem Brüsseler Schreibtisch vor einer norwegischen und einer EU-Flagge saß.

Warum beitreten?

„Wir können uns jetzt an der gemeinsamen Beschaffung beispielsweise von persönlicher Schutzausrüstung für medizinisches Fachpersonal beteiligen, das mit Patienten zu tun hat, bei denen eine Coronavirus-Infektion bestätigt ist oder vermutet wird“, erklärte Gesundheitsminister Bent Høie in einer Pressemitteilung. Die JPA werde es ermöglichen, sicherzustellen, dass die notwendige Ausrüstung jetzt und später zur Verfügung stehe; sie hindere Norwegen aber nicht daran, auch allein am Markt zu agieren, versicherte Høie.

„Es ist sehr wichtig, jetzt Teil einer solchen Vereinbarung zu sein“, erklärt Marianne H. Dragsten, Partnerin bei Vaar Advokat und Beschaffungsspezialistin. Andernfalls, so Dragsten gegenüber Investigate Europe, könnte Norwegen bald ohne wichtige Medikamente dastehen, weil es nur ein kleiner Player in der Welt sei und bei der Beschaffung lebenswichtiger Medikamente nicht ganz vorne auf der Liste stehe.

Und das, obwohl Norwegen das nötige Geld habe, erklärt sie. Es ist für Arzneimittelhersteller viel rentabler, Verträge mit wohlhabenden Ländern abzuschließen, die – wie die USA oder Deutschland – bevölkerungsreich sind und an an die sie größere Mengen liefern können als an kleinere Länder. Das sei, so Dragsten, zumindest dann so, wenn Medikamene knapp sind und die Hersteller sich entscheiden müssen, an wen sie etwas verkaufen wollen.

Doch Norwegen unterzeichnete die Vereinbarung drei Tage zu spät, um sich noch an zwei größeren EU-Käufen von Testgeräten und Beatmungsgeräten beteiligen zu können. Beide waren am 17. März auf den Weg gebracht worden und standen den Ländern offen, die das Abkommen bis dahin unterzeichnet hatten, erklärt ein Sprecher der EU-Kommission gegenüber Investigate Europe. Norwegen sei daher an diesen Käufen nicht beteiligt gewesen, so der Sprecher. Es sei als Teil der Vereinbarung aber „sehr willkommen“, sich an zukünftigen Beschaffungen zu beteiligen.

Es ist für Pharmahersteller viel rentabler, Verträge mit wohlhabenden bevölkerungsreichen Ländern wie den USA oder Deutschland abzuschließen, an die sie größere Mengen liefern können als an kleinere Länder.

Für eine gemeinschaftliche Beschaffung müssen sich mindestens vier Länder zusammentun, erklärt er. Er schließt nicht aus, dass es aktuell weitere Bestellungen geben werde, weist aber darauf hin, dass die EU-Kommission die bisherige Beschaffung als „gelungen“ bezeichnet – und fügt hinzu, dass er über mögliche künftige Beschaffungspläne nichts wisse.

2014 geprüft und genehmigt

Warum ist die norwegische Regierung nicht schon vor langer Zeit der Vereinbarung beigetreten?

Die Beschaffungsvereinbarung gibt es seit 2014, und die meisten EU-Länder nehmen schon seit mehreren Jahren daran teil. Die norwegische Regierung prüfte bereits 2014 die rechtliche Grundlage, auf der die Vereinbarung beruht, auf mögliche Widersprüche zum EWR-Abkommen. Sie kam zu dem Schluss, dass es keine gebe. „Die Entscheidung fällt nicht unter die vier Freiheiten, aber Norwegen erachtet es als sinnvoll, den Rechtsakt mit in das EWR-Abkommen einzubinden. Diese Entscheidung wird als angemessen und akzeptabel erachtet.“

Der Rechtsakt ist schon seit dem 20. März 2015 – fünf Jahre vor dem Beitritt Norwegens zum gemeinsamen Beschaffungssystem- Teil des EWR-Abkommens.

Dokumente, die Investigate Europe einsehen konnte, zeigen, dass dieselben Mitarbeiter der norwegischen EU-Delegation und des Gesundheitsministeriums, die Ende Februar dieses Jahres auf den Plan traten, schon von Oktober 2016 bis Oktober 2017 mit der EU-Gesundheitsdirektion in Kontakt standen. Das Ziel dabei war, die notwendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Norwegen Teil der Beschaffungsvereinbarung werden kann.

Dann kam das Ganze anscheinend zum Stillstand – fast zweieinhalb Jahre lang. Bis die Covid-19-Pandemie unsichtbar ins Rollen kam. Die Frage ist nun: warum?

Anne Grethe Erlandsen, Staatssekretärin im Gesundheitsministerium, erklärt in einer E-Mail, die Angelegenheit sei in Norwegen und mehreren anderen Ländern, die nach und nach beigetreten sind, in Bearbeitung gewesen. Mit der Covid-19-Pandemie sei die Vereinbarung weiter vorangetrieben worden. Sie nennt sie „eine nützliche Ergänzung“ zu Norwegens eigenen Beschaffungen von Impfstoffen und medizinischen Geräten. Die Vorteile einer Beteiligung am gemeinsamen Einkauf „sind durch den anhaltenden Ausbruch von Covid-19 deutlich geworden“, schreibt Erlandsen.

Ein Fachmann, der den ersteren Prozess kannte, bevor er stoppte, vermutet, dass die lange Verzögerung auf „Trödeln zurückzuführen ist, dass man sich erst nicht entscheiden konnte und das Ganze dann vergessen wurde.“

Es gibt viel aus dieser Pandemie zu lernen, betont die Beschaffungsexpertin Marianne H. Dragsten: „Man hat das Gefühl, dass man viel Zeit hat – bis etwas passiert. In dieser Situation entdecken wir viele Dinge, auf die wir hätten besser vorbereitet sein sollen“, sagt sie.

Man hat das Gefühl, viel Zeit zu haben – bis etwas passiert

Beschaffungsexpertin Marianne H. Dragsten

Seit der Stellungnahme vergangene Woche von Staatssekretärin Anne Grethe Erlandsen hat Investigate Europe keine Antwort auf wiederholte Nachfragen danach erhalten, ob Norwegen von den beiden großen, seit dem 17. März laufenden Anschaffungen der EU profitieren wird.

Polen und Schweden: Gerade noch rechtzeitig

Auch die EU-Mitglieder Schweden und Polen waren nicht von Anfang an bei dem gemeinsamen Einkaufsabkommen dabei. Als die Pandemie ausbrach, handelten beide jedoch schneller als Norwegen und schafften es, sich an den Beschaffungen zu beteiligen.

Schweden unterzeichnete die Beschaffungsvereinbarung der EU für medizinische Gegenmaßnahmen am 28. Februar, Polen folgte am 6. März. Dadurch gelang es der Regierung Schwedens, sich an einer Maskenbestellung zu beteiligen, die die EU am Tag der schwedischen Unterzeichnung auf den Weg brachte. Das Land wird auch von der Beschaffung von Schutzausrüstung profitieren, die am 17. März in die Wege geleitet wurde.

Polen verzichtete auf die Schutzausrüstung, beteiligt sich aber wie Schweden an einer ebenfalls seit dem 17. März laufenden Bestellung von Beatmungsgeräten.

In einer Pressemitteilung erklärte Schwedens Regierung, warum sie diesen Schritt gerade jetzt getan hat. „Mit einem potenziell größeren Ausbruch von Covid-19 in Schweden werden große Mengen an Schutzausrüstung für medizinisches Fachpersonal benötigt. Da die internationale Nachfrage zur gleichen Zeit sehr hoch ist, kann der Zugang zu entsprechendem Material für einzelne Abnehmer in Schweden schwierig sein. Eine national koordinierte gemeinsame EU-Beschaffung erhöht Schweden Chancen, im Bedarfsfall Material zu erhalten.“

„Wir hatten nicht die Absicht, generell nicht beizutreten. Aber mit der konkreten Beschaffung, an der wir uns beteiligen wollten, war es jetzt etwas dringlicher“, so Kim Brolin vom schwedischen Sozialministerium gegenüber Investigate Europe.

Finnland hat Vorräte, will aber mehr

Finnland ist bisher auch ohne die Teilnahme an der gemeinsamen Beschaffung der EU gut gefahren, weil es eigene nationalen Bestände an Schutzausrüstung hat. Aber jetzt sind die finnischen Behörden der Meinung, dass sie in Zukunft mehr benötigen werden. So begründet Kalle Tervo, leitender Berater im Ministerium für Soziales und Gesundheit den Beitritt der Regierung zur Vereinbarung. Er ergänzt, der Beitrittsprozess habe nicht allzu lange gedauert. Finnland ist der Auffassung, dass es neue Beschaffungsrunden geben wird, da an den bisherigen nicht alle beteiligt waren.

Großbritannien: Brexit-Mentalität

Im Vereinigten Königreich geriet Premierminister Boris Johnson unter scharfe Kritik, nachdem seine Regierung es versäumt hatte, sich an der gemeinsamen Beschaffung von Ausrüstung, die das Land dringend benötigt, zu beteiligen Die Briten seien bislang Teil des Abkommens gewesen und könnten sich unabhängig vom Brexit daran beteiligen, sagte ein EU-Sprecher gegenüber Investigate Europe.

Der Premierminister darf nicht zulassen, dass die Brexit-Ideologie seinen Umgang mit dem Coronavirus diktiert.

Ed Davey, Vorsitzender der Liberaldemokraten

Die britische Regierung hat bisher jedoch kein Interesse an daran gezeigt – und wurde deswegen heftig kritisiert. „Das Coronavirus kennt keine Grenzen. Es ist eine Pandemie. Internationale Solidarität ist entscheidend, um das Vereinigte Königreich zu schützen“, erklärte Ed Davey, Vorsitzender der Liberaldemokratischen Partei. „Wenn die Zusammenarbeit mit der EU bedeutet, dass wir Zugang zu mehr Schutzausrüstung erhalten, würde jede vernünftige Regierung diese Gelegenheit ergreifen. Der Premierminister darf nicht zulassen, dass die Brexit-Ideologie seinen Umgang mit dem Coronavirus diktiert. Das Leben der Menschen muss an erster Stelle stehen.“

Eine frühere Fassung dieses Artikels wurde auch von unseren norwegischen Medienpartnern veröffentlicht.


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Hier finden Sie unsere Covid-19-Infografik, die auf stündlich aktualisierten Daten der Johns Hopkins University basiert. Wir haben diese einzigartige Grafik erstellt, um Recherchen und ein besseres Verständnis der Situation in Europa zu fördern.